Warum kann Thomas Roth nicht mal den Mund halten?

Sonnabendmorgen (23. Juli)  6´30. Nun wissen wir etwas mehr darüber, was gestern in München passiert ist. Es war ein einzelner, ein Amokschütze, ein 18jähriger Deutschiraner, der um sich schoß. Tote und Verletzte. Zuletzt richtete er sich selbst.

Aber was war gestern Abend in den Medien los! Zum Beispiel auf NDR Info. Da schwadroniert Thomas Roth. Thomas Roth, der Tagesthemenmann am Rundfunkmikro? Es ist offenbar der Fernsehton. Es muss Dramatisch im Gange sein. Größte Aufregung. Nervosität. Aber was wird in der Sendung geklärt? Weil man nichts genaues weiß, außer dass in München Menschen erschossen worden sind, Züge sind gestoppt und der Verehr wird umgeleitet, weil auch in München niemand genau weiß, was da passiert ist, spielt Roth in Interviews und Selbstgesprächen alle Möglichkeiten durch. Als erstes kommt er immer wieder auf den Islamischen Staat oder einfach auf „den Islamismus“. Dann bringt er auch einen möglichen rechtsradikalen Hintergrund ins Spiel. Nicht ausgeschlossen ein Einzeltäter. Natürlich räumt Roth ein, dass niemand nichts genaues weiß und dann spekuliert er munter weiter – mit so einem merkwürdigen Grinsen in der Stimme. Schöne Beute heute?

Es muss ja geredet, geredet und interviewt werden. Warum eigentlich? Warum kann niemand, solange er nichts genaues weiß, es nicht bei dem Nichtwissen belassen, statt ständig zu verdächtigen? Warum kann Thomas Roth nicht den Mund halten? Warum verbreitet der Sender Gerüchte, indem Menschen interviewt werden, die auch nichts wissen und zu haltlosen Vermutungen gedrängt werden? Warum können die Medien nicht einfach schweigen?

8´14 Uhr, NDR Info: „… bisher gibt es noch keinen Hinweis auf einen islamistischen Hintergrund…“ Was bedeutet dieses Wort „n o c h“? Was bewirkt es?

8´30  Die Süddeutsche Zeitung: Carolin Emkes  Kolumne heute fast seherisch über den Irrwitz von Medien, die wenig und oft gar nichts klären, aber eine „rauschhafte Nervosität“ erzeugen. Das ist es, was wir gerade erleben, eine rauschhafte Nervosität.

10´05  Deutschlandfunk:  Die Sendung Rock Pop etcetera wird gekürzt, um all das, was zuvor schon in den Nachrichten gesagt worden ist, in einer Sondersendung „Deutschlandfunk aktuell“ mit verteilten Stimmen aus dem Studio, von Korrespondenten und in Interviews noch mal zu sagen. Besonderes Augenmerk liegt auf Terrorismusexperten. Deren Mobilmachung hat jetzt begonnen. Das Sicherheitskabinett der Bundesregierung kommt zusammen mit Verfassungsschutz, Bundespolizei, auch der Verteidigungsministerin. Ständig allerhöchste Alarmstufe. Der Innenminister gerade in New York angekommen, gleich schon wieder auf dem Rückflug.

Mittags in allen Nachrichten und im Internet: Es war tatsächlich ein Einzeltäter. Offenbar ein depressiver. Einer der in seinen Suizid viele mitnehmen wollte. Man denkt an den Piloten der German Wings. Wie der Pilot war der 18jährige Schüler David S. in München wohl in psychiatrischer Behandlung. Er ist in München geboren und dort aufgewachsen. Bei ihm zu Hause wurde ein Buch mit dem Titel: „Amok im Kopf – warum Schüler töten“ gefunden. Über Facebook hatte er andere Jugendlich in das Lokal gelockt.

Rückblick: Mitte der Woche war es der Ausgerastete in Würzburg. Jetzt David S. in München. Vielleicht blickte David S. auf den norwegischen Attentäter Andres Breivik. Dafür spricht der Tag, der fünfte Jahrestag des Gemetzels auf Utøya.

