NDR Kultur Werkzeuge oder Prothesen

Werkzeug oder Prothese?

Wie man mit Computern die Schule verändern könnte

Von Reinhard Kahl

NDR Kultur – Gedanken zur Zeit – 3. Juli 2016

PDF-Link: Smartphones in der Schule – Werkzeug oder Prothese? | NDR.de – Kultur

 

Fast jedes Kind hat heute auf dem Schulweg eine Universalmaschine in der Tasche. Sie könnte ein Büro ersetzen und Zugang zu einer schier endlosen Bibliothek bieten, sogar ein Rundfunk- oder Filmstudio wäre damit möglich. Für die Rechnerleistung in der Hosentasche hätte vor zwei Generationen ein Maschinenraum in Turnhallengröße nicht ausgereicht. Nun verfügt fast jedes Kind schon darüber. Das Smartphone.

Aber in der Schule muss es gewöhnlich ausgeschaltet werden. Dort gilt es als der große Ablenker. Dort wird keine Universalmaschine entdeckt und kultiviert, dort wird eine Universalprothese fern gehalten, als wäre sie nichts als giftiges Konsumzeug.

Was für eine kulturelle Kluft. Um die geht es heute in der Bildung. Und zwar nicht nur in der Bildung von Individuen, sondern auch bei der Bildung, also Formung unserer Gesellschaft, unserer Zukunft. Was machen wir aus dieser potentiellen Universalmaschine? Was machen wir mit ihr? Oder lassen wir schon nur noch etwas mit uns machen?

Sollte nicht auf der Basis des enormen Umbaus und Ausbaus im Maschinenraum unserer Zivilisation eine Tätigkeitsgesellschaft errichtet werden können, wie sie der Philosophin Hannah Arendt, dem Ökonomen John Maynard Keynes und dem Soziologen Ralf Dahrendorf vorschwebte? Tätigkeiten – viel weiter gefasst als Berufs- oder Lohnarbeit! Oder sind wir bereits in den Sog einer Hyperkonsumgesellschaft geraten, die der Sozialpsychologe Harald Welzer smarte Diktatur nennt?

Man merkt, es ist gar nicht möglich über Computer in Schulen nur pädagogisch zu sprechen. Die Gesellschaft ist gefragt. Was für eine will sie sein? Wie wollen wir leben? Dabei trifft man sogleich auf diesen krassen Widerspruch der kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise. Die Unternehmen verlangen intelligente Mitarbeiter und wollen tendenziell idiotische Konsumenten. Schul- und Hochschulabsolventen sollen selbstständig sein und kooperieren. Sie sollen mit der Universalmaschine Computer als Werkzeug umgehen können und schließlich auf unerwartete Lösungen kommen. Aber auf der anderen Seite lechzt der Informationskapitalismus nach den von Prothesen abhängigen Konsumenten. Das Private und Intimste wird in die elektronischen Kanäle gesaugt. Wir basteln mit an den Marionettenfäden, an denen wir irgendwann schlaff hängen.

Was machen wir aus diesem Widerspruch? Das ist eine Grundfrage der Bildung. Hier kommt hinzu, dass der Staat die Schulen und Hochschulen inzwischen als betriebswirtschaftliche Systeme behandelt, ja misshandelt. Wie institutionelle Maschinen sollen sie funktionieren.

In diesen Lernfabriken gedeiht weder die verlangte Phantasie noch die Lust darauf tätig zu werden. Sie belohnen den Bluff. Kein Wunder, wenn Schüler im Unterricht lieber am Smartphone herrumspielen. Seit mit G8 der Druck erhöht wurde, fehlen erst recht Gelegenheiten eigene Projekte zu entwickeln. Dafür bräuchte man die Werkzeuge. Aber was ist ein Werkzeug ohne Projekt oder Aufgabe? Es steht nur im Weg.

Auf welcher Seite also steht die institutionelle Bildung in diesem Widerspruch unserer Gesellschaft? Kultiviert sie Tätigkeiten oder macht sie passiv und lässt die Energien in den Konsum und zur Ablenkungsindustrie fließen?

Die Antwort in fast jedem Gespräch mit Schülern und Studenten fällt eindeutig aus: Schule und Uni stehen für hyperaktive Passivität. Auch die Lehrer beklagen Passivität und hyperaktive Kinder.

Man fragt sich, warum sehen Schulen nicht wenigstens wie Büros aus? Es gibt einige, die haben Lernbüros eingerichtet. Ganz selten mit richtigen Arbeitsplätzen, zu denen heute ja auch ein Computer gehört. Computer eben nicht im Computerraum, sondern auf jedem Tisch. Das wäre der Mindesteinsatz, das Zivilisationsniveau für eine Schule, die auf eine Tätigkeitsgesellschaft dadurch vorbereitet, dass man beginnt sie vorweg zu nehmen.

Prüfungen dessen, was ein einzelner Schüler an Wissen im Kopf hat, würden überflüssig. Zu bewerten wäre was jemand mit seinem eigenen Kopfwissen und dem Weltwissen, das er sich aus den nun offen stehenden Quellen beschafft, anfängt. Allerdings wäre die Möglichkeit tatsächlich etwas aus dem Wissen machen zu können und es nicht bloß zu reproduzieren, um es dann zu vergessen, erst mal zu ermöglichen.

