SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Eckpunkt – Manuskriptdienst
Die Freude am Unterschied
Alfred Hinz und die Erfolgsgeheimnisse eines Schulleiters
Autor: Reinhard Kahl
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Hans-Peter Schnicke
Sendung Samstag 4.12.2004:, 10.05 Uhr, SWR 2
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manuskript
Zitatorin:
Wenn Du merkst, dass Du auf einem toten Pferd sitzt, dann steig ab.
Sprecher:
Mit dieser Weisheit der Dakota Indianer beginnt Alfred Hinz häufig seine Vorträge – und vor Einladungen zu Vorträgen kann sich der Leiter der Bodenseeschule kaum noch retten. Seine Schule ist ein Beispiel dafür, dass auch in Deutschland Schulen gelingen können. Die Stimmung ist gut. Lernen macht überwiegend Freude. Und die Leistungen sind sogar sehr gut. Aber Schulleiter Alfred Hinz denkt nicht dauernd an Leistung, Leistung und immer nur Leistung.
Cut 1 (Hinz):
Schule ist Stätte der Personenwerdung, Wissensvermittlung kann sie gar nicht verhindern. Wir haben keine Fächer mehr. Wir haben die Fächer abgeschafft. Kinder müssen komplexe Sachen bekommen und nicht detailliertes Wissen. Die Beziehung unter den Dingen herstellen bedeutet, Erkenntnisse vermitteln.
Sprecher:
Alfred Hinz spricht vor Eltern, die ihre Kinder an der Bodenseeschule anmelden wollen. Der Andrang ist groß. Die Grundschule ist die beliebteste weit und breit. Neben der Grundschule leitet Hinz auch die dazu gehörige Haupt- und die Werkrealschule.
Cut 2 (Hinz):
Wir werden sehen, wie den Kindern die Vernetzung gut tut. Sie wird Ihnen gut tun. Sie werden neidisch werden auf ihre Kinder, Sie werden jammern, dass Sie nicht selbst unsere Schule besuchen dürfen und das gefällt mir eigentlich dann sehr gut.
(Atmo)
Sprecher:
Keine Fächer. Vernetzter Unterricht. Außerdem: „Freie Stillarbeit“. Das sind gewöhnungsbedürftige Wörter. Aber die Eltern verstehen schnell, dass diese Art Schule mit ihrer Arbeitswelt viel mehr zu tun hat als die vertrauten Raster von Fächern und Lehrplan. Die Bodensee Schule vernetzt Fächer zu Handlungsfeldern – fast so wie im richtigen Leben.
Wir haben den Tag sehr sauber strukturiert. Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Wir haben uns von diesem elenden 45-Minuten-Raster völlig gelöst. Das kann man natürlich in einer Ganztagesschule viel leichter als in einer Halbtagsschule. Wir haben keine Glocke mehr, gar nichts.
Sprecher:
Alfred Hinz, wie gesagt, ist der Schulleiter. Wenn er im Sommer 2005 pensioniert wird, will er so richtig ausschwirren. Dann kann er die vielen Vortragseinladungen annehmen, die er jetzt noch absagen muss. Eigentlich möchte er allerdings noch gar nicht pensioniert werden. Es gibt auch, was seine Tatkraft und den wachen Geist betrifft, überhaupt keinen Grund dazu. Aber so ist es, das Beamtengesetz. Fast immer schematisch und einschränkend. Alfred Hinz allerdings ist keiner, der sich von einem Korsett einschnüren lässt.
Cut 4 (Hinz):
Ich bin ein alter Hauptschullehrer und war sehr unzufrieden mit meinem Unterricht, als ich gesehen habe, was bei der Mühe, die ich mir gegeben habe, dann herauskam. Übrigens, mit Hauptschulleuten kann man am meisten über Schulreformen reden und streiten und die machen auch mit – wobei ich anderen Menschen nicht zu nahe treten will – aber da sind die richtigen pädagogischen Cowboys dabei. Wir haben dann gesagt: so kann es nicht weitergehen. Was müsste man ändern? Und wir haben Gott sei Dank nicht geglaubt, wir müssten das Rad neu erfinden, sondern ich bin dann wirklich durch alle die Reformschulen gegangen, die es wirklich wert sind, dass man sie anschaut, ich habe die Leute besucht und durch menschliche Kontakte habe ich erkannt, was wir tun müssen.
