Von Söldnerheeren zu Kulturgemeinschaften

19.01.2004

Von Söldnerheeren zu Kulturgemeinschaften

Ausgerechnet aus der Wirtschaft kommen revolutionäre Vorschläge für eine bessere Schule Von Reinhard Kahl

 


Wie kommt es, dass viele Jugendliche, die in der Schule versagen, im Beruf aufblühen? „Da stimmt doch was nicht,“ meint Jürgen Hogeforster und kann von erstaunlichen Biographien erzählen. 21 Jahre war er Hauptgeschäftsführer der Hamburger Handwerkskammer, seit kurzem ist er im Ruhestand. Nun will er sich ganz auf die Bildungspolitik werfen. Eine private Fachhochschule will er aufbauen und helfen, ein deutsches Tabu zu knacken, das dreigliedrige Schulsystem. Aber was heißt dreigliedrig? Hogeforster erinnert an fast fünf Prozent Sonderschüler. So viele Ausgegliederte seien in der Welt einmalig. Kürzlich war er in Finnland. „Kein Mensch versteht da unser System.“


Und schon wieder ist dieser Mann so frisch empört, als begegneten ihm die deutschen Eigenheiten zum ersten Mal. Hogeforster ist aber ein Veteran. Und eine Ausnahme in der deutschen Bildungsszene. Er hat seine Meinung geändert.


Im gegliederten Schulsystem sah er Vorteile. Es müsste doch eigentlich für die unterschiedlichen Menschen passender sein und den Einzelnen besser fördern als die Einheitsschule. „Doch im Ergebnis,“ weiß er jetzt, „kommt genau das Gegenteil heraus.“ Weil in den Schulformen starre Bilder von Begabung herrschten, versuche man die Schüler diesen Bildern anzugleichen. „Sie kommen als unterschiedliche rein und gehen als gleiche wieder raus – gestutzt.“ Seit Pisa bremst Hogeforster seine anschwellende Radikalität nicht mehr und sagt: „Das ist ein unmenschliches und uneffektives System.“


Gift für die Gesellschaft


Das Hauptproblem sei, dass für mehr und mehr Kinder und Jugendliche die negativen Erfahren in den Schulen dominierten. Und dann folgt das Wort, auf das viele verzichten, weil es sofort Reflexe in deutschen Bildungskrieg entfacht: die frühe Selektion sei die Erbsünde unserer Schulen. Hogeforster nennt sie auch „ein Gift, das einzelne schädigt und die Gesellschaft schwächt“. Je mehr Schüler in höhere Schulen aufstiegen, um so mehr Versager produziere das System. Das Ergebnis: 15 Prozent der Jugendlichen seien nicht ausbildungsfähig, es sei denn sie kämen nach Ende der Schulpflicht erst mal in Einrichtungen, die sie wieder auf den Geschmack des Lernens bringen und das kaputte Selbstvertrauen wieder aufpäppeln.


Noch mal die Zahl. 15 Prozent der Lehrstellenbewerber seien nicht ausbildungsfähig? Nein, sagt Hogeforster, 15 Prozent eines Jahrgangs. Er führt Studien an und tatsächlich entspricht die Quote der Pisastudie, die in Deutschland 23 Prozent der Fünfzehnjährigen als so genannte Risikokandidaten einstuft. Bei den Finnen sind es sieben Prozent. Hogeforster sieht diese Problemgruppe wachsen. „Das heißt wir müssen jedem fünften sagen, du bist umsonst geboren.“ Der promovierte Ökonom kann begründen, warum in der Wirtschaft das Humankapital wichtiger wird als Maschinen oder das flüchtige Finanzkapital. Noch höher schätzt der Mann, der jahrelang den Planungsstab des niedersächsischen Ministerpräsidenten geleitet hat, und Geschäftsführer des Prognos Instituts in Basel war, Vertrauen und Selbstvertrauen. Sie seien das allerwichtigste und das am schwersten zu fassende Kapital. Sein harter Vorwurf: Es werde in unseren Schulen zerrieben.


Die meisten Betriebe gehen immer noch den naheliegenden Weg. Sie suchen sich die besten Bewerber raus. So haben inzwischen in Hamburg 15 Prozent der Lehrlinge Abitur. Die schwachen Schulabgänger werden zum großen in diversen staatlichen „Maßnahmen“ geparkt. Manche Wirtschaftsverbände verlangen, die Hauptschule aufzuwerten. „So habe ich bis vor einigen Jahren auch argumentiert,“ sagt Hogeforster, bis er den Glauben aufgeben hat, dass die Hauptschule jemals wieder eine Schule mit einem breiten Spektrum von Begabungen wird, wie das in ländlichen Teilen Süddeutschlands noch der Fall ist und dort wohl zu vergleichsweise guten Pisa-Ergebnissen führte. Aber dahin führe kein Weg zurück. „Keine Politik kommt dagegen an, dass die Eltern ihre Kinder auf höhere Schulen schicken.“


Noch als Chef des Hamburger Handwerks schrieb er seine Kritik auf und skizzierte eine Schule, in der alle Kinder bis zum 9. Schuljahr zusammen bleiben. In diesem Konzept liest man, dass Schule nicht auf einen bestimmten Beruf vorbereiten, sondern fürs Lernen begeistern solle. Dabei seien Vorbilder gefragt. „Schulen und ihr Personal müssen selbst lernwillig und lernbereit sein, sich an Qualitätsstandards messen, eine höhere Eigenständigkeit haben und sich ständig verbessern.“


Einige Monate wurden die Thesen diskutiert und schließlich ohne Gegenstimme am 18. Dezember 2003 vom „Parlament des Handwerks“ in der Hansestadt verabschiedet. 12 800 Betriebe mit 136 000 Beschäftigten vertritt das Gremium. Wenn es nach ihm geht, sollen Vorschulen vom fünften Lebensjahr an Pflicht werden. Der Wettbewerb zwischen den Schulen würde gestärkt. Ganztagsangebote sollen „das lokale Umfeld einbeziehen“. Und neben der Schulpflicht für Kinder würde es auch eine Weiterlernpflicht für Lehrer geben. Das Hamburger Handwerk steht nicht allein. Auch der Handwerkstag Baden-Württemberg beschloss eine Schule nach skandinavischem Vorbild, in der alle Schüler neun Jahre zusammen bleiben.


