PS 1 2005 Hyvinvointi

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Hyvinvointi

Die Puistolan Peruskoulu in Vantaa, ein Vorort von Helsinki, ist ein einladender, architektonisch ideenreicher Neubau. Oberlicht gliedert den Raum. Pflanzen geben Fluren, Bibliotheken, Computerlabors und der großzügigen Kantine etwas von einer Orangerie. Also eine Vorzeigeschule? Nein, sagt die Lehrerin Eija Reinikainen und fragt, ob es denn in Deutschland nicht selbstverständlich sei, dass nur die besten Architekten Schulen bauen? Hm. Selbstverständlich ist den Pisa-Weltmeistern auch die Peruskoulu, die Gemeinschaftsschule. Zu ihr gehen in Finnland alle Kinder vom 1. bis zum 9. Schuljahr. Aber was heißt das: Gemeinschaftsschule?

Die kleine Klasse

Eija Reinikainen führt die Besucher in ihre »kleine Klasse,« ein drittes Schuljahr. Da sitzen an diesem Morgen nur vier Schüler. In der nächsten Stunde kommt noch eine Schulassistentin dazu. Wir verdrehen die Augen. Dabei wussten wir ja schon, dass es eine »kleine Klasse« für Kinder mit Schwierigkeiten zu sehen gibt. Aber so klein? Eija – die Finnen sprechen sich mit Vornamen an – berichtet voller Stolz, dass sie nun langsam überflüssig wird und sich neue Aufgaben für den Rest des gerade drei Monate alten Schuljahres sucht, denn die meisten der Kinder »mit Diagnose«, die sie mit der Einschulung bekommen hat, gehen bereits in allen Fächern in die 3a, »die große Klasse«. Das Wort normale Klasse wird vermieden.
Zum Beispiel Christa und ihre Zwillingsschwester, Kinder einer schwer depressiven Mutter. Sie kamen mit der Diagnose in die Schule, dass sie vielleicht beim Lernen nie richtig mithalten werden. Christa ist zudem stark gehbehindert. »Hätte sie das Laufen so gelernt, wie Schüler in der alten Schule unterrichtet wurden, immer nur nach richtig oder falsch«, bemerkt Eija, »dann könnte sie bestimmt nicht laufen«. Aber so wie sie läuft, schwankend und doch sicher, hat sie ihre ganz eigene Weise gefunden. Eija summt Frank Sinatras »My Way«.
Nebenbei: Oft hört man in Finnland Lehrer oder Eltern von der »alten Schule« sprechen. In den Schulen wirkt nicht nur eine geheimnisvolle finnische Mentalität. Diese Schule, die sich seit 30 Jahren entwickelt, wird selbstwirksam. Weiter mit Christa. Sie kommt nur noch montags die erste Stunde in die »kleine Klasse«, um aus ihrem Tagebuch vorzulesen. »Sie liest wie eine Schauspielerin«, schwärmt die Lehrerin. Man kann sich davon überzeugen. Fehlerlos und voller Zwischentöne. In der 3a liest sie inzwischen am Besten. »Sie muss unbedingt Schauspielerin werden.« Selten sah man eine Lehrerin so begeistert.
Hört sich fast wie ein Märchen an. Tatsache aber ist, dass in Finnland die meisten Kinder »mit Diagnose« in der dritten Klasse am Regelunterricht teilnehmen, während der Anteil deutscher Kinder in Sonderschulen auf die Fünf-Prozent-Marke zuläuft, eine in der Welt einmalige Quote. Viele finnische Kommunen haben die Sonderschulen aufgelöst. Aber es gibt in jeder Schule Sonderpädagogen, Schulkurator (eine Art Sozialarbeiter, der sich um Schüler mit Schwierigkeiten und ihre Familien kümmert), Schullaufbahnberater, Schulpsychologen und eine Schulkrankenschwester, die nicht nur Pflästerchen aufklebt, sondern für Kinder mit Liebeskummer, Kopf- oder Bauchschmerzen ein Art Libero in der Schulmannschaft ist. Über Schüler, die Sorgen bereiten, wird bei einer Konferenz, die sich einmal die Woche beim Schuldirektor trifft, mit dem jeweiligen Klassenlehrer gesprochen. Man fragt nicht, wer hat Schuld, man überlegt, was können wir tun?

Zusatzunterricht

Eigene Kuratoren und Schulpsychologen haben nur große Schulen. In Helsinki gibt es insgesamt 44 Schulpsychogen und 47 Kuratoren. Im Berliner Bezirk Tiergarten, der etwa so viel Einwohner wie Helsinki hat, gibt es drei Schulpsychologen, die in ihren Büros die Wartelisten abarbeiten.
Wenn die kleinen Starterklassen für Kinder mit Diagnose, wie die von Eija, aufgelöst sind, bekommen viele Schüler weiter Zusatzunterricht, in kleinen Gruppen oder einzeln. Pädagogisches Schlaraffenland? Keineswegs. Die Sache rechnet sich. Finalland kennt keine Sitzenbleiber mehr, außer wenn ein Kind lange krank war. In Deutschland weist Pisa bei 38 Prozent der Schüler verzögerte Schulkarrieren aus. Das kostet Milliarden.

Das Erfolgsgeheimnis

Der Anfang ist bei den Finnen das Entscheidende. Kinder mit Schwierigkeiten, und von denen gibt es auch beim Pisa-Sieger, wie Lehrer berichten, immer mehr, sollen möglichst früh Anschluss finden. Aus der großen Aufmerksamkeit für den Anfang ergibt sich das zweite Erfolgsgeheimnis: die Individualisierung. Jedes Kind ist anders, lernt anders, hat andere Fehler. Aber nicht zuletzt aus Fehlern entstehen Potentiale. Interessant ist: Was als Umgang mit beeinträchtigten Kinder begann, wird langsam zum Prinzip für das ganze System. Ein großes Thema in Finnland heißt heute Individualisierung. Aber damit, so hört man überall, »stehen wir doch noch ganz am Anfang.« Das dritte durchaus offensichtliche finnische Geheimnis ist, dass mit der Individualisierung auch die Gemeinschaft wichtiger wird. Eija Reinikainen spricht von Liebe und immer wieder von Hyvinvointi, ein kaum übersetzbares Wort, das Geborgenheit, Zugehörigkeit und Wohlfühlen umfasst.

P. S.

Eija soll übrigens in zwei Jahren pensioniert werden. Sie hat bereits mit dem Schulleiter ein Abkommen geschlossen, dass sie als Honorarkraft weiter machen kann.

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de