PS O1 2004 Krieg und Frieden

Nach dem ersten Tag in der weiterführenden

Schule kommt ein unglückliches

Kind nach Hause. Am liebsten würde es

nie wieder hin gehen. Kaum hatte nämlich

der Klassenlehrer die Schüler begrüßt,

drohte er mit leiser Stimme: »Ich

sage hier alles nur einmal.« Und fügte

hinzu: »Mit mir habt ihr Glück. Die

Fachlehrer sind wirklich streng.« Das ist

vielleicht keine Kriegserklärung, aber

doch die Ankündigung von Kriegsrecht.

Nicht nur der Lehrer und seine angedrohten

Kollegen machten dem Kind

Angst. Bedrohlich fand es auch einige

Mitschüler, die offenbar nur auf das

feindliche Signal von vorne gewartet hatten.

Wird einer etwas lauter, rufen ihn

andere pseudoempört zur Ordnung. So

wird der Pegel ständig erhöht. Der Lehrer

blickt stumm vor sich hin, als wolle

er sagen, ihr werdet euch noch wundern,

mich wundert schon gar nichts mehr.

Binnen kurzem sind die Feindbilder gerahmt.

Das Spiel »Blöder Lehrer – Dumme

Schüler« ist eröffnet und könnte jetzt

neun Jahre so weitergehen. Dem Lehrer

hat das Verhalten der Schüler eindeutig

bewiesen, dass man von Anfang an Härte

zeigen muss. Die Schüler glauben nun

eines sicher zu wissen: Hier sind wir nie

zu Hause. Wie in jedem Krieg hat immer

die andere Seite angefangen. Keiner will

der Dumme sein, der als zweiter zieht.

Feindbilder wollen gepflegt sein. Eine

Haltung, die nicht nur dumm ist, sondern

auch dumm macht. Denn ist der Kleinkrieg

erst mal Alltag geworden, wie sollen

sich Schüler und Lehrer dann noch positiv

überraschen? Ist die soziale Neugierde

geschwächt, lässt auch die auf die

Welt, also auf das Wissen nach.

Sich überraschen

Aber genau daran erkennt man gute

Schulen: Lehrer werden von Leistungen

und Ideen ihrer Schüler ständig überrascht.

»Wir haben doch tolle Schüler«,

schwärmt Gisela John, Leiterin der Jenaplanschule

in Jena, »dass ich immer

froh bin, hier Lehrerin zu sein.« In den

100 Minuten Projektzeit, die es an drei

Tagen die Woche gibt, sitzen Schüler

auch in Fluren an Tischen oder am Boden

und arbeiten. Viele Besucher staunen nur

kurz über diese Atmosphäre, dann meinen

sie den Grund zu kennen: Das sind

halt ausgesuchte Schüler, die keine Probleme

machen. Falsch. Viele Kinder und

Jugendliche haben Umwege hinter sich.

Manche sind hier nach Phasen der Schulverweigerung

erstmals heimisch geworden.

Die Schulleiterin versteht nicht, wie

schnell häufig nach der Substanz dieses

»Schülermaterials« gefragt und nicht begriffen

wird, »dass hinter dem Ganzen

ein gemeinsam geschaffenes Regelwerk

und gemeinsame Rituale stehen.«

Wo ist Konrad?

Heute ist die ganze Schule auf den Beinen,

fast die ganze, bis auf die »Spatzen

«, aus dem schuleigenen Kindergarten.

Aber alle anderen 400 Schüler von

Klasse 1 bis 13 sowie das Kollegium ziehen

von der Tatzendpromenade 9 quer

durch Jena zum Universitätshügel. Nur

ein großer Hörsaal reicht für alle aus. An

diesem Vormittag stellen die Lehrer ein

Projekt vor, an dem in den nächsten drei

Wochen alle Schüler und Lehrer, auch die

Spatzen arbeiten werden: »Die Moderne.

« Die Präsentation im Hörsaal ist

kurzweilig und macht Hunger auf mehr.

Lauter Gewebeproben aus den Projekten,

die nun beginnen. Dann geht etwas

schief. Während eine Lehrerin Brecht

singt, erscheinen hinter ihr unpassende

Dias und Schriften aus dem Beamer.

»Der Computer spinnt«, ruft jemand,

»wo ist Konrad?« Konrad ist ein Computergenie

aus dem 9. Jahrgang, die

Autorität auf diesem Gebiet.

Diese Szene wäre in mancher Schule der

Auslöser für großes Gejohle geworden.

Lauter prustende Schülerbacken, die auf

so was nur gewartet haben. Endlich mal

Druck ablassen, ein kleines Match im sadistischen

Pingpong mit dem Lehrkörper.

Nichts davon. Vielleicht ein Lächeln. Keine

Störung der Aufmerksamkeit. Bloß einige

Lehrer finden die Panne peinlich.

Wenn eine Schule diesen Test besteht,

muss etwas ganz Besonderes mit ihr sein.

Worin besteht ihr Geheimnis?

Der größte Teil des Unterrichts findet Peter

Petersens Jenaer Plan entsprechend in

altersgemischten Gruppen statt. Die Jahrgänge

eins bis drei bilden die Untergruppe,

vier bis sechs die Mittelgruppe und sieben

bis neun die Obergruppe. Leistungsdifferenzierung,

die auch die deutschen Gesamtschulen

mit dem Gift der Selektion

schwächt, gibt es nicht. Mit der Förderung

von Verschiedenheit und der gleichzeitigen

Gewissheit von Zugehörigkeit wird eine

Atmosphäre geschaffen, die Schüler zu

faszinierenden Leistungen treibt. Beeindruckend

ist, was Schüler am Ende der

Projekte in ihren Präsentationen vorstellen.

Und wie sie das machen. Neuerdings

wird auch außerhalb der Projektzeiten die

traditionelle Fachlichkeit zurückgedrängt.

In den Oberklassen werden Physik, Chemie

und Biologie zu »Natur« zusammengelegt.

Dafür haben die Lehrer ein glänzendes

Curriculum entwickelt. Viele Pädagogen

hatten auch in dieser Schule Vorbehalte

und Angst, die zugedrängte Fachlichkeit

könne zu Leistungseinbußen, zumindest

in der Leitwährung Abitur führen.

Aber auch diesmal wurden die Lehrer

mit den hervorragenden Leistungen ihrer

Schüler überrascht.

P.S.

In Jena ebenso wie etwa auch an der Bodensee

Schule, in Kassel Waldau oder in

Hamburg an der Grundschule von Max-

Brauer fällt auf, dass Lehrer schon vor

den Schülern in der Klasse sind. Wie

Gastgeber haben sie alles vorbereitet und

warten. Das ist ein schöner Anfang, der

wie jeder Anfang ein Muster für das

Ganze setzt. Leider ist er die Ausnahme.

In der Regel kommt der Lehrer zuletzt,

häufig zu spät, blickt wie ein Inspektor

und fragt, was ist denn hier los. Und

manchmal droht er dann mit leiser Stimme:

»Ich sage alles nur einmal…«

P. P. S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming:

Kahl-Lob.des.Fehlers@gmx.de