Ohne Noten…- E & W über den ADZ Kongress

Ohne Noten, ohne Zeittakt

Der Bildungsjournalist und Filmemacher Reinhard Kahl und das im Sommer 2007 ins Leben gerufene Netzwerk „Archiv der Zukunft“ (adz) hatten die pädagogische Intelligenz zum Träumen an die Hamburger Hochschule für Musik und Theater eingeladen. Hunderte kamen. Bei dem Treffen in der Hansestadt zählten die positiven Beispiele. Alltagslast und

-frust hatten zumindest ein Wochenende lang nichts zu melden.

Am Ende liegt das „Band der Evolution“ noch auf der Wiese an der Außenalster, ein Überbleibsel des Workshops, der sich am sonnigen Vormittag mit Montessori-Pädagogik beschäftigt hatte. Anita Helm blickt darüber hinweg: „Vorher wusste ich nur, was ich nicht möchte – jetzt ist mir klar, was ich will“, sagt die Lehrerin aus Arnstadt. Die Frau aus Thüringen hat mit mehr als 400 Menschen aus allen Bereichen der Pädagogik ein Wochenende darüber diskutiert, wie Schule neu und kreativ gedacht werden könnte.
An Reinhard Kahl scheiden sich die Geister. Die Stärke des umtriebigen Bildungsreformers ist sein schier unerschütterlicher Werbefeldzug für positive Beispiele aus der Praxis: Wie können Kinder und Jugendliche ihre Lust am Lernen entdecken und ausleben? Und wie können Lehrer diesen Prozess begleiten? Wie ist Schule, wenn sie anders sein darf? Von der Architektur über die Methoden bis hin zur Rollenverteilung von Lehrkräften und Schülern sammelt Kahl bei seinen Streifzügen quer durch Finnland, die Schweiz und Deutschland eindrucksvolle Beispiele dafür, dass es auch ohne Noten, Zwang, Zeittakt und Fächerkorsetts geht. Seine Filme „Treibhäuser der Zukunft“ (2004) und „Kinder“ (2007) werfen Schlaglichter auf reformpädagogische, individuelle Lernorte zwischen Bodensee und Potsdam, Düsseldorf und Hamburg. Kahl zeigt in seinen Filmen Geschichten vom Gelingen als Gegengift zu Freudlosigkeit manch eines tristen Schulalltags, mit Hemmnissen – sei es von Seiten der Politik oder der Kultusbehörde – hält er sich erst gar nicht auf. Schulstrukturdebatte? Eigenverantwortliche Schule? Lehrerarbeitszeitmodell? Inspektion? Fehlanzeige. Lehrerinnen und Lehrer, die über Überlastung stöhnen, gehören nicht zu seiner Zielgruppe. Die, wie er sagt, „Opferdiskurse in den depressiven Zirkeln vieler Lehrerzimmer“ nerven ihn. Für viele, die im Schulalltag um besseren Unterricht, um mehr Kollegialität und Mitbestimmung ringen, sind solche Sätze ein Affront.

Aufbruch und Alltag
Für andere nicht. Heinz Kreiselmeyer blickt sich beeindruckt um: „Hier ist Aufbruch.“ Der Franke hat 26 Jahre Erfahrung als Schulaufsichtsbeamter in Bayern und kennt die Verharrungskräfte im staatlichen Schulsystem. „Die Leute haben wohl daheim in den Startlöchern gelauert, dass es endlich losgeht.“ In der Tat sind Hunderte aus der ganzen Republik, der Schweiz und Skandinavien nach Hamburg gereist, um gemeinsam nach den Schnittmengen von Pragmatismus und Visionen zu suchen und nutzen jede Möglichkeit, sich kennen zu lernen und auszutauschen: Wie werden Lernorte zu Lebensorten? Warum brauchen Kinder Herausforderungen? Was bewegt sich, wenn sich eine Schule auf den Weg macht? Wenn Kinder nicht mehr trennen müssen zwischen spielen und lernen? Wenn es mehr Freiräume gibt als gewohnt? Welche Rolle spielen Theater, Tanz und Rituale im Schulalltag? Wie werden Schulen besondere und lernende Organismen? Und wie lässt sich die Aufbruchstimmung einer solchen Tagung in den mitunter doch schwierigen Alltag retten? „Das klappt schon“, meint Jana Karafiat, 29-jährige Studentin aus Potsdam: „Mit der Kraft und den Ideen, die ich hier mitbekomme, halte ich mich über Wasser, wenn ich wieder zuhause bin.“
Bereits im kommenden Jahr wird der zweite Kongress der Schulerneuerer stattfinden, diesmal am Bodensee. Es wird sich zeigen, ob die Hamburger Euphorie bis dorthin trägt. Ein großes Boot für tausend Menschen hat Reinhard Kahl jedenfalls bereits gebucht.
Tina Fritsche, freie Journalistin

„Kinder!“
„Eigentlich braucht jedes Kind drei Dinge“, sagt der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther in dem Film „Kinder!“: „Es braucht Aufgaben, an denen es wachsen kann, es braucht Vorbilder, an denen es sich orientieren kann, und es braucht Gemeinschaften, in denen es sich aufgehoben fühlt.“
Der Streifen „Kinder“ des Publizisten und Filmemachers Reinhard Kahl beginnt in Berlin Kreuzberg. Mitten im Kiez gibt es eines der schönsten Häuser für Kinder. Eine Kindertagesstätte, die viel Platz hat. Der Raum selbst ist eine Botschaft: Kommt her! Ihr seid willkommen! Filme über Mädchen und Jungen, die in Kreuzberg beginnen, könnten ganz anders weitergehen als dieser. „Kinder“ nimmt die Spur des Gelingens auf. Kahl hat nach Orten gesucht, an denen die Neugier und der Mut der Kinder herausgefordert werden. Orte, an denen auch die Erwachsenen begreifen können, was Lernen ist. Der Film ist dem Lerngenie der Kinder auf der Spur. Er lädt die Zuschauer zur Entdeckung des Selbstverständlichen ein, das allerdings häufig alles andere als selbstverständlich ist.
„Kinder!“ Buch und Regie: Reinhard Kahl – 100 Minuten, Produktion: Archiv der Zukunft 2007.
Der Film ist auf DVD über www.archiv-der-zukunft.de für 15 Euro incl. Verpackung und Transport erhältlich. Bestellungen an: