Schule kann gelingen (3)

SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

 

Der Vorteil verschieden zu sein

Reihe: Schule kann gelingen (3)

 

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Anja Brockert

Regie: Maria Ohmer

Sendung: 18.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

Archiv-Nr.: 018-9435

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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

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manuskript

 

 

Cut 0  Atmo   /  Montessori Potsdam –

 

Sprecher:

Die meisten Besucher sind verdutzt. Schüler aus dem ersten, zweiten und dritten Jahrgang lernen in einer Klasse. Die Viert-, Fünf- und Sechstklässler sind ebenfalls zusammen. Auch die aus der Siebten und Achten. Eine Mischung wie einst in der Dorfschule. Behinderte Kinder gehören dazu. Die Besucher sagen „Wahnsinn“. Oder: „Das kann doch nicht sein.“ Denn das Frappierende ist:  Dieses vielgestaltige Bildungsbiotop zahlt sich in sehr guten Leistungen aus, obwohl  – oder gerade weil – hier niemand groß von Leistung spricht.

Wir sind in der Montessori Schule in Potsdam. Eine ganz normale, staatliche Schule, nicht etwa  privat, keine reformpädagogische Konfessions-Schule. Es ist eine Gesamtschule bis Klasse 10. Die Pädagogik ist allerdings an den Ideen der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori orientiert. Nach ihr nannte sich die Schule, als sie nicht mehr Karl Liebknecht Schule heißen wollte.

Heute ziehen ihretwegen Familien von Berlin nach Potsdam. Sie erhielt den ersten Preis für innovative Schulen des Landes Brandenburg. 800 Besucher kamen im vergangenen Jahr, um sich selbst zu überzeugen.

 

Cut 1 Kinder  aus 1, 2, 3

Drittklässlerin: Da kann man sich die Materialien aus dem Regal suchen und damit arbeiten. Aber man darf sich nichts nehmen, was man schon kann. Das natürlich nicht.

Erstklässlerin: Und wenn man es nicht kann, muss man  fragen, wie das geht.

Drittklässlerin: Ja,  da fragt man die Lehrerin; da kann ich auch andere große Kinder fragen…

Erstklässlerin: …die das können.

Drittklässlerin: Sie ist Erste und ich bin Dritte. Und die Drittklässler, wenn sie in der Vierten sind, können sich von den Fünf- und Sechstklässlern was abgucken.

Erstklässlerin: Das ist  ganz anders als in der Schule; weil es hier Materialien gibt, in anderen Schulen nicht.

 

Sprecher:

Wir sind in einer der Klassen mit den Jahrgängen eins, zwei und drei. Die Besucher sind erstaunt, mit welcher Hingabe sich an diesem Morgen die Allerkleinsten, zwei Fünfjährige, für die größten Zahlen interessieren.

Jeden Tag haben die Schüler 90 Minuten Freiarbeit. Die Kinder entscheiden selbst, was sie tun.

 

Cut 2  Kinder aus 1, 2, 3

Die Freiarbeit gestalten wir so, wir nehmen uns Materialien aus dem Regal. Viel mit Perlen, der Rechenrahmen zum Beispiel und  die groß Multiplikation, das  ist die da;  hier können die Erstklässler noch Zahlen üben; und tasten mit Augen zu.

 

Sprecher:

Jedes Kind macht während dieser beiden Stunden Freiarbeit etwas anderes:  Vorträge vorbereiten, sich gegenseitig Rechtschreibübungen diktieren, mit  Materialien zum Rechnen experimentieren. Und manche machen scheinbar gar nichts. Ein Mädchen, das eben noch einen Vortrag über Schneeglöckchen gehalten hat, geht quer durch den Raum, bleibt stehen, guckt nach unten, mindestens eine halbe Minute lang, blickt ganz ernst, lächelt in sich hinein, kehrt um, holt sich einen Holzkasten mit Perlen und anderem Material für Rechenübungen aus dem Regal und setzt sich auf den Boden.

Was mag da wohl passiert sein?

Das sind die Augenblicke, von denen man an dieser Schule meint, sie seien die wichtigsten und alles andere sei ohne sie fast nichts. Denn Lernen ist so verschlungen und diskontinuierlich wie ein Forschungsprozess oder wie moderne Musik. Langsam baut sich etwas auf. Verschiedenes wird ausprobiert. Nicht alles will passen, und dann das Aha, leuchtende Augen. Wie kommt es zu dieser Begeisterung fürs Lernen?

 

Cut 3   6./7. Klässler:

Dass wir ganz anders lernen als in anderen Schulen. Dass wir  keinen richtigen Regelunterricht haben.  In Mathe können wir uns unsere Materialien selber suchen, mit denen wir lernen wolle. Zum Beispiel in der ersten Stunde behandeln wir Brüche und die restlichen beiden Stunden können wir uns  dann Brüche – Karteien suchen, du damit trainieren und über. Es ist halt ganz anders. Es  macht auch viel  mehr Spaß.

 

Sprecher:

Das Geheimnis dieses Unterrichts, bei dem man erst mal gar nicht an Unterricht denkt, weil man den dozierenden Lehrer vergeblich sucht, das Geheimnis heißt: Verschiedenheit. Sie macht wach, steigert die Beteiligung, hebt die Leistungen.

Verschiedenheit hat viele Aspekte.

Ins Auge fällt die Vielfalt des Materials und die Ordnung, in der Dinge in Regalen stehen und von den Kindern selbstverständlich zurück gestellt werden.

Dann die Unterschiedlichkeit der Arbeitsweisen und Zugänge beim Lesen, Schreiben, Rechnen. Manche Kinder arbeiten allein, andere mit Partnern. Man sieht wechselnde Gruppen.

Die wichtigste Verschiedenheit aber liegt nicht in den Angeboten und Arbeitsweisen, auch nicht in der Altersmischung, sie liegt in der Individualität der Kinder. 

 

Cut 4a   Ulrike Kegler
Wenn Sie drei Kindern die große Multiplikation erklären wollen, dann ist es schon fast  unlösbar, denn die drei sind nicht an derselben Stelle. Die drei sind alle an einer unterschiedliche Stelle. Deswegen macht man die  entscheidende Geschichten nur mit Einzelnen.

 

Sprecher:

Ulrike Kegler, Schulleiterin der Montessori Schule Potsdam.

 

Cut 4b   Ulrike Kegler

Das ist ein Gesetz, dass man die Individualität an der Stelle, wo was Entscheidendes gelehrt wird, auch abfragt, an der Stelle sich auch nicht stören lässt. Da muss man für die 5 oder 10 Minuten oder eine Viertelstunde nur mit dem (einen) Schüler zu tun haben. // Ich bin hier. Und ich merke, da ist  einer im Rücken, da hält man nur die Hand hin und das reicht auch schon. Schüler, die in dem System groß geworden sind, die kommen dann gar nicht zu nah, das ist ne ganz entscheidende Sache.

 

Sprecher:

In unsere Schultradition ist man gewöhnlich der Überzeugung, es sei von Vorteil, wenn sich Schüler einer Klasse möglichst ähnlich sind. Das Ziel sind homogene Lerngruppen. Das erleichtere und intensiviere den Unterricht.

In der fünften Klasse sei es erst mal die Aufgabe des Lehrers, alle Schüler auf den gleichen Stand zu bringen, das ist die gängige Rede, zumal in Gymnasien. Das ergibt sich durchaus logisch aus einer Tradition, in der das  Belehren Vorrang vor dem Lernen hat.

