Wolfgang Edelstein wird 75; SZ

Wurzeln und Flügel

Der MPI-Bildungsforscher Wolfgang Edelstein wird 75


Sein Leben nennt er das eines Nomaden. 1938 emigrierte die jüdische Familie von Freiburg nach Island. Da war Wolfgang Edelstein neun Jahre alt. In der deutschen Grundschule wurde der ¸¸Jud“ vom Lehrer Kiefer geprügelt und gedemütigt. Aber er hatte auch seinen Lehrer Löhlein, der war freundlich und bot die Resonanz, ohne die keine Bildung gelingt. So erlebte Edelstein schon als Kind, wofür er später als einer der Direktoren des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Begriffe fand: Inklusion und Exklusion. Werden Schüler in der Schule willkommen geheißen oder werden sie wie blinde Passagiere behandelt? Ambivalenz ist immer noch ein Potential, mit dem er Leiden in Leidenschaft verwandelt. Der Emeritus, der am 15. Juni seinen 75 Geburtstag feiert, wirkt jugendlich. Einer, der noch etwas vor hat.


Cohn-Bendits Lehrer


Aus dem Land der Selektion vertrieben, lernte Wolfgang Edelstein in Island eine Gesellschaft kennen, die Kindern und Jugendlichen verspricht: Jeder gehört dazu, jeder ist ganz gut und alle werden gebraucht. Zum Studium der Linguistik, Philosophie und diverser Sprachen ging der deutsche Jude mit isländischem Pass 1949 nach Grenoble und später nach Paris. Dann holte ihn ein Freund als Lehrer an das Internat Odenwaldschule. An dieser legendären ersten deutschen Gesamtschule wurde Edelstein Studienleiter. Die Konferenz schickte Kollegen zu Recherchen ins Ausland oder zum Weiterstudium an die Uni. Deren Arbeit übernahmen die anderen. ¸¸Die Schule hat einen Daniel Cohn-Bendit zu Daniel Cohn-Bendit gemacht,“ erinnert sich dessen Lehrer Wolfgang Edelstein. Nebenher promovierte er in Heidelberg in mittellateinischer Philologie.


Anfang der sechziger Jahre traf er den in Bildungssachen engagierten Rechtsanwalt und polyglotten Menschensammler Hellmut Becker. Als der Senat der Max-Planck Gesellschaft einem Institut für Bildungsforschung grünes Licht gab, schrieben Edelstein und Alexander Kluge, damals Mitarbeiter in der Kanzlei von Hellmut Becker, in einer Nacht dafür das Konzept. Hellmut Becker wurde Gründungsdirektor, Wolfgang Edelstein der erste wissenschaftliche Mitarbeiter und später selbst Direktor.


In diesem Institut lernte der Isländer, die Staatsangehörigkeit hatte er behalten, erst mal Schulen und Hochschulen anderer Länder kennen. Er studierte die kognitive Psychologie und las Jean Piaget, wurde Gastprofessor in Harvard und leitete in Berlin zeitweilig das Institut. Nebenher war er 18 Jahre lang Chief Scientific Adviser des Bildungsministers in Island und organisierte dort die Schulreform. Eine Schule, die Kinder nicht frühzeitig sortiert. Edelstein konnte nun begründen, was ihn seine Vita lehrte: Anerkennung ist eine Produktivkraft. Die Sicherheit ungetrübter Zugehörigkeit unterstützt das Wagnis, sich ins Neuland zu wagen. Die Androhung von Ausschluss und Versagen hingegen schwächt und macht neurotisch.


Immer noch treibt ihn diese Frage: ¸¸Was führt zur Bereitschaft, sich zu engagieren? Wie kommt Self-efficacy auf?“ Das ist Edelsteins wichtigster Begriff seit Jahren. Selbstwirksamkeit heißt die etwas umständlich klingende Übersetzung. Sie setzt sich langsam durch.


Sinn und Begeisterung


Sollte er ein Motto für sein Leben finden, plädiert er für ¸¸Sinn und Flow.“ Dass deutsche Schulen mit Sinn und Begeisterung immer noch geizen, musste der spät berufene Vater bei seinen beiden Kindern erleben, die nun glücklich mit dem Abitur die Schultortur hinter sich haben. Dabei sollte Lernen doch eine Vorlust auf sich selbst sein. Doch deutsche Lehrer, erfuhr der Wissenschafter täglich beim Abendbrot, ¸¸haben ein Rezeptwissen, das sie von den Feldwebeln Friedrichs des Großen kaum unterscheidet.“


Täglich eilt der Rastlose an seinen Schreibtisch im Institut. Sein aktuelles Projekt heißt ¸¸Demokratie lernen und leben.“ 13 Millionen Euro stellen Bund und Länder bereit, um den Schulen Leben einzuhauchen: Theateraufführungen, Schülerfirmen, Schulradios und Forschungsvorhaben von Schülern, auch Kooperation mit außerschulischen Fachleuten. Schulen sollten Orte sein, an dem die Kinder mit ‚Wurzeln und Flügeln‘ (Goethe) ausgestattet werden.


Nirgendwo wurde der Emigrant und Remigrant Edelstein ganz heimisch. Das bekommt den Tugenden eines Wissenschaftlers: Beobachtungsfähigkeit und Kontingenzbewusstsein, also nicht endendes Staunen und die Gewissheit, alles könnte auch etwas anders sein. Reinhard Kahl


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.134, Montag, den 14. Juni 2004 , Seite 9