Sprecher:
Die Bodensee Schule wurde 1971 gegründet. Die Gründung ging von Eltern aus. Man spricht immer noch von den Gründungseltern. An dieser Schule wurde der sogenannte „Marchtaler Plan“ entscheidend mit entwickelt. Alfred Hinz gilt als treibende Kraft und Ideengeber dieses reformpädagogischen Konzepts, nach dem bereits mehr als 20 Schulen in Südwestdeutschland arbeiten.
Die Bodenseeschule, ihre pädagogisches Konzept, der Marchtaler Plan und auch Alfred Hinz selbst sind katholisch. Manch einer stutzt nun und fragt…
Zitatorin:
…und trotzdem so progressiv?
Sprecher:
Andere fragen zurück: Warum sagen Sie „trotzdem“?
Egal ob die Beobachter trotzdem sagen oder es mit weil versuchen – sie staunen über die Bodensee Schule St. Martin, so der vollständige Name dieser katholischen Schule in Friedrichshafen.
Wer die Schule betritt, spürt sofort: Das hier ist eine ganz andere Schule. Aber was ist anders?
Gehen wir zuerst in die Grundschule. Vielleicht in Klasse eins? Das geht nicht, denn die wurde abgeschafft. Dafür gibt es „Familienklassen“ mit Kindern aus den Jahrgängen eins, zwei und drei. Die Kinder sitzen in der Klasse an Tischen oder am Boden, manche kauern auf dem Teppich im Flur. Dazwischen ist viel Bewegung. Auffällig ruhige Bewegung. Nichts von dem Chaos, das häufig befürchtet wird, wenn in der Schule nicht alles durchorganisiert ist. Wer nicht gerade unterwegs ist, um sich Material aus den gefüllten Regalen zu holen, den Lehrer zu fragen oder einen anderen Schüler zu suchen, der helfen könnte, der arbeitet an etwas, zählt, liest, liest vor – oder er sinniert ein wenig. Die meisten Kinder sind in Grüppchen.
Cut 5 (Schülerin):
Dann können die Älteren den Jüngeren oft helfen. Ich bin in der Zweiten, sie ist in der Dritten, jetzt kann sie mir das ein bisschen zeigen. (Atmo)
Sprecher:
Wie sich die Kinder gegenseitig helfen, führt in dieser Klasse zu einer – man möchte sagen – wunderbaren Zeit- und Lehrervermehrung.
Cut 6 (Bucher):
Die Kinder lernen von den Kindern manchmal sogar besser als von mir. Die sind unbefangener und haben manchmal noch einen direkteren Bezug und lassen sich von Gleichaltrigen auch mehr sagen. Ich denke, das ist ein ganz großer Vorteil.
Sprecher:
Michael Bucher, der Lehrer, hat – so scheint es – die Übersicht und ist für die Kinder ansprechbar.
Eine Grundidee dieser Schule heißt Individualisierung und Gemeinschaft. Die Individualisierung soll der Einzeigartigkeit eines jeden Kindes Rechnung tragen. Und je mehr die Kinder als Individuen wahrgenommen werden, um so deutlicher wird, dass sie aufeinander angewiesen sind, also Gemeinschaft brauchen. Individualisierung heißt nicht Vereinzelung. Und Gemeinschaft bedeutet nicht die Herrschaft des Gleichschritts. Individualisierung und Gemeinschaft sind Pole. Sie erzeugen starke Kraftfelder.