Eine andere Tradition, die der europäischen Reformpädagogik entspringt, setzt statt auf Homogenität auf Heterogenität. Verschiedenheit wird als anzustrebender Vorteil gesehen, nicht als in Kauf zu nehmender Nachteil. Diesem Weg folgen viele europäische Länder mehr und mehr. Vor allem die Skandinavier. Auch für nordamerikanische und kanadische Schulen ist es selbstverständlich, das in jeder Klasse das ganze Spektrum an Stärken und Schwächen, höherer und niedriger Intelligenz vorkommt. Sie gehen diesen Weg nicht so sehr aus reformpädagogischer Begeisterung. Der Vorrang der Vielfalt ergibt sich aus der politischen Entscheidung in den Schulen, bis zur 9. oder 10.Klasse alle Kinder zusammen zu lassen.

Seit den Pisa- Ergebnissen wächst nun auch in Deutschland die Aufmerksamkeit für diese andere, unerwartet erfolgreiche Tradition, der hierzulande nie der Durchbruch gelang.

Dabei sprechen – nicht erst seit Pisa – die Ergebnisse der Forschung für gemischte Lerngruppen.

Am Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin forscht darüber die Psychologin Elsbeth Stern. 

 

Cut 5a 

Diese Vorstellung, dass man möglichst  homogenen Lerngruppen braucht und dann am besten lernt, ist einfach nicht richtig. Bei diesem fragend entwickelnden Unterricht, der bei uns die Regel ist, da mag das stimmen richtig, weil da der Lehrer im Kopf hat, was kann mein Schüler, was soll ich durch die Fragen raus locken und das ist häufig nur auf 2,3 Schüler der Klasse zugeschnitten.

 

Sprecher:

Elsbeth Stern nennt diese Art Unterricht „Osterhasenpädagogik“. Der Lehrer hat die Ergebnisse seiner Lektionen hinter Fragen und Andeutungen versteckt. Seine Schüler sollen sie suchen. In Lerngruppen, die die Verschiedenheit der Kinder begrüßen, muss man nichts extra verstecken, weil die Fragen, das Vorwissen und auch die Schwächen der Kinder eine schier endlose Ressource sind.  

 

Cut 5b 

Wenn man eher selbständiges Lernen fördert, in strukturierten Kontexten allerdings, dann können sich die Schüler erst mal selber über ihr Wissen und ihr fehlendes Wissen klar werden und es sich erarbeiten. Bei uns ist stark die Vorstellung, dass, wenn wir heterogene Gruppen haben, dann ist das gut für die Schwachen, weil die mit gezogen werden, aber die Starken leiden drunter. Die Vorstellung, dass man immer am einen Ende Kosten hat, ist sehr stark ausgeprägt. Das gilt nur, wenn der Unterricht so abläuft, wie er bei uns rund um die Uhr läuft: lehrerzentriert. Der Lehrer gibt was vor und die Schüler müssen hinterher hinken. Wenn wir mehr organisiertes Lernen hätten, dann  könnten alle Schüler  profitieren. Es ist Ne völlig falsche Vorstellung, dass die Begabten am besten lernen, wenn sie nur unter ihresgleichen sind.

 

Sprecher:

Die wissenschaftliche Begleitung der Montessori Schule Potsdam fand jetzt sogar heraus, dass in den nach Intelligenz, Alter und sozialer Herkunft bunt gemischten Klassen die starken Schüler besonders profitieren. Dabei kümmern sich in dieser Schule die Lehrer viel mehr um die Schwächeren. Doch der Erfolg der leistungsstarken Kinder ist eigentlich kein Wunder, denn sie können aus der anregenden Umgebung am meisten für sich machen. Wenn sie anderen Kindern erklären, was ihnen selbst schon einigermaßen klar ist, dann erklären sie sich ein Mathematikproblem, ein physikalische Experiment oder ihre Recherchen über Dinosaurier auch noch einmal selbst. Dann entwickeln sie neue, tiefere Fragen, und  gehen diesen mit anderen Schülern, mit den Lehrern oder im eigenen Kopf weiter nach. So wird das Lernen dialogischer und entfernt sich vom bloßen Kopieren.

