PS 6 Das Brainstorming der Schüler

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Das Brainstorming der Schüler

Auf diese Idee hätte man längst kommen können. Ein Parlament mit Schülern, die in ausländischen Schulen gelernt und – damit beginnt häufig schon der Unterschied – gelebt haben. Was von so einem Konvent ausgehen könnte, war zu ahnen, als auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich um die 20 Schüler nach Berlin kamen. Sie sind in Kanada oder Finnland, in Irland oder Polen zur Schule gegangen. Beim Vergleich kam Deutschland nicht gut weg. Schwarzweiß waren die Bilder dieser Erfahrungsexperten allerdings nicht. Schatten und dunkle Wolken gibt es überall. Aber dass der Himmel über Schulen überwiegend heiter sein kann, hatten viele nicht für möglich gehalten. Bis sie es erlebten. Beim Treffen kam Begeisterung auf. Schule kann tatsächlich Freude machen. Wenn Erinnerungen aus Quebec mit denen aus Schweden verglichen wurden, wenn norwegische und irische Schulgeschichten erzählt wurden, dann wurde manch einem erst klar, das war gar kein Einzelfall, was ich erlebt habe. Dass man gern zur Schule gehen kann, ist für viele Deutsche immer wieder eine Entdeckung.

Zugehörig

Am wichtigsten ist die Atmosphäre. Aber was ist das? Schwer zu fassen. Zum Beispiel Sportveranstaltungen, bei denen alle Schüler dabei sind und ihre Mannschaft anfeuern. Sport, das zeigten vor allem Berichte aus den angelsächsischen Ländern, ist nicht nur Bewegung, Körperlichkeit und Spiel. Sport ist auch ein Ritual, sich Verbundenheit zu vergewissern. Oder ein Pyjama Day, zu dem alle Schüler im Schlafanzug kommen. Das fanden die Deutschen zunächst albern. Erst recht mit einem Wackelpudding-Burger-Wettessen konnten sie nichts anfangen. Aber nachträglich fanden sie, »das bindet, da wird viel gelacht, da kommt man sich näher«. So wird eine Atmosphäre gebildet, die Zugehörigkeit auskristallisiert. Dieses vorbehaltlose Ihr-gehört-dazu war für die deutschen Schüler neu und zunächst schwer verständlich. Wieder mal verdeutlicht dieser Kontrast die giftigen Wirkungen des selektiven deutschen Systems: Man kann sich nie ganz sicher sein, ob man wirklich dazugehört.
Oder die Lehrer. Abgesehen von den Schilderungen aus Polen und Frankreich wurde das Verhältnis als viel entspannter geschildert, als es hierzulande erlebt wird. Die persönliche Beziehung ist so wichtig wie der Fachunterricht. Das konnten die Schüler, die auf Auslandsexpedition waren, über ihre Heimat nur ausnahmsweise sagen. Manchmal rangen sie nach Worten. Denn es geht ja nicht um ein paar Äußerlichkeiten, sondern darum, wie sie wahrgenommen werden. Es geht um Wertschätzung. Das berührt. »Na ja, der Respekt war ein ganz anderer. Es war nicht Disziplin von wegen, wir sind jetzt wie in der Armee und ihr habt zu machen, was ich sage, weil ich bin die Obrigkeit. Die Lehrer waren eher wie Freunde. Man hat zusammengearbeitet, statt irgendwie zu rebellieren gegen seine Lehrer, also meistens.« Bericht eines Schülers nach einem Jahr in Quebec. In Deutschland war ihm das Lernen zuvor fast abhanden gekommen. Respekt war eines der von den Schülern am häufigsten gebrauchten Wörter. Respect! Respect me! Das sind auch Keywords in den Subkulturen, etwa in den Sprechgesängen des HipHop. Respekt kommt ja von respectare, zurück blicken. Wie blickt ein Schüler, wie blickt ein Lehrer zurück?

Werte

»Und was wir noch ganz wichtig finden ist, dass in Skandinavien die Lehrer keine Beamte sind.« Sie sind Angestellte, »die verhandeln mit dem Schulleiter über ihr Gehalt, und wenn sie nicht Entsprechendes leisten, können sie auch entlassen werden.« Das steigert offenbar die Achtung bei Schülern. Es scheint, als würden diese Lehrer eher als »Erwachsene« anerkannt, eben respektiert. »Und das führt dann dazu, dass auch was passiert in der Schule.«
In Frankreich wird hingegen Respekt etwas anders buchstabiert, eher als Autorität im Sinne einer »Respektsperson«, die weniger Wechselwirkungen verspricht als Einwirkung ankündigt. Schüler, die in Polen und Frankreich waren, bekamen autoritäre Töne zu hören. Offenbar wird den Lehrern im Vergleich zu Finnland oder Kanada tatsächlich weniger Respekt gezollt und weniger »echte Autorität«, wie die Schüler sagen, zugeschrieben. Das sind zirkuläre Systeme. Aus der Sicht französischer Schüler ist Deutschland liberaler und moderner als ihr Land. Entsprechend fragen sie die Deutschen: »Wie könnt ihr eigentlich lernen, wenn ihr eure Lehrer freundlich behandeln?« Die französischen Schüler, zumindest diejenigen, von denen berichtet wurde, glauben, »dass man bei einem so vertrauten Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, wie sie es in Deutschland vermuten, eigentlich gar nichts mehr lernt.«

P. S.

Vieles hängt also davon ab, an welche Art von Lernen jemand glaubt. Wären hier nicht Antworten auf die neuerliche Debatte über Werte, Religionsunterricht und Co. zu suchen? Die Berichte der Schüler und die Art wie sie ihre globalen Expeditionen diskutierten, zeigt, dass man die Kulturen sehr gut danach unterscheiden kann, ob in ihnen eher eine Vorstellung von Respekt und Freundschaft vorherrscht, oder ob an eine gewissermaßen natürliche Entfremdung geglaubt wird. Das wären doch »Werte« über die eine Debatte sich lohnt. Da würden die Bibel und Gottfried E. Lessing, der Koran und Georg F. Lichtenberg, der ganze große Kanon der Werte plötzlich wunderbar konkret, inspirierend und tatsächlich bildend – oder?

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de