Was Bayern lehrt
Bitte keine ideologischen Debatten über Schulformen: Lehrer müssen Selbstbewusstsein und Spaß am Lernen vermitteln – in verwahrlosten Hauptschulen geht das sicher nicht
Heißt der Leitstern unserer Schuldebatten nun nicht mehr Finnland, sondern Bayern? Ist jetzt das erste Gebot der finnischen Schule – „Du sollst Kinder nicht beschämen“ – von einem selektiven Schulsystem widerlegt? Gilt das neue pädagogisches Testament, dass die „Schule für alle“ den unterschiedlichen Individuen am besten gerecht wird, nicht mehr? Jedenfalls hat Pisa die Deutschen wieder mal kräftig irritiert.
Die deutschen Bildungsdebatten verwirren. Ideologie und Analyse gehen durcheinander. Gewiss, der erste Anschein legt den Schluss nahe: Wenn dort, wo das gegliederte Schulsystem propagiert wird, die Ergebnisse vergleichsweise gut sind, kann diese Propaganda nicht ganz falsch sein. Im Wahlkampf werden wir es hören: Pisa hat erwiesen, dass das dreigliedrige Schulsystem richtig ist. Finnland rückt wieder weit weg, Bayern ist die Zukunft. Wirklich?
Es lohnt sich, genauer hinzusehen. Tatsächlich schaffen es die Schulen in Bayern und Baden-Württemberg am besten, auch schwache Schüler zu integrieren. Die Aufholgewinner Sachsen und Thüringen haben sich immerhin vom dreigliedrigen zugunsten eines zweigliedrigen Systems verabschiedet. Die Hauptschule ist in Süddeutschland nicht – oder noch nicht – das pädagogische Lazarett des vielfach zerklüfteten Systems. Dort ist es in ländlichen Gebieten kein Stigma, Hauptschüler zu sein. Anders in Nordrhein-Westfalen, Bremen oder Berlin. Richtige Gesamtschulen, in denen die Schüler bis Klasse neun und zehn zusammenbleiben, gibt es in Deutschland nur in ganz wenigen Ausnahmemodellen. Das gegliederte System ist überall, und die sozialdemokratischen Länder sind dabei am stärksten zergliedert. Das ist ein Effekt der Politik „Aufstieg durch Bildung“. Sie sollte möglichste viele aufs Gymnasium bringen. Das System wurde flüssiger und aus seiner ständischen Ruhe geholt. Aber es wurde in keine neue Stabilität gebracht. Es wurde neurotisiert. Hat sich das Ziel Abitur als Leitwährung durchgesetzt, führt das zur Entwertung, ja Beschämung und Resignation vieler, die es nicht aufs Gymnasium geschafft haben. Nicht besser geht es all denen, die vom Gymnasium wieder abgestuft werden. Gesamtschulen, die das System mit gestuften Leistungsniveaus in sich wiederholen, verstärken diesen Effekt noch. Sie produzieren Minderwertigkeitsgefühle, Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit.
Der Höhepunkt der sozialdemokratischen Halbheiten in der Bildung war die „schulformunabhängige Orientierungsstufe“ in Niedersachsen. Nach der vierjährigen Grundschule kamen die Kinder für zwei Jahre in eine Schule, die nur die eine Aufgabe hatte: Aufteilung auf Gymnasium, Haupt- und Realschule. Manch Progressiver sah in diesem Bastard seine „kleine Gesamtschule.“ Kinder und Eltern erlebten dieses Schüttelsieb als die Institutionalisierung von Entfremdung. Kein Wunder wenn sich manche in Fremdwörtern ungeübte Menschen ganz kreativ versprachen und von „intrigierten“ Schulen sprachen. Als in Niedersachsen die CDU im letzten Wahlkampf unter anderem versprach, die Orientierungsstufe zu schlachten und zur alten Übersichtlichkeit zurückzukehren, wurde sie gewählt.
In Bayern gab es bis vor drei Jahren noch eine sechsjährige Grundschule für alle, die nicht nach der vierten Klasse zum Gymnasium gingen. Erst mit der siebten Klasse zweigte die Realschule ab. Und da der Anteil von Gymnasiasten in Bayern am geringsten ist, kann man mit Fug und Recht behaupten: Die Bayern haben das am weitgehendsten integrierte Schulsystem in Deutschland, auch wenn sie so ein Wort nie benutzen würden.