Aber auch Kinder, die langsamer lernen, profitieren davon, wenn Schüler von Schülern lernen. Sie sind ja nicht immer die Schwächeren. Dafür sorgt nicht zuletzt die Altersmischung. Wenn sie schon Drittklässler sind, also die ältesten in der Gruppe, werden auch sie Lehrer für die Kleinen. Und auch die Überflieger werden wieder Anfänger, wenn sie nach der dritten Klasse aus der Gruppe der Jahrgänge

1, 2, 3 in die der Viert-, Fünft- und Sechstklässler eintreten.  Jeder ist mal unten und mal oben, und die Klasse ist nie im Gleichschritt.

Das bringt allen Kindern Vorteile. Das Lernen steht im Vordergrund, und Lernen ist nun mal eine Aktivität der Schüler, kein Lehrer kann es ihnen abnehmen.

Lehrer werden Designer möglichst anspruchsvoller Umgebungen. Ihre Aktivität verlagert sich in die Vorbereitung. Während des Unterrichts haben sie Zeit, sich um Einzelne zu kümmern, denn sie stehen ja kaum noch vor der Klasse. Sie gehen herum. Sie beobachten, beraten, helfen und nehmen sich immer wieder viel Zeit für Einzelne.

Die deutsche Schule allerdings setzt mehr aufs Belehren und weniger aufs Lernen. Und sie zielt schnell auf Leistung. Leistung wird wichtiger als Lernen. 

Wie bitte, fragen sich da viele, wo soll denn da ein Gegensatz sein? Leistung und Lernen sind doch in der Schule dasselbe.

Nein, meint Elsbeth Stern. Dass wir Leistung und Lernen nicht unterscheiden, sei einer der Gründe für die Schwäche der Schüler in Deutschland.

 

Cut 6 Stern 

Unsere Schule ist sehr leistungsorientiert, aber nicht lernorientiert;  Man unterscheidet in  der Lehr- Lernforschung zwischen einer Leistungsorientierung, das ist: krieg ich meinen Abschluss mit guten Noten, damit ich damit Zugang zu weiteren Ausbildungsgängen habe. Lernorientiert heißt: habe ich die Mathematik wirklich verstanden. Habe ich verstanden, wie Phänomene zu erklären sind.
Die Leistungsorientierung ist enorm bei uns, jeder Schüler tut gut daran, möglichst früh zu überlegen, wie er mit wenig Aufwand bestimmte Abschlüsse und Noten bekommt. Aber es interessiert nicht, bis zum Pisa Schock, was können die Schüler, nur stimmen die Noten.

 

Sprecher:

 Sehen wir uns noch einmal  in der Potsdamer Montessori Schule um. Weshalb gelingt hier Lernen so gut? Wie kommt es, dass die Leistungen glänzen?

 

Cut 7   Kegler

Wenn Sie durch die Freiarbeit gehen, in manchen Klassen, sehen sie ganz viele Teppiche auf dem Boden ausgerollt und Kinder arbeiten auf der Erde, da finden Experimente statt usw. Das ist etwas, was die Leute immer sehr fasziniert,  da fällt nichts um, da tritt niemand auf den Teppich, da wird nicht gerempelt, da versucht man respektvoll seinen Weg zu gehen.

 

Sprecher:

Ulrike Kegler, die Schulleiterin, übertreibt nicht. Viele Besucher brauchen Zeit, um zu verarbeiten, was sie hier gesehen haben. Denn das Erfolgsrezept liegt im Indirekten. Nicht so sehr auf Ergebnisse zielen. Alle Kinder beteiligen. Und so gut es geht, jeden auf seine Art ins gemeinsame Spiel bringen. 

