Mini-München 1 – Freude und Ernst

München, 1. August.
Heute Morgen standen 1800 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 15 vor den Zenith-Hallen im Münchner Stadtteil Freimann. Es ist der erste Ferientag in Bayern. Die Kinder stehen an, weil sie etwas tun wollen, um etwas zu erleben und sie wollen auch lernen. Freiwillig. Mittags waren es 2500. Mehr als 2500 werden nicht rein gelassen. Und das wird jetzt drei Wochen so gehen.

Diese drei Wochen werde ich mit meinem Kameramann Jens Gebhardt und  mit Uwe Winter, der den Ton macht, Mini-München, so heißt das, beobachten.  Schon der erste Tag überraschte und übertraf die hohen Erwartungen. Kein gelangweiltes Gesicht. Es ist so schön zu sehen, wie Freude und Ernst zusammen gehen. Kein Müssen weit und breit. Schon am Morgen stehen sie geduldig und voller Vorfreude in den Schlangen vor den Anmeldeschaltern und den Halleneingängen. Diese Vorfreude gilt ja nicht nur dem, was sie hier erwarten. Es ist auch eine Vorfreude auf sich selbst. Selbstverwirklichung und Weltverwirklichung gehören zusammen wie die  Freude und der Ernst.

Aber fangen wir von vorne an. Die nächsten Tage wird Gelegenheit sein genauer zu werden.

Seit inzwischen 30 Jahren gehen in jedem zweiten Jahr an den ersten drei Wochen der Sommerferien Münchner Kinder und Jugendliche zu diesem großen Fest des eigenwilligen Lernens und der vielfältigen Tätigkeiten. Sie spielen die Stadt.

Es gibt das Rathaus und Handwerksbetriebe, Gasthaus, Universität und Bank, auch Müllabfuhr, Theater, Kino und Fernsehen. 68 Einrichtungen. Die Kinder sind Bürgermeister und Taxifahrer, Gärtner und Hochschullehrer. Es gibt Märkte und Wahlen, Müllsammelaktionen und natürlich Feste. Das Botschaftsgebäude wird in diesem Jahr von Kindern aus Indien, Japan und europäischen Städten gestaltet. Dort gibt es nämlich Ableger dieser in München kreierten Idee.  Zentral ist in diesem Jahr der Klimaschutz mit einem Wertstoffhof und einem Forschungsinstitut.  200 Erwachsene sind die Mentoren: Pädagogen, Künstler, Handwerker, Wissenschaftler, kurz: erwachsen gewordene Erwachsene. Mini-München wurde in den 1970iger Jahren erfunden und findet seit 1986 alle zwei Jahre statt.

Zuletzt, 2014, besuchten 32.000 Kinder die Kinderstadt. 4.000 Erwachsene erhielten ein Kurzzeitvisum.

Mini München ist Fest und Alltag. Nur immer Fest wäre ja so schwer auszuhalten wie nichts als der Alltag. Die Kids kommen freiwillig. Eine Festpflicht wäre so etwas wie ein Zwangsrestaurant mit Aufesszwang. Dort würden sich selbst bei guter Küche bald Essenstörungen ausbreiten.

In einer Zeit, da Schüler – und mehr und mehr auch Studenten – vom Bulimie-Lernen reden, wird der Blick auf solche Inszenierungen wichtig, in denen Lernen und Tätigkeit in Symbiose auftreten. 

Viele Kinder finden dort ihr Ding. So ein 14jähriger, der letztes Mal an die hundert Seiten Gesetzestext für die Kinderrepublik geschrieben hat. Wo hat er das her? Die Kinder vertiefen sich in Themen, wenn sie etwa für dieses  Mini-München die Skizze für eine digitale Währung mit ausführlicher Begründung vorschlagen. Sie wechseln dort ihre Tätigkeiten. Aber sie wechseln nicht ständig im 45-Minutentakt-Stundenplan, was nicht artgerecht ist. Sie bleiben an etwas hängen. Das ist eigentlich das wichtigste.
Was bedeutet das, an etwas hängen zu bleiben? Wie geht das? Der Wiener Genetiker Markus Hengstschläger – er war mit 15 in Linz ein stadtbekannter Punk und noch keine 30 als jüngster Medizinprofessor im Land – ist Autor des in Österreich viel diskutierten Buchs „Die Durchschnittsfalle“. Er erzählt die Geschichte vom Solocellisten der Wiener Philharmoniker. Als Kind sollte er Klavier lernen. Aber es entwickelte sich kein Verhältnis zu dem Instrument. Dann schickten ihn seine Eltern auf eine Musikschule, in der er viele Instrumente kennenlernen konnte. Am Cello sei er dann halt hängen geblieben, sagt er. Genau darauf kommt es an: Gelegenheiten um sein Ding zu finden, auf etwas zu stoßen, an dem man hängen bleiben kann. Etwas, das ein Geheimnis bleiben darf. Auch deshalb bleibt jemand dran, eine Leben lang.

Was wäre die Welt ohne Geheimnisse? Was wäre ein Wissen ohne Nichtwissen? Was bliebe der Neugierde und der Freude an Verwandlungen in der fertigen Welt?

Und was ist, wenn Schule und Alltag so dürr sind, dass die Kids selten an etwas hängen bleiben, dass für Verwandlungen kein Spielraum ist, weil sie funktionieren sollen und dann nach vielen Jahren Schule nicht wissen, was sie wollen?

Getragen wird das Projekt übrigens von Kultur und Spielraum e.V. München, ein Zusammenschluss von Pädagogen und Künstlern. Finanziert wird es hauptsächlich aus städtischen Mitteln, daneben auch von Sponsoren und Förderern. Eintritt für die Kinder ist frei. Ein untrügliches Zeichen des Gelingens sind die „Alumni“, die sich spontan zusammen tun. Jugendliche, die die Altersgrenze von 15 Jahren überschritten haben, haben sich schon vor Beginn der Sommerferien zu einer „Seniorengruppe“ zusammen geschlossen und beim Stadtrat ein Gastrecht beantragt. Viele Jugendliche und junge Erwachse sind Ehemalige, die nun als Mitarbeiter dabei sein wollen.

Inzwischen gibt es an 200 Orten auf der ganzen Welt Ableger. Am vergangenen Sonnabend hat sich die Bildungsministerin aus dem Libanon umgesehen. Vom nächsten Jahr an soll es Mini-Beirut geben.
 
Was mich in den drei Wochen interessiert, das ist das Thema hinter dem Thema dieser an sich schon so lebendigen und bunten Veranstaltung:
Wie werden die Kinder in einem Entdecker- und Tätigkeitsmilieu hellwach und ganz gegenwärtig? Welche Mikrostrukturen von Lernen, Tätigkeit und Begeisterung lassen sich bobachten und filmisch sichtbar machen? Wie spielen  bei ungeklärten Fragen Verzögerungen und Intensität, wenn dann Lösungen greifbar, werden zusammen? Was passiert bei den Kindern, wenn es ihnen um etwas ganz Bedeutsames geht? Welche Zeitrhythmen und was für Choreographien bilden sich an Aufgaben und in der freien Kooperationen? Welche Rolle spielen die Dozenten, Experten und Künstler, also die Erwachsenen? 
 
Letztlich ist ja Bildung das, was von Erfahrungen als Erinnerung bleibt. Ein Reichtum in dauernder Verwandlung, wie der Yale Computerwissenschaftler David Gelernter eindringlich gegen die Herrschaft des Maschinenparadigmas in unserer Kultur geltend macht. 
Es geht um Lernbiotope jenseits der Öde des Funktionierens.