Cut 7 (Hinz):
Die Grundstruktur ist aber, dass wir kapiert haben, dass die Kinder einmalig sind, dass jedes Kind für sich einmalig ist. Da kann ich doch nicht morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen und sagen „Jetzt lernt euch”, würde man im Ruhrgebiet sagen, lernt euch, sondern da muss ich fragen: Was passiert jetzt mit der kleinen Annika da hinten, die ich vielleicht gestern in dem und dem Zustand zurückgelassen habe? Was habe ich mir heute überlegt?
Sprecher:
Jedes Kind als ein Individuum zu sehen, bedeutet natürlich auch, dafür zu sorgen, dass es beim Lernen genau da anknüpfen kann, wo es tatsächlich steht. Und jedes Kind steht woanders. Manche können schon bei der Einschulung lesen. Andere werden vielleicht zwei Jahre dafür brauchen.
Kann die übliche Pädagogik, die sagt „Wir müssen die Kinder erst mal auf den gleichen Stand bringen“, nicht leicht dazu führen, dass sich die einen bald langweilen, bei anderen der Faden reißt und mancher irgendwann nicht mehr mitkommt? Individualisierung ist also etwas sehr praktisches.
Jeden Morgen haben die Kinder in der Familienklasse in den beiden ersten Stunden Freiarbeit. Da staunen manche Besucher. So viel Verschiedenheit? Kinder unterschiedlichen Alters, und jedes Kind macht etwas anderes?
Den Besuchern wird klar: Sie glauben an die homogene Gruppe, das Ideal der deutschen Schule. Gleichaltrige Schüler und ein Lehrplan, der für alle den gleichen Unterricht vorsieht. Das Ziel ist dann die – so sagt man – „begabungsgerechte“ Schule mit einer möglichst homogen Schülerschaft. Die folgt ja auf die Grundschule, als Hauptschule, Realschule und Gymnasium und – das vergisst man leicht – als Sonderschule für fast 5 % der Kinder. Dieser hohe Anteil ist übrigens einmalig auf der Welt.
An der Bodenseeschule hingegen glaubt man nicht mehr an den Vorteil dieser Homogenität, sondern an den großen Vorteil, ja das Glück verschieden zu sein.
Michael Bucher, der Klassenlehrer in der Familienklasse, scheint Heterogenität regelrecht zu lieben:
Cut 8 (Bucher):
Je homogener eine Gruppe ist, desto eingeschränkter sind die Beziehungsmöglichkeiten, und je heterogener so eine Gruppe ist, gerade mit verschiedenen Jahrgängen, ergeben sich einfach viel mehr Möglichkeiten, Beziehungen aufzubauen, Beziehungen zu pflegen, und für Kinder ergibt sich ebenfalls die Möglichkeit, in Beziehungen hineinzuwachsen. Wenn die Einser, also die Erstklässler kommen, dann sind sie meistens noch ziemlich erschrocken und kommen ganz schüchtern rein, aber sie müssen gar nicht vorne dran stehen, dazu sind die Zweier und Dreier schon da, die sie an die Hand nehmen, die sie vom Bus abholen, die sie zum Bus bringen. Den Zweiern, das merkt man dann, gibt es einen richtigen Schub, wenn sie nicht mehr die Kleinen sind, sondern die Einser dazukommen, und die Dreier wachsen sowieso um zehn Zentimeter innerhalb der ersten Schulwoche, weil sie dann merken: ich bin der Große. So können sie in Verantwortung reinwachsen und Verantwortung auch richtig wahrnehmen. (Atmo)
Regie: Atmo Gitarre / Gesang
Sprecher:
Nach der Freiarbeit holt Michael Bucher die Gitarre aus der Ecke.
Danach geht es weiter mit dem sogenannten „vernetzten Unterricht“. Der Lehrer legt eine CD mit der Alpensymphonie von Richard Strauss ein.
Regie:
Atmo / Musik Alpensymphonie und Unterricht
Sprecher:
Mit dieser Musik beginnt ein Projekt im vernetzten Unterricht. Thema: Das Wasser.
