München 3. August. Heute morgen, so um neun, auf dem Weg von der U-Bahnstation Freimann zu den Zenith Hallen. Um 10 Uhr öffnet Mini-München. (Siehe die Blogeinträge der beiden ersten Tage.) Aber eine Stunde zuvor ist schon eine ziemliche Prozession unterwegs. Es werden heute wieder an die 2500 Kinder werden.
Vor mir drei Knirpse im Laufschritt, diese kindertypischen Begeisterung. Einer guckt auf die Uhr und sagt, „es sind noch genau 57 Minuten, wir können mehr trödeln“. Sie verlangsamen den Schritt. Der andere, „ne, die Warteschlangen sind doch immer so lang“. Der dritte, „dann lasst uns rennen“. Der erste wieder, „da sparen wir höchstens eine halbe Minute“. Dann sind sie wieder im Laufschritt mit seinen Impulsstößen. Bewegte Vorfreude.
Gleich stehen sie in einer der Schlangen. Vor dem Anmeldeschalter für die Neuen, die heute erstmals dabei sind. Sie stehen vor den Halleneingängen oder vor dem „Arbeitsamt“. Die Kinder warten geduldig. Ein erstaunliches Bild. So friedlich und so gelassen. Von Schulhöfen kennt man andere Bilder und Lautstärken. Ab 10 Uhr geht dann die Vorfreude in Freude über und bleibt. Was passiert da?
Wir haben zum Glück noch mehr als zwei Wochen (bis zum 19. August) um das heraus zu finden.
Heute kommen wieder ein paar Beobachtungen hinzu und eine Spur. Was heißt so ganz und gar da zu sein?Wie kommt diese Intensität auf?
Unsere erste Station ist die Gärtnerei. Die Kinder tragen Körbe mit Pflanzen ins Freie, gießen sie, erklären uns welche mit der Tülle, die jungen nämlich, und welche ohne, aber mit sanftem Strahl gegossen werden. So eine stolze Fachlichkeit. Auf dem Bauhof entsteht ein Mini-Mini-München. Hier bauen die Kinder Häuser, vielleicht werden es Buden sein. Außerdem wird an einem U-Boot Modell gearbeitet. Das brauchen die Trickfilmer. In der Küche werden Kartoffeln püriert. Butter, Quark und viel Schnittlauch werden zugesetzt. Das wird ein Brotaufstrich. Die Kellner probieren ihre bodenlangen, roten Schürzen an, nehmen sich Notizblöcke und werden nachher Bestellungen aufnehmen, bedienen und kassieren. Die Währung ist der MiMü. Den gibt es für die Arbeit. Es gibt auch ein Finanzamt, eine Bank und eine Börse. Der MiMü Ökonomie werden wir noch nachgehen.
Erstaunlich ist die Hingabe der Kinder. Jeder findet seinen Platz, bleibt für ein paar Stunden, dann kann gewechselt werden. Die meisten in der Küche wollen dort bleiben. Andere wollen aber auch in der Küche arbeiten. Vielleicht ein Thema für die Bürgerversammlung am Nachmittag? Da können allerdings nur Vollbürger abstimmen. Die Vollbürgerschaft kann nach vier Stunden Arbeit, vier Stunden Studieren und einem „Zoff-Kurs“ beantragt werden. Der Zoff-Kurs? Den kriegen wir später.
Das Durchgängige bei all dem: Die Kinder sind präsent. Sie sind wirklich da, mit dem Körper und – sagen wir – mit der Seele. Leib und Seele. Der empfindsame, gleichsam mitdenkende Leib ist ja noch was anderes als der physikalische Körper. Die Kinder sind nicht in dem Status des rasenden „Um-zu“, der in der Schule üblich ist und die Gesellschaft mehr und mehr dominiert. Dieses ewige Hase und Igel Spiel, bei dem man nie richtig ankommt. Vielleicht ist das die starke Gravitation in Mini-München: Etwas Folgenreiches zu machen, in diesem Kosmos gebraucht zu werden. Hier seinen Platz zu haben, einfach die Chance ganz da zu sein, sein Ding zu finden, für eine Weile und dann immer weiter zu suchen und auszuprobieren.
Was das bedeutet wird an einem Kontrast deutlich. Ein Text von Anna Rosina. Im Sommer 2015 meldet sich die fünfzehnjährige Anna-Rosina Weindl aus dem Allgäu mit einem umfangreichen Essay im Internet zu Wort. Ein Aufschrei. (www.adz-netzwerk.de/Anna-Rosina.php) „Unsere Schulen ähneln eher Fabriken als den Bildungsrichtungen, die einst nur zu einem Zweck erdacht wurden: um jungen Menschen zum Reifen zu verhelfen. Ich werde nicht mehr als Unikat gesehen sondern als eine von vielen.“
Sie leidet an einem Alltag aus lauter Um-zu-Strategien. Sie soll Wasser trinken, um keine Kopfschmerzen zu bekommen. Sie soll nach draußen an die frische Luft gehen, um ihre Konzentration zu verbessern. Sie soll früh ins Bett gehen, um morgens in der Schule wach zu sein. „Die ‚normale Schule‘ entzieht mir das Recht ich zu sein und fordert mich auf jemand zu werden, der ich nicht sein will, in einem System, das nicht zu mir passt.“ In diesem Netz aus lauter Funktionen droht das, was einen Wert in sich selbst hat, was kein Mittel zum Zweck ist, entwertet zu werden und zu verschwinden.
Manche glauben kaum noch, dass es eine Wirklichkeit außerhalb dieses Geflechts gäbe. „Alles worauf man sich konzentriert, wenn man eine Schule besucht, ist die Schule. Irgendwie hängt alles daran. Sogar die Erholung dient nur dem Zweck, sich wieder besser auf die Schule konzentrieren zu können.“ Es geht der Schülerin bereits wie der Karikatur jenes Arbeitnehmers, der arbeitet, um Urlaub machen zu können, und der Urlaub macht, um arbeiten zu können. Wenn er arbeitet, ist er nicht bei der Arbeit. Und wenn er Urlaub macht, ist er nicht im Urlaub. Er ist immer anderswo. Nur nicht bei sic. Und auch nicht bei der Sache. „Ich habe den Eindruck als würden uns die Schulen und Universitäten heutzutage genau sagen“, schreibt Anna-Rosina, „wie unser Leben einmal auszusehen hat. Und weil wir das Ergebnis schon vorgelegt bekommen, müssen wir nicht mehr darüber nachdenken, wer wir sind und was wir im Leben wirklich wollen.“ Sie hat eine Liste von Handlungen zusammengestellt, die sie einfach nur tun möchte.
Draus ein Auszug:
„Ich möchte einmal Orangensaft trinken, ohne zu hören, dass ich ihn brauch, um gesund zu bleiben.
Ich möchte einmal ein Zitat von Platon nachschlagen, einfach nur so, ohne es danach auswendig können zu müssen.
Ich möchte wieder einmal etwas lernen, ohne es zu müssen.
Ich möchte einmal, dass jemand sieht wie toll ich schreiben kann.
Ich möchte einmal ankommen.
Ich möchte einmal ICH sein.“