Nach dem ersten Tag in der weiterführenden Schule kommt ein unglückliches Kind nach Hause. Am liebsten würde es nie wieder hin gehen. Kaum hatte nämlich der Klassenlehrer die Schüler begrüßt, drohte er mit leiser Stimme: »Ich sage hier alles nur einmal.« Und fügte hinzu: »Mit mir habt ihr Glück. Die Fachlehrer sind wirklich streng.« Das ist vielleicht keine Kriegserklärung, aber doch die Ankündigung von Kriegsrecht. Nicht nur der Lehrer und seine angedrohten Kollegen machten dem Kind Angst. Bedrohlich fand es auch einige Mitschüler, die offenbar nur auf das feindliche Signal von vorne gewartet hatten. Wird einer etwas lauter, rufen ihn andere pseudoempört zur Ordnung. So wird der Pegel ständig erhöht. Der Lehrer blickt stumm vor sich hin, als wolle er sagen, ihr werdet euch noch wundern, mich wundert schon gar nichts mehr. Binnen kurzem sind die Feindbilder gerahmt. Das Spiel »Blöder Lehrer – Dumme Schüler« ist eröffnet und könnte jetzt neun Jahre so weitergehen. Dem Lehrer hat das Verhalten der Schüler eindeutig bewiesen, dass man von Anfang an Härte zeigen muss. Die Schüler glauben nun eines sicher zu wissen: Hier sind wir nie zu Hause. Wie in jedem Krieg hat immer die andere Seite angefangen. Keiner will der Dumme sein, der als zweiter zieht. Feindbilder wollen gepflegt sein. Eine Haltung, die nicht nur dumm ist, sondern auch dumm macht. Denn ist der Kleinkrieg erst mal Alltag geworden, wie sollen sich Schüler und Lehrer dann noch positiv überraschen? Ist die soziale Neugierde geschwächt, lässt auch die auf die Welt, also auf das Wissen nach. Sich überraschen Aber genau daran erkennt man gute Schulen: Lehrer werden von Leistungen und Ideen ihrer Sch
»
Wir haben doch tolle Schüler«,schw
ärmt Gisela John, Leiterin der Jenaplanschulein Jena,
»dass ich immerfroh bin, hier Lehrerin zu sein.
« In den100 Minuten Projektzeit, die es an drei
Tagen die Woche gibt, sitzen Sch
ülerauch in Fluren an Tischen oder am Boden
und arbeiten. Viele Besucher staunen nur
kurz
über diese Atmosphäre, dann meinensie den Grund zu kennen: Das sind
halt ausgesuchte Sch
üler, die keine Problememachen. Falsch. Viele Kinder und
Jugendliche haben Umwege hinter sich.
Manche sind hier nach Phasen der Schulverweigerung
erstmals heimisch geworden.
Die Schulleiterin versteht nicht, wie
schnell h
äufig nach der Substanz dieses»
Schülermaterials« gefragt und nicht begriffenwird,
»dass hinter dem Ganzenein gemeinsam geschaffenes Regelwerk
und gemeinsame Rituale stehen.
«Wo ist Konrad?
Heute ist die ganze Schule auf den Beinen,
fast die ganze, bis auf die
»Spatzen«
, aus dem schuleigenen Kindergarten.Aber alle anderen 400 Sch
üler vonKlasse 1 bis 13 sowie das Kollegium ziehen
von der Tatzendpromenade 9 quer
durch Jena zum Universit
ätshügel. Nurein gro
ßer Hörsaal reicht für alle aus. Andiesem Vormittag stellen die Lehrer ein
Projekt vor, an dem in den n
ächsten dreiWochen alle Sch
üler und Lehrer, auch dieSpatzen arbeiten werden:
»Die Moderne.«
Die Präsentation im Hörsaal istkurzweilig und macht Hunger auf mehr.
Lauter Gewebeproben aus den Projekten,
die nun beginnen. Dann geht etwas
schief. W
ährend eine Lehrerin Brechtsingt, erscheinen hinter ihr unpassende
Dias und Schriften aus dem Beamer.
»
Der Computer spinnt«, ruft jemand,»
wo ist Konrad?« Konrad ist ein Computergenieaus dem 9. Jahrgang, die
Autorit
ät auf diesem Gebiet.Diese Szene w
äre in mancher Schule derAusl
öser für großes Gejohle geworden.Lauter prustende Sch
ülerbacken, die aufso was nur gewartet haben. Endlich mal
Druck ablassen, ein kleines Match im sadistischen
Pingpong mit dem Lehrk
örper.Nichts davon. Vielleicht ein L
ächeln. KeineSt
örung der Aufmerksamkeit. Bloß einigeLehrer finden die Panne peinlich.
Wenn eine Schule diesen Test besteht,
muss etwas ganz Besonderes mit ihr sein.
Worin besteht ihr Geheimnis?
Der gr
ößte Teil des Unterrichts findet PeterPetersens Jenaer Plan entsprechend in
altersgemischten Gruppen statt. Die Jahrg
ängeeins bis drei bilden die Untergruppe,
vier bis sechs die Mittelgruppe und sieben
bis neun die Obergruppe. Leistungsdifferenzierung,
die auch die deutschen Gesamtschulen
mit dem Gift der Selektion
schw
ächt, gibt es nicht. Mit der Förderungvon Verschiedenheit und der gleichzeitigen
Gewissheit von Zugeh
örigkeit wird eineAtmosph
äre geschaffen, die Schüler zufaszinierenden Leistungen treibt. Beeindruckend
ist, was Sch
üler am Ende derProjekte in ihren Pr
äsentationen vorstellen.Und wie sie das machen. Neuerdings
wird auch au
ßerhalb der Projektzeiten dietraditionelle Fachlichkeit zur
ückgedrängt.In den Oberklassen werden Physik, Chemie
und Biologie zu
»Natur« zusammengelegt.Daf
ür haben die Lehrer ein glänzendesCurriculum entwickelt. Viele P
ädagogenhatten auch in dieser Schule Vorbehalte
und Angst, die zugedr
ängte Fachlichkeitk
önne zu Leistungseinbußen, zumindestin der Leitw
ährung Abitur führen.Aber auch diesmal wurden die Lehrer
mit den hervorragenden Leistungen ihrer
Sch
üler überrascht.P.S.
In Jena ebenso wie etwa auch an der Bodensee
Schule, in Kassel Waldau oder in
Hamburg an der Grundschule von Max-
Brauer f
ällt auf, dass Lehrer schon vorden Sch
ülern in der Klasse sind. WieGastgeber haben sie alles vorbereitet und
warten. Das ist ein sch
öner Anfang, derwie jeder Anfang ein Muster f
ür dasGanze setzt. Leider ist er die Ausnahme.
In der Regel kommt der Lehrer zuletzt,
h
äufig zu spät, blickt wie ein Inspektorund fragt, was ist denn hier los. Und
manchmal droht er dann mit leiser Stimme:
»
Ich sage alles nur einmal…«P. P. S.
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming:
Kahl-Lob.des.Fehlers@gmx.de