Regie:
Aus der Atmo Unterrichtsgespräch bzw. O-Ton Lehrer:
„Wie war´s denn? Der heißt Richard Strauss. Bei den ersten Sachen, die er komponiert hat, da sah er ungefähr so aus ….“
Regie:
Atmo Unterrichtsgespräch, Fortsetzung:
…und da hat er ein Stück über einen Wanderer komponiert, der morgens ganz früh aufsteht….
Sprecher:
Von der Stimmung an der Bodenseeschule sind Besucher sofort angetan. Es herrscht eine einladende, arbeitsame und freundliche Atmosphäre. Und: Es herrscht Respekt. Und zwar gegenseitiger Respekt von Lehrern und Schülern, oder sagen wir besser: zwischen Erwachsenen und Kindern. Zum Respekt kommt die Neugier, die sich erst mal auf die anderen Menschen richtet und dann auch auf die Sachen. Im Raum steht gewissermaßen die Frage: Wer bist Du? Und die Überzeugung: Jeder ist anders; jeder ist auf andere Weise interessant und auch liebenswert, wenn auch nicht sofort und wohl auch nicht jederzeit.
Dieses Fluidum, verschieden sein zu dürfen – wie kommt das zustande? Und wie wird das häufig befürchtete Chaos vermieden, wenn man diese Verschiedenheit nicht nur zulässt, sondern regelrecht fördert?
Die Antwort des Schulleiters Alfred Hinz: Sich Zeit lassen und den Kindern Zeit geben. Dabei bezieht er sich auf die italienische Pädagogin und Ärztin Maria Montessori:
Cut 9 (Hinz):
Diese freie Stillarbeit, die die Kinder ausgiebig machen, nicht nur eine Stunde pro forma, sondern richtig zwei bis drei Stunden täglich. Montessori sagt: eine große Arbeit eines Kindes benötigt 60 Zeitminuten. Da können sie übrigens die Uhr nach stellen. Wenn ein Kind es schafft, polarisiert zu arbeiten. Polarisiert heißt: Ich habe mir jetzt ein Thema ausgesucht, z.B., ich will jetzt Brüche gleichnamig machen, ich, Ute, will jetzt Brüche gleichnamig machen, nicht der Lehrer. Polarisiert heißt: ich versenke mich in das Material. Sie können neben dem Kind singen und klatschen; wenn es gelungen ist, lässt es sich nicht abbringen und es beendet seine Arbeit. Die Beendigung der Arbeit ist fast wichtiger als der Beginn, das vergessen die Pädagogen völlig. Wie lege ich mein Material zurück? Wo sichere ich, in einer sauberen kulturellen Form, mein Ergebnis. Und wenn sie so ein Kind anschauen, ihm ins Gesicht schauen, dann sieht es – ja, es klingt altmodisch, aber: es sieht glücklich aus. Dann haben wir die Fächer im Grunde wirklich abgeschafft. Nur die Zugänge haben wir nicht abgeschafft, und das hilft natürlich epochal dabei, endlich an einem Thema zu arbeiten – das sind uralte pädagogische Überlegungen – vier bis sechs Wochen täglich an einem Stück zu arbeiten. Nur das fällt dann richtig tief in die Seele des Kindes hinein, alles andere kann sich doch gar nicht verwurzeln
Sprecher:
Bei Schulleiter Hinz kommt jedes Gespräch über die Schule bald zu der Frage: Was ist das Kind? Vor allem: Wer ist dieses Kind, diese kleine Annika, dieser Paul?
Cut 10 (Hinz):
Wenn ich einem Kind eine Würde zuspreche – wie muss ich mit einem Menschen umgehen, von dem ich meine, er hätte eine Würde? Und ein Kind will lernen, stellen sie sich das vor, das glaubt kein Lehrer. Aber wenn ich diesen Jugendlichen fragen würde: Willst du dumm bleiben? Da würde der doch nicht sagen: Na klar. Der will lernen. Ich muss also nur sehen, wie ich das schaffe.