Nun ist das Gymnasium entgegen einem von fast allen geteilten Volksglauben nicht die beste Schule. Allerdings schöpft es die besten Schüler ab. Diese Schwäche unserer höchsten Schule brachte LAU zu Tage. Nach LAU (Lernausgangslagen-Studie) werden in Hamburg alle Schüler eines bestimmten Jahrgangs im Abstand von ein paar Jahren getestet. In der Untersuchung der Neuntklässler konnte bei den Jungen im Gymnasium seit Klasse sieben kein signifikanter Kompetenzzuwachs mehr gemessen werden, von einigen Verbesserungen im Englischen abgesehen. Aber das ist bei normalem Musikhören gar nicht zu vermeiden. Auch andere Studien weisen darauf hin, dass im deutschen Gymnasium viele Schüler im Unterricht nicht erreicht werden, solange Lehrer bloß ihre Fächer und nicht ihre Schüler unterrichten. So gesehen liegt es auf der Hand, dass der Leistungsstand in Bundesländern mit geringer Gymnasialquote steigt, zumindest, solange die Marktführerschaft des Gymnasiums die anderen Schulen nicht zu sehr mit einem Makel infiziert. Wer Bayern verstehen will, muss den aufs Gymnasium fokussierten Blick zurückstellen und den Gedanken aufgeben, dass die Quote traditioneller Gymnasiasten das entscheidende Gütekriterium des Schulsystems sei. Dann sieht man, dass 42 Prozent der Studienanfänger in Bayern die Hochschulreife auf Umwegen über Fachoberschulen und Berufsoberschulen erreicht haben. Nebenan in Baden-Württemberg macht inzwischen ein Drittel der Abiturienten die Reifeprüfung an den Technischen Gymnasien. Das sind ehemalige Haupt- und Realschüler. Stärker auf Anschlüsse achten und weniger auf Abschlüsse fixiert sein, so könnte eine bayrische Lektion lauten.
Das gegliederte Schulsystem ist dort am erfolgreichsten, wo es am wenigsten erodiert ist. Aber einen Erosionsschutz gibt es nicht. Bayern gehört – wie übrigens auch Finnland – zu den Ländern, die einen großen Sprung von einer agrarischen Struktur zu einer nachindustriellen Wissensgesellschaft machen. Laptop und Lederhosen. In einer Balance aus Tradition und Moderne werden dort kulturelle Ressourcen wie Arbeitshaltung und Disziplin, die aus alten Bindungen stammen, verzehrt. Die finnische Lektion ist, zu zeigen, wie es Schulen gelingt, dieses kulturelle Kapital zu erneuern.
Auch im Bayerischen Wald drängen Eltern ihre Kinder mehr und mehr zum Gymnasium. Auch dort gilt: Wer es nicht schafft, verliert sein wichtigstes Lebenskapital – Selbstvertrauen. Trotz der neuesten Pisa-Ergebnisse – nein, wenn man genau hinschaut: wegen der neuen Ergebnisse – steht überall in Deutschland eine pädagogische Währungsreform an. Schulen dürfen nicht Unsicherheit und Selbstzweifel verbreiten. Eine Schule muss den Kindern und Jugendlichen vorbehaltlos sagen: „Ihr seid gut. Ihr gehört dazu. In euch steckt mehr, als ihr glaubt.“ Leistung ist nicht der Gegenspieler von Lust. Aber ohne Anstrengung und ohne Stolz geht es auch nicht. Jede Schule bekommt den Auftrag – und die nötigen Mittel -, möglichst vielen Schülern Anschlüsse, die weiterführen, zu verschaffen. Schluss mit dem Kult um die Abschlüsse. Jede Schule soll eigene Wege gehen, muss diese aber auch verantworten. Zur Selbstständigkeit gehört Evaluation. Dann kann man auch die ideologische Überfracht der „Gesamtschulfrage“ abwerfen. REINHARD KAHL
taz Nr. 7717 vom 16.7.2005, Seite 11, 241 Kommentar REINHARD KAHL, taz-Debatte
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