Porträt Bernhard Bueb DIE WELT 25. 9. 2006

Bildung

Ein Pädagoge, der Disziplin lobt und für Strafen plädiert

31 Jahre hat Bernhard Bueb die Schule Schloss Salem geleitet. Im Sommer 2005 ist der jetzt 67-Jährige ausgeschieden. Sein Plan: andere Schulen beraten und endlich schreiben. Bueb will keinen großen Wirbel, aber den hat er nun. Denn er hat ein Tabu gebrochen: Er plädiert für Erziehung. Was ist das für ein Mann?

Von Reinhard Kahl

Er wirkt selbst so, wie er andere erzogen haben möchte. Zurückhaltend, entschlossen und humorvoll. Aristokratisch; eher englisch als deutsch. Würde für eine Fernsehserie der Leiter eines Edelinternats gesucht, dann müsste die Besetzung ungefähr so aussehen wie Bernhard Bueb aus Überlingen am Bodensee.

„Der Bildungsnotstand in Deutschland ist eine Folge des Erziehungsnotstandes“, schreibt er und bestreitet, dass es ein Maßstab für Demokratie sei, mit Kindern stundenlang darüber zu diskutieren, ob der Papierkorb sofort geleert wird oder vielleicht doch erst übermorgen. Sein Buch „Lob der Disziplin. Eine Streitschrift“ ist schon wenige Tage nach Erscheinen ein Bestseller.

Es begann vor mehr als einem Jahr mit einer gewagten Überschrift im Feuilleton der „FAZ“: „Recht der Jugend auf Disziplin“. Kopien des Artikels wurden wie ein Samisdat weitergereicht. Als die stille Post zu Loki Schmidt, der Frau des Ex-Kanzlers, nach Hamburg kam, meinte sie, das gehöre unters Volk und bot dem ihr noch nicht bekannten Herrn aus Salem an, ihn in die „Bild“ zu bringen. Dazu ist es nun gekommen.

Fünf Tage hintereinander hat „Bild“ aus dem neuen Buch zitiert. Und wieder folgte eine Woge positiver Leserreaktionen. Am zweiten Tag war Buebs Foto auf der ersten Seite. Daneben stand in fetten Lettern: „Deutschlands strengster Lehrer“.

Wer ist dieser Bernhard Bueb? Seine Bescheidenheit ist nicht gespielt, und sicher ist er nie Deutschlands strengster Lehrer gewesen. „Fragen Sie meine Töchter!“ Er lacht. „Und wenn mein Hund lesen könnte, er würde sich totlachen.“ Er kennt Selbstironie und Zweifel und weiß damit umzugehen. Selbsterziehung? Ja, auch. Aber über allem steht seine Überzeugung, dass jeder Mensch andere braucht, die an ihn glauben. Vor allem Kinder sind auf diesen Glauben angewiesen. Er ist ihr Lebensmittel.

Der Schüler Bernhard hatte kurz nach dem Krieg in Schwäbisch Hall nicht an sich geglaubt. Man hielt ihn für dumm und er sich auch. Eine Empfehlung fürs Gymnasium bekam er nicht. Aber das Kind aus dem Großbürgertum wurde mit Ach und Krach durch die höheren Anstalten geschleust. Sein Großvater, ein bedeutender Chemiker, war Mitbegründer der Leunawerke und später im Vorstand der IG Farben. Seine Mutter stammte aus dem schwäbischen Bildungsbürgertum. Ihr Bruder war der Verleger Ernst Klett. Nach dem Bankrott ihres Mannes unterstützte Klett die Familie und wurde Bernhard Buebs „zweiter Vater“.

Bueb spricht über all das ganz offen. „Ich war ein klassischer Schulversager, hatte immer Angst.“ Bis er seine Lehrerin fand. „Sie glaubte einfach an mich.“ Das beflügelte ihn. Die eigenen Erfahrungen nicht zu verleugnen, ist Buebs großes Kapital. Ein ungewöhnliches, das die meisten, zumal die Ideologen, vergeuden. Auch im Weiteren ist seine Biografie nicht gradlinig verlaufen. Das sollten diejenigen bedenken, die aus Buebs zugespitzter Argumentation ein Erziehungspassepartout für stromlinienförmige Biografien basteln wollen und im „Lob der Disziplin“ das Handbuch für die Hundeschule sehen.

Erziehung ist, traditionell formuliert, auch eine Prüfung für die Erwachsenen. Debatten um den Papierkorb sind eher ein Symptom für deren Schwäche. Diese Schwäche ist das eigentliche Thema. Moderner ausgedrückt, Erziehung ist nötig, um Komplexität zu reduzieren, um also nicht dauernd am Nullpunkt mit den Themen Alkohol, Fernsehen oder Papierkorb neu zu starten. Was alle nervt.