Sprecher:
Aber gibt es nicht auch an dieser Schule Probleme mit nachlassender Motivation? Und was macht man mit Schulversagern ?
Cut 11 (Hinz):
Wir haben keine Schulversager. Ich sage das wirklich. Wir nehmen jeden so, wie er ist. Wenn einer schwach begabt ist, dann ist er das. Wissen sie, ich habe immer einen Spiegel unter meinem Schreibtisch und wenn ich mit den Kindern arbeite und einer sagt wieder: Herr Hinz, ich kapiere das nie, ich kann nie die Prozentrechnung lernen, mein Leben lang nicht, dann hole ich den Spiegel raus und da gucken wir rein und sagen: wer bist du? Was kannst du? Wenn ich den jungen Menschen so annehme, dann kann er sogar die minimale Anlage der Mathematik, die noch in ihm schlummert, rausholen, weil er in seiner Würde ernstgenommen wurde.
Sprecher:
Na gut, wird manch einer denken, so kann man es mit Kindern in der Grundschule machen. Aber wie geht es weiter? Am nächsten Morgen besuchen wir eine der Hauptschulklassen der Bodenseeschule. Es ist noch nicht 8 Uhr. Die meisten Schüler sind schon da. Sie begrüßen ihren Lehrer mit Handschlag, holen sich ihr Material und beginnen zu arbeiten, ohne Kommando oder Klingelzeichen – einfach so, als ginge es um sie selbst! Dabei sind wir in einer siebten Klasse, die Schüler in der Pubertät. Aber vom täglichen Kleinkrieg oder dem „pädagogischen Lazarett Hauptschule“ ist hier nichts zu spüren. Klassenlehrer Franz Gresser:
Cut 12 (Gresser):
Die Ruhe in der Schule kommt einfach daher, dass jeder weiß, er macht das Richtige für sich, d.h. er ist zufrieden mit dem, was er macht und er weiß, dass ich mich um ihn kümmere. Er kann ganz sicher sein, er weiß, wenn er den Strecker hoch streckt, dann komme ich zu ihm, dann weiß er ganz sicher, dass ich komme, er muss kein Jahr oder keine zehn Jahre warten, wie manche Kinder. Ich komme dann spätestens nach fünf Minuten und dann können wir uns um das Problem kümmern; das Problem ist dann auch meistens beseitigt und dann kann er wieder ganz zufrieden weiterarbeiten.
Sprecher:
Die Schule bietet eine – wie man hier sagt – vorbereitete Umgebung: den Raum, die Zeit und vor allem die Gelassenheit zum Lernen. Sie schafft viele Gelegenheiten. Sie riskiert das eigentlich Selbstverständliche: Lernen ist eine Aktivität der Schüler. Lernen ist eine Strategie, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Dazu ermutigen die Lehrer. Dahin zieht – oder erzieht – die gesamte Organisation des Alltags.
Cut 13 (Schüler):
Jeden Tag wäre es gut, wenn wir Deutsch und Mathematik machen würden, und ich habe jetzt schon ein bisschen Mathematik gemacht, und jetzt mache ich halt auch noch Deutsch. // Wir müssen eigentlich nicht so das machen, was der Lehrer sagt, wir machen ja die Karten und so weit, wie wir kommen.
Sprecher:
Das pädagogische Konzept führt zum Erfolg.
Wir haben in Baden-Württemberg in der neunten und zehnten Klasse zentral von Stuttgart gestellte Arbeiten, vom Kultusministerium, das ist ja auch ein Gradmesser, und die schaffen wir mit einer Hand. Ich sage das so lapidar, trotz oder vielleicht gerade wegen der freien Arbeit. Ich bin davon überzeugt, dass das eigentlich der Beweis ist, dass Schule sich ändern muss, weil wir auch bessere Schulleistungen im alten Sinne abliefern, ganz einfach.
