Lob des Humankapitals
Reinhard Kahl hat als Journalist die „Treibhäuser der Zukunft“ besucht – Schulen, die auf das setzen, was zum Unwort des Jahres wurde
Zum unverzichtbaren Inventar des Philisters gehört die Überzeugung, Bildung verhalte sich zu Wirtschaft wie Feuer zu Wasser. Dieses Ressentiment bedienten jene Sprachforscher, die „Humankapital“ vergangene Woche zum Unwort des Jahres wählten. Abgesehen davon, daß „Unwort“ selbst ein unmögliches Wort ist, erweist sich der Gebrauch von Humankapital (in Wort und Tat) dagegen als Wasserzeichen eines zukunftsgerichteten, in Bildungsfragen überlegenen Denkens.
Wenn in Deutschland die hehren Präambelsätze über Bildung verklungen sind, dann geht man mit einem ganz anderen Wort zur Sache. Man argumentiert mit dem „Qualifikationsbedarf“. In der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition wird statt dessen das verdächtige Wort „Humankapital“ gebraucht. Gewiß, es hört sich zunächst nach kruder Ökonomie an. Tatsächlich steht aber dahinter das Vertrauen, junge Menschen würden aus ihrer Qualifikation schon was machen. Aufs Humankapital wird gesetzt, weil niemand wissen kann, wie die Zukunft aussieht. Weil sie offen ist, muß man sich möglichst gut vorbereiten. In dieser Denkweise liegt ein wichtiger Grund für die hohe Quote von Studierenden in diesen Ländern.
Die deutsche Konstruktion „Qualifikationsbedarf“ setzt voraus, daß die Zukunft im groben bekannt ist. Nur dann kann man die nächste Generation dem vermeintlich objektiven Bedarf unterwerfen. Schlimmer noch, viele Jugendliche glauben selbst an diese Fiktion. Zur Vorstellung, ein Qualifikationsbedarf sei zu bedienen, gehört auch die verbreitete Angst, zu viele Hochqualifizierte endeten als akademisches Proletariat, sei es als Revoluzzer oder Taxifahrer. Alle Statistiken beweisen das Gegenteil. Die OECD zeigt international sinkende Arbeitslosenquoten in Ländern, in denen seit 1995 der Anteil von Studierenden um mehr als fünf Prozent gestiegen ist.
Also: das Denkmuster „Humankapital“ schafft Freiraum für Bildung. Es hilft, Bildungssystem und Beschäftigungssystem zu entkoppeln. Es stärkt den „subjektiven Faktor“. Ganz konkret: Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren hergestellt wurden, überlegt, für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer würde heute diese Firma kennen? „Kommunikationsgesellschaft“ steht inzwischen als Staatsziel in der finnischen Verfassung. Definiert wurde es unter anderem damit, daß zumindest 70 Prozent der jungen Leute studieren. Jawohl, 70 Prozent. Wohin führt das, wenn jeder studiert, fragen sich hingegen viele Deutsche. Dem Denken in Bedarfskategorien verdanken wir unsere im internationalen Vergleich niedrige Studierendenquoten: 32 Prozent beginnen ein Studium. Im OECD-Schnitt sind es 45 Prozent. Wir sind allerdings – trotzdem – Weltmeister bei den Abbrechern!
Wer sich fragt, wie stärke ich mein Humankapital, und sich nicht darauf beschränkt, vorauseilend zu erfüllen, was angeblich gebraucht wird, muß herausfinden, was er will. Etwas zu wollen und eigene Ideen zu haben, das wird zum Kern eines modernen Bildungsideals, das auf das Potential der Menschen setzt.
Artikel erschienen am 23. Januar 2005