2.9.
Krista Sager, Fraktionschefin der Grünen, hat mich gefragt, ob ich mit ihr bei der großen Berliner Kundgebung in der Arena Treptow ein Gespräch über Bildung, die Schule der Zukunft und so weiter führen würde. Ich habe etwas gezögert. Dann habe ich zugestimmt. Es war wie beim Popkonzert. Wir waren eine Vorgruppe zum Auftritt von Fischer. Von der Bühne oben wird es noch viel deutlicher als von unten, dass die ganze Sache überwiegend Show ist. Sprechen auf Effekt. Versuche, zumindest den Anschein einer Kopulation der Führer mit den Massen herzustellen. Aber diese Sexualität ist ziemlich erloschen. Vor allem ist den Worten der Eros entwichen. An fast allen anderen Orten würde man ernsthafter und – ich möchte sagen – politischer diskutieren.
Und dann kam Fischer. Das ganze wie ein Remake. Schwach unterhaltend. Wer glaubt eigentlich daran, dass es hier wirklich um wichtige Dinge geht? Die Frage, die jeder diskutiert, kann in solch einer Veranstaltung wohl nicht mal gestellt werden: Was bedeutet es, wenn Schwarz-Gelb (hatte eben einen Vertipper Schwarz-Geld, nicht schlecht) zum Zuge kommt, oder eine Große Koalition? Und was könnte in dem einen oder anderen Fall die Rolle der Grünen sein? Diese Logik der Ausblendung ist typisch für die Politiker-Politik, die wir im Wahlkampf noch dichter erleben als ohnehin. Ein Vorteil des Wahlkrampfs. Die Frage wo und wie sich Politik neu konstituieren wird, ist die interessanteste. Hier kommt man ihr nicht auf die Spur.
Apropos Fischer. Ein paar Tage zuvor wurde ihm in einem Interview von der „Welt“ (27. 8.) die verblüffende Frage gestellt, was denn das große grüne Projekt in der nächsten Legislaturperiode sei. Die Frage muss ihn wohl völlig überrascht haben. Die Antwort: Lösungen auf die Erhöhung der Benzinpreise finden. Tatsächlich, das war die Antwort!
„DIE WELT: Worin sehen Sie ein zentrales grünes Projekt für die nächste Legislaturperiode?
Fischer: Wir müssen intelligente Antworten auf die hohen Benzin- und Energiepreise finden. Die Ursache dafür ist nicht die Ökosteuer – als die schon eingeführt war, lag der Ölpreis bei 15 Dollar pro Barrel, heute sind wir bei 68 Dollar, Tendenz steigend. Die wachsende Nachfrage in China und Indien wird die Rohölpreise dauerhaft nach oben treiben. Als großer Automobilstandort müssen wir darauf die notwendigen technischen Antworten anbieten und dabei weltweit Spitze sein. Die Polemik der Union gegen erneuerbare Energieträger ist nachgerade blind gegenüber den eigenen Interessen. Wenn wir die steuerliche Förderung zurückfahren, werden die Arbeitsplätze in diesem Bereich in anderen Ländern entstehen. Im sozialen Bereich sehe ich ein weiteres großes Thema: den gesetzlichen Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr.“
4.9.
Das „Duell“. Ein Duell? Meine Frau, meine Tochter und ich haben uns vor dem Fernseher eingerichtet. Als wär`s das Finale der Fussball-WM. Mal sehen wer gewinnt. Aber so richtig in der Stimmung, mit dem eigenen Kandidaten zu zittern sind wir nicht. Selbst der Kern alter politischer Legierungen, dass man immerhin einen Gegner oder zumindest ein Objekt seines Ressentiments hat, ist eigentlich nur noch eine Reminiszenz bei uns Eltern. Nehmen wir mal an, man könnte mit der Videotechnik die beiden Duellanten völlig anonymisieren. Die Stimmen verfremdet und die Körper gemorpht. Man würde nur die Dialoge hören und die Gesten sehen. So ein unterkomplexes Gespräch würde sich doch kein Mensch auch nur eine Viertelstunde ansehen.
Die Kommentare zum Schlagabtausch ohne Schläge nähern sich dem Karl Valentin Punkt. „Es ist alles gesagt, nur noch nicht von jedem.“ Na. Vielleicht nicht ganz.
8. 9.
Schon wieder in Berlin. In der Kochstraße. Zwischen Springer und taz. Die Straße wird also bald Rudi-Dutschke-Straße heißen. Das hätte man uns rebellischen Schülern 1967/68 prophezeien sollen. Natürlich, eine Rudi-Dutschke-Straße nach der Revolution, gewiss und die Revolution würde ja kommen. Aber eine Rudi-Dutschke-Straße an die die Post des in seiner Blüte stehenden Springer-Konzerns adressiert wird?
Man muss sich auch immer wieder vergegenwärtigen, dass vor 20 Jahren kaum einer darauf gewettet hätte, dass 2005 womöglich der Vizekanzler ein bekennender Schwuler aus der FDP sein wird. Oder dass ein Song von Freddy Mercury, dem Sänger von “Queen”, als Krönungsmusik für Angela Merkel vor Kohl und all den Altvorderen und Youngstern in den Saal geschallt wird, als sei es ein Jugendfestival. Erst recht die Stones mit der Angie-Nummer. Bloß hört offenbar nicht einer von denen, die die Platte für die Dame auflegen, auf den Text. Auch typisch. Was bedeutet schon ein Text? Nur der Sound muss irgendwie stimmen.
An der Spitze der Möglichkeiten, über die man vor Jahren nur gegrinst hätte: Der Kanzler eine Frau aus der CDU und obendrein aus dem Osten. Ha, ha, bei diesem Männerverein, Kanzlerwahlverein etc.
Diese veränderte Performance jedenfalls ist doch ein politisches Faktum! Aber was bedeutet es? Vielleicht dieses: Die Epoche, in der Politik der Kampf für die Freiheit von Zwängen war, läuft aus, ist vielleicht schon ausgelaufen, wir starren nur noch darauf. Aber wie schaffen wir nur den Übergang zu einer Politik der Freiheit zu etwas? Die wird nicht mehr in der Arena gemacht, in der oben einer kreischt und alle anderen applaudieren.
Nachdem die Tabus gestürzt wurden oder einfach eingestürzt sind, wird sich die Frage stellen: Verwahrlosung oder neue Würde. Zum Beispiel sollten wir ab sofort aufjaulen, wenn irgend so ein Pseudoengel ankündigt, etwas für die „Menschen draußen im Lande“ zu tun oder ihnen was von den Lippen ablesen zu wollen. Pfui, Angie lass das!!