Sprecher:
Nicht weit von Friedrichshafen, hinter den Bodenseehügeln, residiert Deutschlands feinste Schule im Schloss Salem. Der Leiter der Schulen Schloss Salem, Bernhard Bueb, gesteht, ein Fan der Bodenseeschule zu sein.
Cut 15 (Bueb):
Was ich an der Bodenseeschule erlebt habe, war Begeisterung von Kindern, Arbeitshaltung, Konzentration, alles Eigenschaften, die selten sind in der Schule. Wir blicken mit Bewunderung auf die Bodenseeschule.
Die Bodenseeschule ist Ganztagsschule. Arbeitsgemeinschaften etwa in Elektrotechnik, im Holzwerken oder in der Druckerei gibt es schon am späten Vormittag. Und am Nachmittag steht dann wieder Unterricht auf dem Plan. Der Tag wird rhythmisiert. Wir gehen wieder in die 7. Hauptschulklasse mit. Dort gibt es jetzt ein Projekt im vernetzen Unterricht. Geschichte, Naturwissenschaft, auch Deutsch. Thema ist das Mittelalter.
Cut 16 (Atmo und O-Ton):
Junge: Also wir vier haben das Referat Essen und Kochen im Mittelalter gemacht Wir haben dazu auch was gekocht, so ein alltägliches Essen von so ziemlich jedem.
Mädchen: Da gab es meistens Gemüsesuppe oder Haferschleim zum Essen.
Sprecher:
Auch Schulleiter Alfred Hinz ist vorbei gekommen. Er löffelt seine Gemüsesuppe und schwärmt vom Brot, das die Schüler gebacken haben.
Cut 17 (Hinz / Interviewer):
Also Leistung so zu präsentieren halte ich für eine hohe Kultur der Schule. Und das wiederum kann man natürlich auch am Nachmittag besser als morgens, denn die morgendlichen Stunden braucht man einfach für die Freiarbeit, die kognitiven Leistungen. Und am Nachmittag ist das natürlich auch ein Teil davon, aber so was Erlebnisorientiertes….Ich sage immer wieder, es muss eine Balance sein zwischen kognitiver Leistung, emotionaler Leistung und sozialer Leistung. Es ist 14.45. Und die Kinder sind so frisch. Es gibt ja noch eine zweite Leistungskurve nach 14 Uhr. Also man kann auch jetzt kognitiv etwas abrufen. Aber wenn das natürlich mit dem Erleben verbunden ist – also besser kann ich es mir nicht vorstellen.
Sprecher:
Um 15.40 Uhr geht auch die Bodenseeschule zu Ende. Fast 8 Stunden Schule – ist das vielleicht nicht doch etwas viel? Was wäre, fragen wir Kinder, die gerade von der Zirkus AG kommen, wenn die Schule am Nachmittag gestrichen würde? Wäre das nicht eigentlich ganz schön?
Cut 18 (Schülerinnen):
Das wäre traurig. Das fände ich schade. Ich habe Zirkus und Schwimmen. // Ich habe Zirkus und Hörspiele. // Also wenn man sich eine FG ausgesucht hat, die Spaß macht, ist es schön, aber wenn man sich eine FG ausgesucht hat, die keinen Spaß macht, dann geht der Nachmittag ganz lange, aber wenn es Spaß macht, dann dauert es nur wie eine Minute oder so.
Sprecher:
Man fragt sich: Wenn Schule so sein kann wie die von Alfred Hinz inspirierte Bodenseeschule, wenn die Besuchswünsche schon Wartelisten füllen und so viele Gäste begeistert sind – warum machen andere nicht längst nach? Hängt es vielleicht doch mehr als man denkt von der Persönlichkeit des Schulleiters ab? Was hindert die anderen Schulen?