 

Cut 8    Kegler

Das ist für mich das geniale an der Montessori Pädagogik, dass das von Anfang die Basis ist,  aus der Beobachtung von Schülern, dass jeder anders ist, dass keiner zur gleichen Zeit an der gleiche Stelle  das gleiche Interesse hat. Je kleiner sie sind, umso deutlicher die Unterschiede. Je älter sie werden, um so mehr kommen die Interessen auf eine Ebene. Wenn man das beobachtet, muss man die Lehrmethoden danach ausrichten. Sie können nicht allen Kindern zur gleichen Zeit das Lesen beibringen. Das ist höchst kontraproduktiv. Sie haben unterschiedlich sensible Phasen und Offenheiten für unterschiedliche Dinge. Daraus muss sich ne Lehrmethode ableiten. Wenn dem Bedürfnis der Kinder, was ihre geistigen Interessen betrifft,  nachgegeben wird, dann entstehen ganz andere Dinge nebenbei. Dann entsteht nebenbei Freundschaftlichkeit, Respekt, Akzeptanz von Vielfalt.  Disziplin! Nicht diese Aufrecht- Disziplin, sondern ne innere Disziplin, die mit Freiheit viel zu tun hat. 

 

Cut 9 Atmo Gesang 

It´s got you and me … the whole world in his hand

 

Sprecher:

Ähnlich wie die Montessori Schule in Potsdam arbeiten die Marchtaler Plan Schulen rund um den Bodensee. Es sind katholische Schulen. Sie sind ebenfalls an den Ideen der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori orientiert, ohne ihnen dogmatisch zu folgen. Der Marchtaler Plan wurde bereits in den 70er Jahren in einer Fortbildungsstätte, dem Kloster Obermarchtal, beschlossen. Die Grundidee, und sie ist wichtiger ist als jede pädagogische Methodik, ist ähnlich wie in Potsdam: Achtung, ja Begeisterung dafür, dass jeder anders ist. Der Gedanke kommt hier aus der  christlichen Tradition: Jeder Mensch ist ein Wunder. Jeder ist auf seine besondere Weise ein unvollkommenes Abbild Gottes. Das wiegt schwerer als die Erbsünde.

 

Auch an der Bodensee Schule St. Martin in Friedrichshafen wird die natürliche Verschiedenheit der Kinder durch die Altersmischung so recht zur Geltung gebracht. Altersmischung ist ein Katalysator. So kann die Illusion von homogenen Gruppen gar nicht erst entstehen. Die Altersmischung hat natürlich auch einen pragmatischen Wert. Die Kinder verstehen das sofort.

 

Cut 10 Kinder      plus atmo

Dann können die Älteren den Jüngeren oft helfen. Ich bin jetzt  in der Zweiten und sie in der Dritten – Jetzt kann sie mir das zeigen.

 

Sprecher:

Und der Lehrer ist nicht eifersüchtig.

 


Cut 11 Lehrer  

Die Kinder lernen von den Kinder manchmal besser,  wie von mir. Die sind unbefangener und haben einen direkteren Bezug und sie lassen sich auch mehr sagen von Gleichaltrigen. Ich denk das ist ein ganz großer Vorteil.

 

Sprecher:

Die Bodensee Schule in Friedrichshafen ist eine Grund- und Hauptschule mit einer Werkrealschule. In der siebten Klasse der Hauptschule – und die siebte Klasse Hauptschule gilt bei Lehrern als das schwierigste Pflaster – arbeiten pubertierende Jugendliche ähnlich konzentriert wie die begeisterten Grundschüler. Tag für Tag zwei oder sogar drei Stunden ganz individuelle Freiarbeit.    

 

Cut 12   Schüler   

1. Schüler: Fast jeden Tag wäre es gut, wenn wir Deutsch und Mathe machen. Ich habe heute schon etwas Mathematik gemacht, jetzt mache ich Deutsch
Schülerin: Wir müssen nicht so das machen, was der Lehrer sagt. Wir machen hier die Karten so weit wir kommen.
2. Schüler  Mir macht es besonderen Spaß, dass wir uns aussuchen könne, was wir an einem Tag machen. Also, wir sind nicht fest gebunden Deutsch an einem Tag zu machen. Wir können auch Mathe, wenn wir wollen
.