Es ist wohl so, dass mit jeder Tat dieser Art eine ähnliche Tat wahrscheinlicher wird.  Ein Tabu wird durchlöchert. Wie könnte diese Erosion unterbrochen werden? Wie? Klar ist nur, was die Wahrscheinlichkeit solcher Taten erhöht. Wenn jemanden nichts mehr am Leben hält, einer der sich vielleicht nie wirklich lebendig und stark gefühlt hat, und wenn der sich vorstellt, wie es wäre noch mal ganz groß raus zu kommen und sich zu rächen? Einmal soll die Welt den Atem anhalten. Wie das funktioniert haben wir nun wieder erlebt. Wen auch erst posthum, aber  einmal im Rampenlicht stehen. Sich das vorstellen und wohl schon halluzinieren: Ein Held oder ein Rächer seine. Jedenfalls für einen Abend kein Niemand sein.

17´00 Nachrichtern im DLF: Vom Terror ist nun keine Rede mehr. Innenminister Thomas de Maizère weist jetzt auf die Gefährdung ichschwacher Menschen hin. Man weiß nicht, ob „Gefährdung ichschwacher Menschen“ das Subjet oder Objekt ist. Gefährden sie andre oder sind sie gefährdet? Das Ungefähre passt zur „rauschhaften Nervosität“, von der Carolin Emke schrieb. Zu den „ichschwachen“  wird es nun noch viele Interviews mit Experten, Politikern und möglichst authentischen Zaungästen der Tat und des Täters geben.

Helfen könnte Trauer. Innenhalten. Schweigen. Eine Unterbrechung. Vielleicht fühlt sich manch einer weitläufig mit David S. verwandt? Immerhin war es Thomas Mann, der  über den „Bruder Hitler“ schrieb. Der New Yorker Psychohistoriker Lloyd de Mause meinte, niemand könne einen Hitler begreifen, der nicht wenigstens Spuren von ihm in sich findet. Etwas von von diesem riskanten Versuch in die Statements und Kommentare eingestreut und wir könnten klarer sehen.

Trauer auch um den Täter! Er ist ein furchtbarer Täter und bestimmt nicht nur ein Opfer. Aber er ist auch nicht nur der Täter.

Was wäre denn ein Anfang von Trauer? Es wäre zumindest der Versuch die Position des geilen Zuschauers und des Schnellwissers zu verlassen. Das „passive Zuschauen in Echtzeit“ von der Carolin Emke auch in ihrer Kolumne spricht  und die „rauschhafte Nervosität“ überwinden!

17´13, DLF: Der ARD Mann Ulrich Deppendorf plädiert für einen 24-Stunden-Nachrichtenkanal der ARD im Fernsehen.

Heute wird nichts mehr totgeschwiegen sondern totgeredet.

Sonntag, 24. Juli, mittags: Es geht weiter mit der Suche nach Ursachen.  Thomas de Maizère ist jetzt bei den Computerspielen, die Gewalt verherrlichen. Man sollte sich das Wort „Ursache“ einen Moment lang im Hirn zergehen lassen, die Ur-Sache. In den Sprechweisen der Schnellinterpreten ist sie äquivalent mit „Schuld“. Man müsse dieser Ursache eben an die Wurzel gehen, sagt man, dann weiß man was zu tun ist, dann ist die Sicherheit zurück.

Also die Computerspiele. Was ist dran? Der Medieninformatiker Maic Masuch (Uni Duisburg-Essen) hat umfangreiche Studien zur Wirkung von Computerspielen durchgeführt. Er hat auch zusammengefasst, was andere Wissenschaftler dazu herausgefunden haben. Zu de Maizières Behauptung sagt er dem Online Portal der Süddeutschen Zeitung: „Kein vernünftiger Wissenschaftler kann das mit einer solchen Sicherheit behaupten. Und wenn das kein Wissenschaftler kann, dann kann das auch kein Minister.“

Aber damit kann ja kein Politiker Aufmerksamkeit gewinnen und sich Platz auf der Agenda verschaffen.

Aus der Agenda wird wieder mal eine Kampfzone. Jetzt auch im ARD  „Presseclub, der im Augenblick, da ich dieses schreibe,läuft. In der ersten halben Stunde ist dort das Thema „München“ über „Würzburg“ bei „den Flüchtlingen“ angekommen. Man streitet sich um Tatsachen. Tatsachen? Sie werden wie Munition benutzt. Zum Thema Tatsachen hole ich noch mal die Kolumne von Carolin Emke in der SZ am Wochenende aus dem Zeitungsstapel. Sie schließt mit einem Zitat von Ludwig Wittgenstein: „Tatsachen gehören alle zur Aufgabe, nicht zur Lösung.“