Wenn es also um die Entdeckung und Nutzung dieser Universalmaschine geht, dann sind die Computer selbst gar nicht mehr so wichtig. Sie sind zwar das Fundament, aber auf das darauf zu errichtende Gebäude kommt es an. Dafür wären Möglichkeiten zu schaffen: Werkstätten, Ateliers, Übungsräume, auch Cafés und Räume der Stille. In so einer Schule sollten die Lehrer auch Menschensammler sein. Sie holen Experten, Meister ihrer Sache, also Botschafter aus der tätigen Welt hinein und führen nach draußen Expeditionen zu interessanten Orten und Menschen. Die Schule selbst ein Basislager, ein generativer Ort, an dem die Generationen zusammen kommen und Neues generieren. Und wie wichtig sind doch die Lebendigkeit und die Neugier von Kindern für uns Erwachsene! Es wäre ein Geben und Nehmen.

Schulen wären für eine künftige Gesellschaft, was die Kathedralen für das Hochmittelalter waren: schöne Orte, Kunst- und Gemeinschaftswerke, die an das gute Leben und Zusammenleben erinnern.

Dieser Horizont ist in Schulen von einem hochtourigen, aber leer laufenden Alltag verstellt. Auch in Pädagogendebatten kann man lange nach solchen Aussichten suchen. Aber es ist interessant, dass sich eine Außerpädagogische Opposition zu Wort meldet, sozusagen eine kulturelle Apo.

Kürzlich wurde der Münchner Physikprofessor Harald Lesch, bekannt von seinen Sendungen im ZDF, nach der Zukunft der Bildung gefragt. Mehr Mathematik, Informatik und Naturwissenschaft, will der Interviewer nahelagen. Nein, sagt Lesch und legt los:

„Ich bedaure, dass viel zu wenig Kunst, Sport und Musik unterrichtet werden. Das sind die Fächer, die die Kreativität der Kinder beeinflussen, wie nichts sonst. Kinder, die sportlich sind, die Lust haben Theater zu spielen, was zu malen, bildende Kunst zu betreiben, die werden Gehirne haben, die auf Fragen, die heute noch keiner weiß, reagieren können.“

Statt für Kinder und Jugendliche Spielräume zu kultivieren, so Lesch, „kerkern wir sie ein. Wir kerkern sie in Vokabeln ein, in irgendwelchen mathematischen Übungsaufgaben“, sagt er „die sind teilweise von einer Perversion, das hätte ich gar nicht für möglich gehalten. Wir kerkern sie ein, in allem möglichen Kram, aber wir bereiten sie nicht auf das Leben vor.“

Lesch hat einen Sohn. Er weiß wovon er spricht. Er kennt ja auch die Uni. Lesch will dass die Kinder zum Beispiel für die Mathematik so schnell wie möglich mit Leuten zusammen kommen, die jeden Tag Mathematik um sich herum haben. Die Inhalte der Fächer sind gar nicht mal das, was ihn am meisten empört. Es ist die Art wie Raum und Zeit konstituiert sind. „G 8, Bachelor und Master sind“, so Lesch, „ Zeitkompressionsverfahren. Es ist alles total organisiert. Die Kinder gehen in die Kindergärten und die Alten gehen in die Altersheime. Die wichtigen Zeiten des Werdens und Vergehens finden in dieser Gesellschaft nur am Rand statt. Dazwischen ist der große Block des Konsums“.

Lesch steht nicht allein. Der italienische, in Oxford lehrende Philosoph Luciano Floridi befasst sich seit Jahren mit dem Mensch-Maschine-Verhältnis. Kürzlich wurde er gefragt, was Kinder angesichts des Siegeszugs der Computer lernen sollten: Floridis Rat: „Ich würde niemandem dringend empfehlen Programmiersprachen zu lernen. Ich würde empfehlen echte Sprachen zu lernen. Sprache erschafft die Welt. Es kann die Sprache der Musik sein, der Kunst, der Architektur. Sprache ist die Grundlage, die wir nutzen, um Dinge zu kreieren. Wenn Sie Sprachen beherrschen, gehört die Zukunft Ihnen. Jedes Kind sollte seine Muttersprache perfekt lernen. So entwickelt man seine Gedanken. Dann sollte es Englisch lernen, denn das ist das ultimative Instrument, um mit allen anderen zu kommunizieren. Als Drittes kommt die Mathematik, denn dadurch spricht die Natur. Alles andere? Ist Zugabe.“  9´09

Reinhard Kahl
* 1948, Erziehungswissenschaftler, Journalist und Filmemacher; zahlreiche Preise (Grimme, Civis, Human Award, Vision Award). Gründer des Archivs der Zukunft www.archiv-der-zukunft.de, aus dem das gleichnamige Netzwerk hervorgegangen ist www.adz-netzwerk.de Lebt in Hamburg und dem Höhbeck www.reinhardkahl.de

Zuletzt erschienen: „Individualisierung – Das Geheimnis guter Schulen“, DVD und Buch, Beltz Verlag 2011. Demnächst: „Eine radikale Veränderung der Bildung – Über den Musikkindergarten Berlin“ DVD mit Buch, Archiv der Zukunft und Beltz Verlag