Wunde, Wunder, Punkt.

Für uns Hamburger war das Wendland erst mal so etwas wie eine Landpartie, politisch und bald auch etwas revolutionsfolkloristisch. Außerdem privat und später manchmal auch etwas eskapistisch. Schließlich kulturell: Die Kulturelle Landpartie! Manchmal  allerdings wurden wir des Kunsthandwerks und KLP-Tourismus etwas überdrüssig.

Aber wie ein Wasserzeichen blieb immer dieses schöne Wort: Wunderpunkt. Dieser Ur-Sprung,  Wunde und Wunder. Beides.

Die Wunde. Unvergessen der Satz von Franz Kafka: „Diese wunderschöne  Wunde, mit der ich auf die Welt gekommen bin, das einzige, was ich habe.“ Die Alternative zur Wunde – zumal zur schlecht verheilten – ist die Narbe. Verwachsenes, gefühlloses Gewebe. Die Wunde ist empfindlich. Sie kann sogar wie ein Atmungsorgan sein. Nicht nur für Dichter oder Künstler. „Zeigt her eure Wunde“, verlangte Josef Beuys – und später Christoph Schlingensief.

Wunder gibt es auch für eine Atheistin wie Hannah Arendt: „Jeder neue Anfang wird zum Wunder, wenn er von dem Standpunkt der Prozesse, die er notwendiger Weise unterbricht, gesehen und erfahren wird.“

Die Philosophin, die ungern so genannt wurde, wehrte sich gegen den religiösen Zauber, der das Wunder vereinnahmt, es klein, zur Ausnahme und unschädlich macht. „Bereits die Entstehung der Erde ist eine unendliche Unwahrscheinlichkeit, wie die Naturwissenschaftler sagen – ein Wunder, wie wir sagen würden.“

Radikaler und pragmatischer werden! Beides! Also politischer werden. Uns gegenseitig überraschen! Wunder ermöglichen. Die Wunde nicht überspielen. Sie zum Thema machen! Das versuchen wir seit 2016 mit dem Wunderpunkt in unserer Scheune in Brünkendorf auf dem Höhbeck. Auch weil wir ein bisschen unzufrieden mit den vielen Räucherstäbchen & Co. auf der KLP waren, haben wir begonnen, das zu machen, was uns fehlte und was wir meinen ganz gut zu können.

Gastgeber sein und zu Gesprächen einladen. Denn, „was ist erquicklicher als das Licht?“ fragte ein häufig zitierter Dichter und antwortete: „Das Gespräch!“ (Goethe war´s.) Dabei helfen Erfahrungen und Kontakte 20 Jahre als Gastgeber des Philosophischen Cafés im Hamburger Literaturhaus.

Im ersten Jahr hieß unser Motto: Wurzeln und Flügel.  Dann ging es 2017 weiter: Kleine Schritte – Weiter Horizont. 2018: Zum Leben verabreden!  2019: Du sollst nicht funktionieren! Vita Activa. Vom tätigen Leben. 2020: Der Boden unter unseren Füßen. Was dann allerdings wegen Corona ausfiel, wie auch das Vorhaben für 2021 Trotz alledem. 2022 haben wir zum Basislager Bildung eingeladen. Und nun, 2023 holen wir das Vorhaben von 2020 nach: Der Boden unten unseren Füßen.

Denn ist es nicht ein Wunder, dass auf einer Schaufel Humus mehr Lebewesen gezählt werden als Menschen auf dem Globus? Und dieser fragile, dünne Boden wird dem großen Weltverbrauch geopfert! Auf unserer Erde, der einzigen, sind 20 Prozent der Agrarflächen schon biologisch tot.

Auch der soziale Boden erodiert. In München sind Grundstückspreise seit 1950 um 39390 Prozent gestiegen. Kein Druckfehler. Und den Grundstückspreisen folgen die Mieten: Sie sind in letzten zwei Jahren in München um 21 Prozent gestiegen, erkläre im März 2023 der Oberbürgermeister bei der Vorlage des Mietenspiegels.

Vielen Menschen schwankt der Boden unter ihren Füßen. Manchen bricht er weg und sie klammern sich an Trugbilder von angeblicher, verlorener Sicherheit.

Mit den Gesprächen in unserer Scheune sind wir dem guten Leben auf der Spur. Wie bekommen wir lebendige Erde und festen Boden unter unsere Füße? Wie schaffen wir im Zusammenleben die Sicherheit, die wir brauchen, um Unsicherheit und Neues wagen zu können? In welcher Welt und in welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Wir brauchen Geschichten vom gelungenen Leben. Und wir brauchen Ideenküchen, in denen Neues gären und garen kann. Orte, die mit Leben anstecken und an denen die  Grammatik einer etwas anderen Polytik entsteht.

Also Wend-Land! Fruchtbare Polder schaffen! Polder in der Art der holländischen Landgewinnung. Und zugleich den Blick zum Horizont weiten!

Setzen wir also gegen die fertige Welt die Wunde und das Wunder.