Stuttgarter Zeitung über die Treibhäuser

Stuttgarter Zeitung

04.12.2004

Seite 38

140 Zeilen

KULT

Ein Ort für Leidenschaft und Genauigkeit

„Treibhäuser der Zukunft“: ein Film über den Sinn der Schule

Alle sollten ihn anschauen: Bildungspolitiker, Lehrer, Eltern, alle, die sich für die Zukunft dessen, was wir Kultur nennen, interessieren. Und alle sollten sich anstecken lassen von der positiven Einstellung, die er zum Thema Lernen vermittelt, von dem Aufbruchsgeist und der Neugier, die er ausstrahlt, von der kritisch-optimistischen Grundhaltung seines Autors und nicht zuletzt von dessen Achtung und Zuneigung für Kinder. „Treibhäuser der Zukunft“ heißt der Film, von dem hier die Rede ist. Gedreht wurde er von Reinhard Kahl, einem Bildungsexperten mit Herz, einem Poeten der Pädagogik und klugen Analytiker der Bedingungen unserer Zeit. Aus mehr als 200 Stunden Material, aufgenommen nicht nur in Skandinavien und Kanada, sondern vor allem auch in Deutschland, hat der Filmemacher und „Zeit“-Autor die Vision einer Schule montiert, wie sie zu wünschen wäre, für Schüler, Eltern und Lehrer, ein Ort für „Seele und Genauigkeit“.

Wie ja zuletzt wieder eine Pisa-Studie ergeben hat, tun sich deutsche Schüler überall dort schwer, wo es gilt, Frageninhalte richtig zu deuten, Lösungsmodelle scheinen häufig nicht lebensnah genug vermittelt zu werden. Deshalb, so Kahls Ansatz, müssen beim Aufbruch in die Wissensgesellschaft die Fundamente ihrer Schule neu gelegt werden. Der Umbau habe längst begonnen, nun gelte es, die Weichen richtig zu stellen.

Doch in welche Richtung? Schule, so zeigt Kahl mit seinen Bildern und Geschichten voll engagierter Lehrer und motivierter Schüler, muss Neugier wecken auf die Welt, muss hungrig machen und nicht satt. Raum und Zeit müssten als dritter und vierter Pädagoge neben Lehrern und Schülern integriert werden – „Investitionen in Räume und ein verschwenderischer Umgang mit Zeit ergeben hohe Renditen“. Das wird durchaus auch in Deutschland schon an einzelnen Schulen mit Erfolg praktiziert, Reinhard Kahl hat bereits existierende Zukunftsmodelle manchmal ganz in der Nähe gefunden, zum Beispiel in Friedrichshafen.

An der dortigen Bodenseeschule, einer freien, vom Land Baden-Württemberg geförderten katholischen Ganztagsschule, herrscht wohl der Geist, den „Treibhäuser der Zukunft“ beschwören will. Er besagt, dass Lernen nicht als Qual, sondern als „Vorfreude der Kinder auf sich selbst“ zu denken sei, dass die natürliche Neugier des Nachwuchses genutzt werden muss, dass Lernen dem Forschen viel verwandter ist als dem herkömmlichen Unterricht nach der traditionellen Osterhasenpädagogik – der Lehrer versteckt das Wissen, und die Schüler sollen es finden. Diese positive Grundeinstellung verhilft viel mehr Heranwachsenden zum Erfolg als an Regelschulen. Kahl zeigt in Friedrichshafen Schüler einer achten Hauptschulklasse, die nach landläufigen Vorstellungen chaotische Randfiguren sein müssten, bei der konzentrierten, selbst gesteuerten Arbeit am Thema Mittelalter – Brotbacken inklusive. Könnte das anderswo nicht auch so gehen?

Dann müssten wohl fest verwurzelte Grundlagen eines längst in die Jahre gekommenen Schulsystems gelockert werden, und vielleicht könnten sich so die Schulen der Realität mit den vielen, schlecht Deutsch sprechenden Migrantenkindern und der wachsenden Zahl im Elternhaus Verwahrloster endlich besser stellen. Anstatt von einer fiktiven Gleichheit aller Lernenden auszugehen, wird an der Bodenseeschule zum Beispiel Individualität in Arbeitstempo und Begabung in einem sozial verträglichen Rahmen berücksichtigt – Selbstständigkeit und Zusammenarbeit, so der Autor, der im Gespräch namhafte Experten wie Hartmut von Hentig und den Hirnforscher Manfred Spitzer zu Wort kommen lässt, „sind das Yin und Yang der neuen Schule“.

Deutlich fällt auch sein Plädoyer für die Ganztagsschule aus, mit der richtigen Mischung aus Konzentration und Entspannung, aus kognitiver, emotionaler, handwerklicher, sinnlicher Beschäftigung, für die Schule als Ort der Kultur und der Gemeinschaft. Die Lehrer als Gastgeber, die Schüler als interessierte, begeisterte Erforscher der eigenen Möglichkeiten – Kahls Geschichten aus Friedrichshafen, von der Max-Brauer-Schule in Hamburg oder der Jena-Plan-Schule machen Lust auf Lehren und Lernen, und brechen mit der muffigen deutschen Tradition, die Schule häufig nur als „Ernst des Lebens“ zu begreifen vermag und nicht als Stätte, an der Leben in den verschiedensten Formen erlebt und erlernt wird.

Schule kann ein Ort der Rituale und der schönen Form sein, ein Ort, wo Lehrer, Schüler, Eltern sich wohl fühlen, wo mehr Kinder zu besseren Leistungen kommen, in der Spitze und in der Breite – das ist die ganz konkrete Utopie, die Kahl verbreiten will und als Gebot der Zeit betrachten lässt. „Diese Schüler werden nicht wie ihre Eltern Vorgegebenes nachspielen können“, philosophiert Reinhard Kahl, während er eine hoch motivierte Klasse beim Musikmachen zeigt. „Sie müssen ihre eigene Melodie finden, ihren Rhythmus.“ Schule als „Ort für Leidenschaften und für Exzellenz“ muss ihnen dabei helfen, ihren Weg in einer ungewissen Zukunft zu finden, sie darf nicht Angst machen, sondern Mut – so wie Reinhard Kahls der Zukunft zugewandte Hommage an die Schönheit der Bildung im ganzheitlichen Sinn – die nicht weniger und nicht mehr ist als die wichtigste Investition in unser aller Zukunft.

[] Reinhard Kahl diskutiert am 16. Dezember im Stuttgarter Literaturhaus mit Andreas Schleicher über das Thema „Pisa – Schafft Deutschland den Anschluss?“ Der Film „Treibhäuser der Zukunft“ kann als VHS-Kassette gegen 15 Euro bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, Tempelhofer Ufer 11, 10963 Berlin, bezogen werden. Als DVD vertreibt ihn der Beltz Verlag, Frankfurt.

Von Ulrike Frenkel

 


Die Lehrer als Gastgeber

 


Vorfreude der Kinder auf sich selbst

 


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