Mini-München 4 – Zeit

München 4. August.  Das schöne, vielleicht das schönste an Mini-München ist, dass die Kinder Zeit haben. Und die Erwachsenen auch. Die meisten Schulen sind davon kontaminiert, dass die Kinder und Jugendlichen keine Zeit haben und die Lehrer schon gar nicht. Die dort häufige Langweile widerspricht dieser Diagnose nicht. Wer sich langweilt, dem ist die Welt abhanden gekommen. Das passiert. Man kommt aus diesem Mangel heraus, wenn man von diesem Nullpunkt aus neue Facetten der Welt findet, vielleicht sogar welche erfindet. Aber von dieser Art ist die Langweile in der Schule nicht. Es ist die Langweile unverbunden zu sein, ohne die Chance dort neue Bindungen zu knüpfen, außer solche in der Währung der Schule, dem „Stoff“. Der aber ist nicht die Welt.

Lassen wir die Schule, obwohl natürlich beim Blick auf Mini-München der Vergleich mit ihr immer mitspielt. Als unvoreingenommener Ethnologe von einem anderen Kontinent würde man Mini-München vielleicht als gar nichts Besonderes empfinden Es wäre eine ganz selbstverständliche Art Kinder in das Leben einzuführen. Man könnte Mini-München für ganz selbstverständlich halten, wenn es in unserer Umwelt nicht so skandalös unselbstverständlich wäre. Schon deshalb kann vom Hintergrundradar des Alltags in der Schule und in der von ihr geprägten Lebenszeit nicht abgesehen werden.

Zu den Eigenheiten der modernen Welt gehört das Phänomen keine Zeit zu haben. Und dann soll außerdem von der knappen Zeit noch etwas eingespart werden, statt sie großzügig zu verausgaben. Von Jean-Jacques Rousseau haben wir die schöne Empfehlung Zeit zu verlieren, weil man so Zeit gewinnt. Schön, nicht! Und eben nicht Zeit dadurch gewinnen wollen, dass man keine verliert. Aber wie geht das, Zeit gewinnen, indem man sie verliert?

Damit sind wir wieder bei Min-München und den Kindern. Wir sehen andauernd Kinder, die tief in eine Sache versunken sind. Zum Beispiel im Architekturbüro. Eben noch haben sie draußen Flächen vermessen, auf denen Häuser gebaut werden sollen. Da waren sie wach und agil. Nun sind sie übers Papier gebeugt, übertragen die Maße und bauen Modelle. Jetzt könnte ein Schrank neben ihnen umfallen und sie blieben unbeeindruckt. Weder das Dorfplatztreiben im Büro noch ein Kameramann, der nah an sie heran geht, lässt sie aufblicken. Maria Montessori nannte das die Polarisierung der Aufmerksamkeit.

Häufig reden Erwachsene in Mini-München vom Flow, den die Kinder haben. Was ist dieser Flow? Das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit.  Forscher wie Mihály Csíkszentmihály betonen, dass sich Aufgabe und Lösungskompetenz  im Gleichgewicht befinden. Es geht nicht um alles. Es geht um einen abgesteckten Ausschnitt. Es geht auch nicht um mich, etwa darum, ob ich besser oder schlechter bin als ein anderer. Es geht um ein Handlungsfeld. Und es gibt klare Rückmeldungen. Die Tätigkeit belohnt sich letztlich selbst. Lob von außen hat keine oder nur eine geringe Bedeutung.

Der Soziologe Richard Sennett hat das in seinem großen Buch über das Handwerk auf den Begriff gebracht: „Eine Sache um ihrer selbst willen tun und sie deshalb gut machen wollen“.  Dafür ist der üblichen Um-zu-Welt (siehe den Blogeintrag Mini-München 3) wenig Raum. Was immer dort getan wird, es reicht eigentlich nie. Alles wird in der Um-zu-Welt zum Mittel oder verwertet. Was nur verwertet wird, das wird schließlich entwertet. Deshalb kommen Kinder und Erwachsene dann so schnell an die Überforderung, geraten in Erschöpfung und klagen unosono, sie hätten keine Zeit.

Der Geheimnis von Mini-München ist, dass die Dinge, die Tätigkeiten und die Ziele alle selbst wichtig und wertvoll sind. Dann wollen viele Kinder um 17 Uhr nicht nach Hause und stehen am nächsten Morgen zu Hunderten eine Stunde vor der Öffnung in der Schlange.