War man vom Handwerk in Sachen Bildung bisher gewohnt, dass auf Rechtschreibung, Dreisatz und saubere Fingernägel gepocht wurde, so steht im Bildungsmanifest des Handwerks aus dem Südwesten: „Das Konzept ,Belehrung\‘ darf nicht länger im Mittelpunkt stehen. Es ist das Unterrichtsprinzip des auslaufenden Industriezeitalters“. Verlangt wird, eine neue Kultur in den Schulen. Kinder sollen Fehler machen dürfen. Und Lehrer sollen nicht als hochfrequente Sender ihre Schüler zu passiven Empfängern konditionieren. Kinder wollten doch lernen und würden in der Schule lernmüde. „Das Kernproblem“ ist für den Handwerkstag, dass „in Deutschland der Lernprozess nicht individuell an den Entwicklungsstand der Schüler gekoppelt ist. Stattdessen wird nach einem Einheitskonzept unterrichtet.“ Wer nicht der Norm entspricht, den stempele das System zum schlechten Schüler. „Das selektive System entlässt die Schule aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern“.


Natürlich wollen die Handwerker auch deshalb eine andere Schule, weil sie fürchten, dass sich bei ihnen bald nur noch die Invaliden sammeln. In Baden-Württemberg, schreibt der Handwerkstag, würden nur noch der Hälfte der Jugendlichen, die sich bewerben, Voraussetzungen für eine erfolgreiche Berufsausbildung mitbringen. Anders als in manchen früheren Verlautbarungen wird die Schuld nicht bei den Jugendlichen gesucht, sondern in der Art, wie hier zu Lande Schule gemacht wird.


Der Vorschlag aus Baden-Württemberg ist noch detaillierter als der aus der Hansestadt. Statt des horizontalen, dreigliedrigen Systems soll es künftig drei aufeinander aufbauende Stufen geben. Basis wäre eine neue Vorschule. Ihr folgt die neunjährige „Grundstufe“. Ein dritter Absatz bietet ab Klasse 10 drei Wege: das allgemein bildende Gymnasium, das Berufsgymnasium und die duale Berufsausbildung. Übergänge zu den Hochschulen sollen allen offen stehen, die ihren Abschluss schaffen.


Grüne Karte als Ansporn


Auch in anderen Teilen der Wirtschaft beginnt eine Diskussion über eine neue Schule. Peter Haase ist Chef von „VW Coaching“, einer Gesellschaft mit 140 Millionen Euro Umsatz, in die der Wolfsburger Autokonzern alle Bildungs- und Fortbildungsaktivitäten ausgegliedert hat. Haase bemängelt, dass von der Hauptschule bis zur Universität Einzelkämpfer trainiert würden, die im Betrieb erst mühsam Zusammenarbeit lernen müssten. Ein Ausbildungsverbund in Wolfsburg hat in den vergangen Jahren 650 Jugendliche, zumeist ohne Schulabschluss, aufgenommen und davon wurden 92 Prozent anschließend in Arbeitsverhältnisse übernommen. „Wir verteilen in den Schulen ständig die rote Karte und geizen mit der grünen Karte,“ kritisiert Haase. Deshalb wurden jetzt „Profilkarten“ entwickelt, in denen die Stärken und Lernwünsche der Jugendlichen vermerkt werden. Schritt für Schritt werden diese Karten zu individuellen Lehrplänen ausgebaut. Wenn die Individualisierung des Lernens gelingt, braucht man dann noch Schulprofile von Hauptschule, Realschule und Gymnasium, die es sonst nirgendwo gibt?


Auch die Unternehmensberater von McKinsey setzen in ihrem Plan für eine neue deutsche Schule darauf, dass dort alle Kinder neun Jahre zusammen lernen und dabei jeder seinen Weg findet. Ihr Vorbild ist die legendäre Futurum Schule in Schweden. Sie erinnert kaum noch an den üblichen Lehrerunterricht. Eher an Lernbüros. Jeder Schüler entwickelt in seinem Logbuch zusammen mit den Pädagogen seinen einmaligen Lehrplan. „Vielleicht müsste die Schule das Vorbild sein, das wir dann in die Arbeitswelt mit nehmen,“ überlegt McKinsey Boss Jürgen Kluge.


Die neuen Töne für die Erneuerung der Bildung aus der Wirtschaft erstaunen manch einen, wurde ihr bisher doch zugeschrieben, nur an der profitablen Verwertung von Humankapital interessiert zu sein. Dieses Bild aus der alten Industriegesellschaft sitzt in Deutschland tief. Immerhin titelte 1966 die Wirtschaftszeitung „Industriekurier“: „Demokratie hat in Betrieben so wenig zu suchen, wie in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen.“


Worauf es heute ankommt, formuliert Thomas Sattelberger, Personalvorstand bei der Reifenfirma Continental als Frage für Betriebe, Schulen und die ganze Gesellschaft: „Wie machen wir aus Söldnerheeren Kulturgemeinschaften?“