Bei Pisa sehen wir uns selbst
Nur überzeugte Lehrer können mit Inhalten ihre Schüler erreichen
Der Lehrer ist morgens als erster in der Klasse. Wie ein Gastgeber bereitet er sich und den Raum auf den Unterricht vor. Die meisten Schüler sind ebenso vor Unterrichtsbeginn da und beginnen zu arbeiten. Einfach so, ohne Gong, als wäre das Lernen ihre eigene Sache. Eine Idylle? Nein. Es ist der Alltag in der Klasse von Franz Gresser in der Bodensee-Schule Friedrichshafen. Dabei sind seine Schüler in der Pubertät. Es handelt sich um eine Hauptschulklasse.
Zweite Schulszene, ein Lehrerzimmer in Bremen, kurz nach dem Pisa-Schock. Der Tenor bei den Pädagogen: „Das hat diese Scheißbehörde nun davon, daß unsere Schüler so schlecht abschneiden.“ Als die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) Lehrer nach Gründen für Lerndefizite ihrer Schüler fragte, nannten sie die soziale Lage, den Fernsehkonsum und den Mangel an ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen. Der eigene Unterricht rangierte an letzter Stelle. In Bremen stuften die Forscher diese Selbstverantwortung als „nicht nachweisbar“ ein.
Eine dritte Szene, wiederum in Bremen. In den Ferien fahren Drittkläßler, zumeist Kinder ausländischer Herkunft, ins „Jacobs Sommercamp“, das die Schulbehörde und das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gemeinsam mit der Jacobs-Stiftung veranstalten. Täglich wird drei Stunden lang Sprache unterrichtet. Es gibt hinreißende Theaterprojekte. Und Abenteuer in der Freizeit. Das Ganze wirkt wie ein Geschenk an die Kinder, die dies auch so wahrnehmen. Die Auswertung des ersten Sommercamps vor einem Jahr wurde gerade veröffentlicht. Die Schüler haben in drei Wochen enorme Lernfortschritte in Deutsch gemacht. Sie entsprechenden denen eines halben Schuljahres. In diesen Ferien geht die neue Lernform an der Weser in Serie.
Diese drei Szenen berichten vielleicht mehr über unsere Schulen als manche Pisa-Interpretation, die in diesen Tagen zu vernehmen ist. Wenn Lehrer sich in der Schule zu Hause fühlen und als Person für das, was sie anbieten, einstehen, dann werden die Schüler diese Inhalte zu ihrer Sache machen. Aber wenn sich die Lehrer als Untermieter im System begreifen und ihren Schülern das alte Lied der Infantilisierung vorpfeifen, „das hat meine Mutter nun davon, daß ich friere“, wie sollen die Schüler dann ihre „Selbstwirksamkeit“ erfahren?
Das etwas umständliche, zu direkt aus dem Englischen übersetzte Wort Selbstwirksamkeit wird ein Schlüsselbegriff der neuen Bildungsdebatte. Es verbindet Arbeitstugenden mit der Wertschätzung des Individuums. Es schließt den Sinn von Anstrengungen ebenso ein wie den Reiz und die Bedeutung der Sachen. Folgenreichtum und Wirksamkeit sind geistige Lebensmittel. Ohne diese Erfahrung breitet sich Verwahrlosung aus. Die Schule ist eben kein Durchlauferhitzer für Wissen. Sie ist die entscheidende Instanz unseres kulturellen Gedächtnisses. Und ein Gedächtnis ist kein Container. Seine Strukturen sind Protokolle seiner Benutzung.
Wenn wir nicht über die Kultur der Schulen reden, werden wir auch kein Pisa-Ergebnis begreifen. Es war Hartmut von Hentig, der die drei R der Schule ins Zentrum stellte: Regeln, Reviere und Rituale. An der eingangs zitierten Bodensee-Schule, einer katholischen Ganztagsschule seit 30 Jahren, hat man noch ein weiteres R hinzugefügt, die Rhythmisierung der Zeit: Anstrengung und Entspannung. Die Schule sei „Stätte der Personwerdung“. Gelingt das, sagt Schulleiter Alfred Hinz voller Stolz auf die guten Leistungen seiner Schüler, „dann läßt sich die Vermittlung von Wissen gar nicht verhindern“. Das kulturelle Gedächtnis Schule produziert selbst bei bester Ausstattung Ausfälle, wenn die Lehrerzimmer aus depressiven Zirkeln bestehen. Dann nämlich wehrt das geistige Immunsystem der Schüler die mit Gleichgültigkeit infizierten Inhalte ab.
Die Frage zu stellen, ob die Schule auch erziehen soll, ist weder theoretisch noch moralisch. Diese Frage ist vielmehr unvermeidlich. Es ist die Frage, in welche Welt wir die nächste Generation hineinziehen. Die Tatsache, daß Pisa die Deutschen immer wieder so erregt, zeigt, daß wir bei diesem Schülertest in einen Spiegel blicken und uns selbst erblicken. Die Erwachsenen sind das Thema hinter dem Thema Bildung. „Es ist, als ob sie täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht sehr gut bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; wir waschen unsere Hände in Unschuld.“ Visionäre Worte von Hannah Arendt. Sie stammen aus ihrer großen Rede über „Die Krise der Erziehung“, die sie 1958 übrigens in der Bremer Böttchergasse hielt.
Erwachsene, sagte die Philosophin, hätten für die Welt, wie sie ist, den Kindern gegenüber einzustehen, auch und gerade dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden seien. Treten sie vor ihre Kinder und sagen, seht her, das ist unsere Welt, oder geben sie mit der Verantwortung zugleich ihre Würde auf? Zugehörigkeit und Stolz sind Produktivkräfte. Nur wenn sich die Erwachsenen als Konstrukteure einer gemeinsamen Welt verstehen, können sie die Schüler dazu bringen als Ko-Konstrukteure daran mitzuwirken.