 

Sprecher:

Aber, so fragen sich viele, die von der Pädagogik des Obermarchtaler Plan hören, das mag für die Schüler ja ganz angenehm sein. Doch was kommt bei so viel Freiheit, seinen eigenen Weg zu gehen am Ende heraus? Wie sieht es mit der Leistung aus?

Schulleiter Alfred Hinz kennt dieses Einwand, der gewöhnlich nur wenige Minuten auf sich warten lässt.

 

Cut 13 Hinz 

Wir haben in Baden Württemberg in der 9. und 10.Klasse zentral gestellte Arbeiten von Stuttgart, vom Kultusministerium. Das ist auch ein Gradmesser. Und die schaffen wir mit einer Hand, trotz oder gerade wegen der freien Arbeit und trotz oder gerade wegen des vernetzten Unterrichts.

 

Sprecher:

Das ist wohl der entscheidende Mentalitätsunterschied: Gute Leistungen trotz oder wegen eines Unterricht, der Schülern individuelle Wege bietet . Schulleiter Hinz sagt: wegen.

 

Cut 14 Hinz 

Ich bin davon überzeugt, dass das der Beweis ist, dass die Schule sich ändern muss, weil wir auch Schulleistungen im alten Sinne bessere abliefern, ganz einfach.

 

Sprecher:

 Die Bodensee Schule ist seit mehr als 30 Jahren Ganztagsschule. Ein Wort, bei dem es manch einem in Deutschland kalt den Rücken runter läuft. Noch mehr Schule? Schule den ganzen Tag?

Gewiss, die Aussicht auf die Verlängerung der üblichen Vormittagsschule in den Nachmittag lehrt viele das Fürchten. Eine gelungene Ganztagsschule aber teilt den Schultag nicht einfach in Unterricht und Betreuung auf. So wie die Klassenräume und diverse Zwischenräume der Schule zu Lebensorten werden, ändert sich auch der Umgang mit der Zeit. 

 

Cut 15 Stern

Zeit haben ist ein wichtiger Faktor. Und zwar stressfreie Zeit, wo ich mich mit einem Problem auseinandersetzen muss. Diese Zeit sollte nicht im Klassenkontext sein, sondern unter kontrollierten Bedingungen nachmittags, in einer Ganztagsschule, wo man selber bestimmen kann, wo man noch etwas nachzuholen hat.

 

Sprecher:

Elsbeth Stern vom Max Planck Institut für Bildungsforschung denkt an eine andere Qualität von Zeit, als sie unsere Stundenplanwirtschaft in den Schulen hervorbringt.

 

Cut 16  Stern 

Man muss tätig sein  und man muss Zeit haben und man muss langfristig prüfen. Das ist ja auch so ein Problem, dass bei uns die Klausuren in der Schule immer sofort nach der Lerneinheit durchgeführt werden. Man lernt etwas und dann wird es  abgeprüft. Und dann lernt man das Nächste. So werden keine Zusammenhänge geknüpft.

Zwischendurch wird vergessen. Wenn man nicht verständnisvoll lernt, kann es sinnvoll sein zu vergessen, weil die Stoffe nacheinander so wie eine Bauklotzreihe aneinandergereiht werden und sie werden nicht integriert:.

 

Sprecher:

In der Bodenseeschule gibt es das gemeinsame Mittagessen, Lehrer und Schüler zusammen. Mit dem Essen verhält es sich ja ähnlich wie mit gutem Unterricht: Es ist so wenig die bloße Einnahme von Kalorien wie Unterricht das reine Abspeichern von Informationen sein kann.

Und dann die Mittagsfreizeit.