Cut 19 (Hinz):
Wir kriegen Besuch aus ganz Europa und alle sind immer ganz begeistert und loben uns und das brauchen wir auch. Wir sind ja auch Menschen. Dann gehen sie heim und dann denke ich oft: warum macht ihr das nicht auch, warum fangt ihr nicht einfach an? Da muss es eine Urangst in den Menschen geben. Vielleicht, weil sie Macht verlieren. Ich glaube, das ist es. Machtverlust ist für den normalen Lehrer tödlich. Irgendwo hat der Macht. Vielleicht ist das rudimentär in uns drin. Aber man muss die Macht abgeben.
Sprecher:
Oder sollte man Macht vielleicht anders definieren? Etwa so, wie es die Philosophin Hannah Arendt versucht hat als sie schrieb:
Zitatorin:
Macht kommt von Mögen.
Sprecher:
Damit meinte sie, dass Macht entsteht, wenn Menschen zusammen etwas wollen. Zu diesem Zusammen-Wollen gehört eine Vorstellung vom gelungenen Leben. Leben – nicht bloß Überleben.
Die Pädagogik des Alfed Hinz verzichtet nicht aufs risikoreiche Leben zugunsten eines vermeintlichen „sicheren“ Funktionierens. Seine Schule zeigt, dass in einer lebendigen Schule das Funktionieren gar kein Problem ist.
Voraussetzung ist aber, dass die Schule nicht neutral sein will. Und man gerät hier ins Nachdenken: Kann Pädagogik überhaupt neutral sein? Wurde Schule vielleicht zu weit in ein Feld verschoben, auf dem nur Inhalte gelernt werden sollen, und wo nicht erzogen wird, wo man Werte eher als Privatmeinung zurück hält?
Sollten wir „Erziehung“ nicht so verstehen wie in der Bodensee Schule: Die Kinder in eine Welt der Erwachsenen hinein ziehen, in eine Welt, die die Erwachsenen für richtig halten und für die sie einstehen?
Alfred Hinz sagt, dass er für seine Ideen Zeugnis ablegen will. Er scheut solche Worte vor dem Mikrophon. Aber Alfred Hinz legt tatsächlich dieses Zeugnis ab: Es kommt auf die Personen an. Zumal auf die des Schulleiters. Beziehungen sind das wichtigste Geflecht, das Wurzelgeflecht der Schule.
Auch die kognitive Psychologie erkennt, wie sehr Leistungen vom Lernmilieu abhängen. Werden die Schüler als Individuen geachtet, oder werden sie argwöhnisch beobachtet, als gelte es, die blinden Passagiere zu finden und von Bord zu weisen?
Cut 20 (Hinz)
Die Schule, die wir machen, die ist mühsam, aber sie ist unglaublich erfolgreich und dadurch für Lehrer gleichzeitig sehr erholsam. Es scheint ja schizophren zu sein; was kann mühsam und gleichzeitig erholsam sein. Wir wissen, das gibt es ja im menschlichen Leben sehr häufig. Wenn man sich angestrengt hat, ist man nachher sehr befriedigt und wenn das nicht dabei herauskäme, würden wir das nicht schaffen. Wir machen das jetzt seit zwanzig Jahren, dass wir in dieser klaren Struktur arbeiten, und nach zwanzig Jahren kann ich sagen: das ist keine Alltagsfliege mehr.
Sprecher:
Was ist das Erfolgsgeheimnis des Schulleiters Alfred Hinz? Er antwortet darauf mit dem Hinweis auf das Offensichtliche: Es komme auf die Achtung gegenüber den Kindern an. Solche Worte sind leicht zu glatt. Er macht dann eine Pause. Die Pause ist beredeter als manche Theorie.