Deshalb setzt Bueb auf Regeln und Rituale. Die müssen gelebt werden. Zuallererst von den Erwachsenen. Denn für eines haben Kinder und Jugendliche die allerfeinsten Antennen: Große Reden über den moralischen Vorteil, mutig zu sein, gehalten von Feiglingen, können sie nicht leiden. Zu Recht. Ein Komplex, der im Buch ein bisschen zu kurz kommt. Bueb nennt sich Missionar und verfällt leicht ins Predigen des Prinzipiellen. Das liegt ja immer dann nahe, wenn sich ein Autor mühsam zu neuen Einsichten durchgerungen hat. Nun sollen es alle wissen.

Bernhard Bueb vergleicht sich mit dem Schiffer, einer Figur Thomas Manns, der gegensteuert, wenn sein Kahn Schlagseite hat. Er sucht in seinem Buch die Zuspitzung, um wahrgenommen zu werden und will doch eigentlich den Ausgleich. Erziehung sieht er zwischen Liebe und Autorität, zwischen Selbstständigkeit und Gehorsam. Die Neigung in Deutschland, nach dem Muster von Entweder-oder zu polarisieren – und das bedeutete in den vergangenen 40 Jahren häufig, ganz auf Erziehung verzichten zu wollen, ja das Wort selbst schon als Programm von Kinderunterdrückung zu brandmarken –, dieser Entzweiung will Bueb entkommen. Aber das Buch wird von skandalisierungssüchtigen Medien in dieser alten Schlachtordnung aufgestellt. Spielt Bueb da mit?

Er plädiert auch für Strafen, wenn verbindliche Regeln gebrochen werden. Das sei wie im Straßenverkehr. Allein aus Achtung vor den Menschen würde er in Überlingen auch nicht 50 km/h fahren, aber aus Furcht vor dem Blitzer und der Geldstrafe schon. Das ist ein pragmatisches Plädoyer für alltägliche Regeln, die im Bereich der Erziehung in Deutschland so wenig selbstverständlich sind, weil sie mit der Perversion von Zucht und Ordnung durch die Nazis zutiefst diskreditiert worden sind.

„Wir dürfen nicht hinnehmen“, schreibt Bueb, „dass der Nationalsozialismus weiterhin unsere pädagogische Kultur beschädigt.“ Neigen nicht immer noch viele Erwachsene dazu, lieber Opfer sein zu wollen, aus Angst, sie könnten als Handelnde in die Nähe von Tätern geraten? Viele Lehrer tun tatsächlich so, als seien sie gar keine Erwachsenen, sondern ein generativer Zwitter. Bueb bemängelt an den Erwachsenen ihr mangelndes Selbstbewusstsein, ihr Verzicht darauf zu gestalten.

Er will gestalten. Und das heißt gegenüber den Jugendlichen: „Ich möchte etwas von Euch!“ Und dann fügt er, auch nach Abschluss des Buchmanuskripts immer weiter über das Thema nachdenkend, hinzu, „das ist doch das Leiden der Jugendlichen, dass die Erwachsenen so wenig von ihnen wollen“.

Von den Kindern etwas zu wollen, sie herauszufordern, Erziehung als die Lust zu verstehen, sie in die Welt hineinzuziehen, das verbindet ihn seit mehr als 50 Jahren mit Hartmut von Hentig. Der war damals noch Lehrer seines Vetters Michael Klett am Internat Birklehof und wurde vom Altverleger Ernst Klett protegiert. Da war Bueb noch Schüler. Nach seinem Studium der Philosophie und Katholischen Theologie wurde er Hartmut von Hentigs Assistent beim Aufbau der Laborschule Bielefeld. Dort entdeckte Bueb, dass er von Pädagogik, zumindest von ihrer Praxis, keine Ahnung hatte und wurde deshalb Lehrer und Erzieher am reformpädagogischen Internat Odenwaldschule, das sich damals Deutschlands erste Gesamtschule nannte. Dann folgte 1974 überraschend aus Salem das Angebot, dort Leiter zu werden.

Langsam Pädagoge geworden zu sein, nennt Bueb eine Leidensgeschichte. Seine Versuche mit progressiver Erziehung, die die Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum stellte und auf Autorität verzichten wollte, misslangen. Diese Umwege brachten ihm seine Reifung. Auch darin ist Bueb ein Zeitgenosse, dass für heutige Menschen dieser Prozess zuweilen eine dramatische und endlose Autodidaktik ist.

Von all dem erzählt das Buch, zumal, wenn man zwischen Zeilen liest. Es ist ein Bericht von der Herstellung und allmählichen Neubegründung von Autorität. Eine fatale Verführung könnte darin bestehen, dass Leser glauben, selbst von diesem Prozess durch dieses Substrat an Erfahrungen und Reflexion suspendiert zu werden. Dann hätte man es nicht verstanden. Nach der Investition von viel Zeit in die genaue Lektüre hat man allerdings auch viel Zeit gespart, weil man ja nicht jeden Irrtum selbst machen muss. Nun kommen neue, andere Irrtümer. Bueb wäre der Letzte, der das nur bedauert. Man muss sich Sisyphos eben als glücklichen Menschen vorstellen.

Artikel erschienen am 25.09.2006

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