 

Cut 17

Wir haben Sozialpädagogen, wir haben Sozialarbeiter, wie haben Erzieherinnen, wir haben Jugend- und Heimerzieher und wir haben ganz einfach Mütter, die in der Mittagspause genau so da sind für die Kinder – nicht nur für die eigenen, sondern für alle, Wir haben  insgesamt  96 Freizeitgruppen und Arbeitgemeinschaften laufen in der Woche.

 

Sprecher:

Auch das weitetet den Horizont: Eltern, Künstler, Experten, die mitarbeiten, sind Botschafter aus der tätigen Welt.

Die Rhythmisierung des Schultages, die Mischung unterschiedlicher Aktivitäten, die Herausforderung  der Sinne, all das verlangt eine neue Choreografie der ganzen  Schule – und den Abschied von der alten Stunden-Plan-Wirtschaft.

 

Cut 18 Hinz

Wir haben den Tag sehr sauber strukturiert. Das ist ganz wichtig. Wir haben uns völlig gelöst von diesem elenden 45-Minuten-Raster. Das kann man natürlich in der Ganztagsschule viel leichter als in der Halbtagsschule. Wir haben keine Glocke mehr, gar nichts.

 

Sprecher 

Was in Deutschland Aufsehen erregt, ist in Schweden und Holland, in Neuseeland und England ganz normal. Die Schulen in diesen bei Pisa und anderen internationalen Tests erfolgreichen Ländern verbindet vor allem eines: Sie haben mehr Gelassenheit.

Und so sind auch die Kinder gelassener. Man sieht es als einen Vorteil an, verschieden zu sein. Zugleich steht für die Kinder in der Schule außer Zweifel: hier bist du richtig. Du gehörst dazu. Es wird nicht sortiert. Diese Schulen zielen nicht unmittelbar auf Leistung, aber auf Bildung. Wer dazugehört, muss mitwirken. Dafür soll die Schule das Rüstzeug liefern. Ebenso selbstverständlich wird verlangt, sich anzustrengen. Dass alle mitmachen wollen, wird unterstellt.

In den ersten Jahre gibt es keine Noten.

In Schweden gibt es bis Klasse acht keine Noten. Die Aufteilung der Kinder nach Leistungen untersagt dort das Schulgesetz. In England fängt die Schule um 9 Uhr an. In Holland können, wenn die Eltern es wollen, schon Vierjährige zur Schule. Man fragt nicht nach Schulreife. Die Schule ist ein Entwicklungsraum, sie ist dort spielerisch und ernsthaft zugleich. In Neuseeland schließlich wird jedes Kind an seinem fünften Geburtstag eingeschult. Das ist für das Kind ein Fest – und für die Schule ein Herausforderung. John kommt am 7. Juni und Mary am 28. August zur Schule, eben an ihrem Geburtstag. Die Illusion, dass alle ABC- Schützen auf dem gleichen Stand sind, wenn sie nach den Sommerferien  eingeschult werden, kommt gar nicht erst auf.

Verschiedenheit ist von Anfang an das Wasserzeichen der Institution Schule.

Auch in Holland gibt es nicht den einen Einschulungstermin im Jahr, sondern immer wieder kommen neue Kinder in die Klassen hinzu – und das bekommt dem Unterricht.  Denn jeder ist anders und jeder bringt etwas mit, zumindest seine Fragen.

Nach diesem Anfang gibt es kein Zurück mehr zur „Homogenisierung“ der Generationen.

Aber alle Veränderungen der Schule, die mit Verbesserungen der Atmosphäre beginnen, finden ihre Stunde der Wahrheit im Unterricht.   

 


Cut 19  Hartmut von Hentig, der Nestor der deutschen Pädagogik

Eine Unterrichtseinheit, Stunde oder Woche, was immer, muss ein Erlebnis haben, es muss etwas Aufregendes sein: `ha, das habe ich noch nie gesehen, du, was ist das?

