WC Pädagogik
Sieben Milliarden Euro, rechnete Anfang
des Jahres das Institut der deutschen
Wirtschaft vor, gehen im deutschen
Bildungssystem so offensichtlich
durch den Schornstein, dass sich der
Weg des Qualms genau verfolgen lässt.
Mit 3,7 Mrd. Euro schlägt zu Buche,
dass Schüler keinen Schulabschluss erreichen
und oder sitzen bleiben. Durch
diesen Schornstein verpuffen sieben
Prozent aller staatlichen Ausgaben für
die berufliche und allgemeine Bildung.
Außerdem gehen 3,4 Mrd. durch die
Schlote fragwürdiger nachschulischer
Reparaturmaßnamen. Häufig wird
dort nur die Stigmatisierungskerbe vertieft.
Je später die kompensatorischen
Bemühungen, desto wirkungsloser bleiben
sie. Im Berufsvorbereitungsjahr beträgt
die Abbrecherquote 43 Prozent.
Von allen Jugendlichen, die eine berufliche
Schule verlassen, bleibt ein Fünftel
ohne Abschluss. Folgeprobleme und
Folgen der Folgen belasten das ganze
schlecht eingefädelte System. Was
könnte man mit dem Geld alles bewirken,
wenn es nicht spät für Reparaturen
verschwendet, sondern in die frühe Förderung
investiert würde?
Weicher Faktor hat Folgen
Die Studie des Instituts der Arbeitgeber
sieht den Grund für die Effizienzmängel
in der »mangelnden Förderkultur
im deutschen Schulsystem.« Eine bemerkenswerte
Feststellung. Jetzt nimmt
auch die betriebswirtschaftliche Fraktion
die harten Folgen eines weichen
Faktors zur Kenntnis. Man beginnt zu
verstehen, dass das exakt bezifferbare,
ökonomische Problem nicht nach ökonomischen
Parametern gelöst werden
kann. Es wurzelt in der Kultur des Systems.
Aber der Blick auf die Kultur eines Systems
ist voller Tücken. Die Wahrnehmungsmuster
stehen dem Wahrzunehmenden
häufig im Wege, zumal wenn
Beobachter zugleich die Akteure sind.
Ein Beispiel. Am Tag nach der Veröffentlichung
der zitierten Studie sagt der
Vorsitzende des Schulausschusses der
Kultusministerkonferenz, Ministerialdirigent
Klaus Karpen, auf einer Veranstaltung
in der Musikhochschule Lübeck,
es sei doch eigentlich schon lange
klar, dass Sitzenbleiben rein gar nichts
bringe. Nach einem halben Jahr seien
Wiederholer in der Regel wieder auf
dem gleichen niedrigen Stand, dessentwegen
man sie hat durchrasseln lassen.
Ja, das ist bekannt. Dazu braucht man
nicht mal unbedingt Studien. Die Sache
spielt sich ja nicht im Verborgenen ab.
Aber als vor Jahren die GEW vorschlug,
aufs Sitzenbleiben zu verzichten,
kamen ihr wenig Sympathie und viel
Empörung entgegen. Vor allem in der
Provinzpresse und in Leserbriefspalten
hieß es, dann würden Schüler wohl bald
gar nichts mehr lernen, wenn jeder einfach
so mitgenommen würde.
Kollektives Imaginäre
Was nützt es zu wissen, dass Sitzenbleiben
nichts bringt, wenn die andere
Hirnhälfte nach dem Damoklesschwert
verlangt, weil es sich Lernen als Außensteuerung
mit Druck, notfalls mit der
Peitsche vorstellt? Glauben geht eben
über Wissen. Deswegen vermeiden Politiker,
sich mit solchen Grundstimmungen
anzulegen. Aber in den Fundamenten
des kollektiven Imaginären
scheint sich einiges zu verschieben. Das
Wissen und vor allem die Überzeugung,
dass Sitzenbleiben nichts bringt und
dass die frühen Jahre nicht Betreuung,
sondern Bildung verlangen, setzen sich
langsam durch.
Am selben Tag als die Studie des Arbeitgeberinstituts
veröffentlicht wurde,
stellte Rainer Lehmann, Professor für
empirische Erziehungswissenschaft an
der Humboldt Universität, Ergebnisse
seiner Hamburger Untersuchung über
die Leistungen von Oberstufenschülern
vor (LAU 13). Eine Ursache für schlechtes
Abschneiden sah er in einem Unterrichtstil,
den er das »WC-Modell«
nennt. Lernen für Prüfungen. Ich habe
bisher die Bezeichnung Bulimie-Lernen
als treffender vorgezogen. Egal. Man
nähert sich jedenfalls dem Problem, und
das ist die Kultur der Schule.
Befreiendes Lachen
Wie ambivalent die meisten Menschen
auf die überkommenen Rituale der
Schule regieren, macht eine kleine Inszenierung
deutlich, mit der der Psychiater
und Hirnforscher Manfred Spitzer
seine Vorträge gern unterbricht. »Jeder
bekommt jetzt ein DIN-A4-Blatt«, sagt
er ernst, fast drohend. »Schreiben Sie
bitte auf, was Sie von der Mathematik
der Oberstufe können.« Eine Viertelstunde
gibt er dafür. Aber bald erleichtert
sich der Saal mit donnerndem Lachen.
Jeder weiß doch, dass man dafür
keine Viertelstunde braucht. Eine
Streichholzschachtel würde häufig reichen.
Auch das ist keine neue Erkenntnis.
Aber vielleicht sind die Chancen
heute nicht schlecht, dass sich die Kritik
an der geringen Effizienz, die nun
auch die Makroökonomie an der Schule
führt, mit einer pädagogischen Mikroökonomie
verbindet, die zeigt, wie Lernen
geht und wie nicht.
P. S.
»Wir bieten unseren jungen Menschen
zu wenig Freiräume, zu wenig Muße –
Muße zum Nachdenken, zum Probieren.
Auch zum sich Irren. Der ständige
Druck, Arbeit kleinteilig verrichten zu
müssen, ist nicht unbedingt hilfreich.«
Das sagt einer der erfolgreichsten Erfinder
und Unternehmer, Berthold Leibinger.
Schon als Lehrling machte er seine
erste Erfindung und musste später
eine andere Erfindung, die von numerisch
gesteuerten Werkzeugmaschinen,
gegen Chefs durchsetzen, die gleich
wussten, das geht nicht, das wird
nichts, das ist viel zu teuer. Heute macht
Leibinger damit 1,4 Milliarden Umsatz
im Jahr.
P. P. S.
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming:
www.reinhardkahl.de