Cut 21 (Hinz):
Wenn wir sagen, dieses Kind hat eine Würde und zwar priori, weil es geschaffen ist und es ist ein – wie sagen die Theologen, die sagen immer was tolles, die sagen, das ist ein ”Gedanke Gottes”. Gott sei Dank gibt es auch solche Theologen. Ich kenne nur solche, die anderen nehme ich nicht wahr, und es hilft mir enorm, wenn der sagt – also da stockt mir manchmal der Atem – wenn der sagt: ”Splitter Gottes”. Wie werde ich diesem Splitter gerecht? Das hilft mir immer wieder, auch schwierige Situationen zu überstehen, denn wir haben ja auch ganz normale Kinder, die sich auch mal fehlverhalten, ist doch klar, wie wir Menschen alle. Wie gehe ich jetzt damit um, das ist der entscheidende Punkt an unserer Schule. Wir beschämen das Kind nicht, indem wir es in die Ecke stellen oder auf die Eselbank wie früher. Ich meine, da gibt es ja heute raffiniertere Methoden, da war die Eselbank ja sauber gegenüber diesen ganz fiesen Methoden. Stattdessen sagen wir deutlich, was Sache ist, und dann sagen wir: und jetzt fangen wir neu an. Sehen sie, und daher kriegen wir die Kraft.
Sprecher:
Seine Ideen hat Hinz nie mit Macht durchsetzen müssen. Eher mit Freude. Als ein lebendiges Beispiel dafür, dass man das, was man für richtig hält, einfach tun kann. Eher den Schutt von den Wegen räumen als völlig neue Wege planieren.
Cut 22 (Hinz):
Im Grunde läuft es immer auf die gleiche Sache heraus: wie gehen wir mit Unterschieden um. Das ist bis ins Gymnasium, bis in die Universität doch das Problem und dem kann man doch wirklich nicht mit dem althergebrachten, dem alleinigem Frontalunterricht gerecht werden. Das sieht jede Hausfrau ein. Warum nicht die Pädagogen? Und ich wollte auch nicht nur reden, denn das zieht einen dann so tief runter, weil man immer wieder merkt, was man denn eigentlich geändert hat. Dann muss man einmal den Sprung wagen und wirklich radikal, im Sinne von der Wurzel aus, etwas tun. Man kann nur vom Kind ausgehend alles neu beleben und man belebt sich damit selbst. Ich bin davon überzeugt, dass man sich selbst neu belebt.
Sprecher:
Die an der Bodensee Schule entwickelten Ideen werden von einer Reihe anderer katholischer Schulen praktiziert. Sie nennen sich „Marchtaler Plan-Schulen.“ Der Namen bezieht sich auf das Kloster Marchtal, in dem sich diese Schulen regelmäßig treffen. Mehr als 20 sind es inzwischen.
Zum Schluss drängt sich dann doch noch eine Frage an Alfred Hinz auf. Was sagt denn der Bischof zu all‘ dem?
Cut 23 (Hinz / Interviewer):
Der ist stolz auf uns. Der hat natürlich begriffen, dass wir Religion auch nicht mehr als Fach in fünfundvierzig Minuten haben, das ist ja genauso ein Käse wie Erdkunde in fünfundvierzig Minuten, sondern dass wir vernetzen und Religion ist natürlich das Vernetzungsfach überhaupt. Er hat sofort begriffen: die machen ja hier viel mehr als in den zwei mal fünfundvierzig Minuten. Also auch kirchenpolitisch sehr klug, dass er uns das Dekretum unterschrieben hat. Also, ich als Bischof hätte das auch sofort gemacht. Ich würde noch ganz andere Sachen machen. Was würden sie machen? Ausgehend von unserem Menschenbild müsste man eine Einheitsschule machen. Nicht eine Gesamtschule, wie sie jetzt ist, sondern eine Einheitsschule, und über die müsste man reden. Das wäre die Schule für die Demokraten und die brauchen wir. Das bedeutet ja nicht, dass man die Individualisierung unterlässt. Im Gegenteil, erst mal ist es ein Reichtum, unterschiedliche Intelligenzen, unterschiedliche Anlagen zu haben. Der Umgang mit Heterogenität, das ist das Problem von deutschen Schulen. Von daher müssten alle im Sinne der Würde des Kindes einheitlich behandelt werden. Da sind dann alle, der ganz schwach Begabte wie auch der ganz stark Begabte, gleich wertvoll.