Das zweite ist: Nachdenken, wie sich das mit dem, was wir  vorher getan haben vereint, woran das anschließt. Also: Einordnen, Einordnen. Und  das dritte ist Einüben, dass ich auch darüber verfüge. ´Es ist mir nicht nur zufällig gelungen, jetzt mache ich drei-, viermal , ja jetzt kann ich es. Und dann kann ich morgen das nächste Erlebnis haben.´  Es muss aber bitte sehr jede Einheit dieses haben. Und wie viele Stunden sind immer nur Einübung, oder immer nur Einordnung und ebenso falsch sind immer nur Erlebnisse, das ist auch nicht richtig.    

 

Sprecher

Lernen ist Verknüpfen. Das wusste die guten Pädagogen schon immer. Die moderne kognitive Psychologie kann es nachweisen. Verknüpfen verlangt Interesse für Neues, auch für Fremdes, allemal für Verschiedenes. Wenn diese Basis stimmt, steht gutem Unterricht nichts mehr im Wege.  Die Lernforscherin Elsbeth Stern nennt guten Unterricht deshalb auch „Diversity Management“:

 

Cut 20  Stern  

Guter Unterricht knüpft an das Vorwissen an, also dass man seine Wissensspielzeugkiste auspackt und guckt,  was habe ich schon an Erklärungen zu liefern, manches ist vielleicht doch nicht das Richtige, aber das kann ich erst sehen, wenn es raus geholt habe. Auf manchem kann man was aufbauen. Wenn ich mir das als Schüler sehr früh angewöhnt habe, ich schau erst mal, was ich vielleicht dazu beitragen kann, die Aufgabe zu lösen und dann sehe ich, wie weit ich komme, dann ehe ich, wo mir Wissen fehlt. Dann habe ich eine ganz andere Einstellung, wie ich Aufgaben lösen. Ein Grund – das hat Allan Schönfeld aus Berkeley heraus gefunden –  warum Matheaufgaben häufig nicht gelöst werden, ist, dass sehr viele Schüler, auch die guten, diese grundsätzliche Einstellung haben, bei der Matheaufgabe sieht man die Lösung auf den ersten Blick oder aber man kann sie gar nicht lösen. Auch dass man einen Text häufig beim ersten Lesen nicht versteht, – das war mir auch gar nicht so klar, dass viele Erwachsene denken, einmal drüber gehen, wenn ich den Text nicht gleich verstehe, werde ich ihn sowieso nie verstehen.

 

Sprecher

Dieses Selbstmisstrauen –  „Ich schaffe es doch nicht“ – ist die bleibende Spur, die die Schule bei vielen Menschen hinterlässt. Dabei sind sie als Kinder voller Fragen und Neugier, ja als kleine Forscher in die Schule gekommen. Sie wollten was raus kriegen. Sie wollten erwachsen werden. Sie konnten mit Fehlschlägen ganz gut umgehen. Sie zogen aus Fehlern nicht die Konsequenz „ Das kann ich ja doch nicht“, sondern probierten einen Weg, und probierten noch einen Weg und vielleicht auch noch einen dritten Weg.

 

Cut 21 Stern

Diese Wege gehen viele Schüler und Erwachse gar nicht mehr, weil es nie in der Schule gefördert wurde, weil es immer darum ging, fehlendes Wissen zu verschleiern, man sagt möglichst nicht offen, ich bin noch nicht so weit, ich brauche noch zusätzliche Unterstützung.

 

Sprecher

Lernen setzt voraus, dass man nicht fertig ist. Das mag banal klingen, ist aber keineswegs selbstverständlich, solange eine Institution offen oder heimlich auf Perfektion setzt.

Verschiedenheit wird im Schatten der Perfektion immer nur Abweichung sein, ein Defizit, das geschlossen werden soll, aber eben doch ein Defizit.

Verschiedenheit kann aber auch Reichtum sein – und Unvollkommenheit ein Reservoir an Möglichkeiten.