Anstiftung zum Selberdenken

Erfolgsgeschichte:
Reinhard Kahl moderiert heute das 91. philosophische Gespräch.

Von Lutz Wendler

Der Titel war anders gemeint, aber im Nachhinein ließe er sich auch als programmatische Botschaft zum Start einer neuen Reihe lesen: „Ich bin viele“ behauptete das erste „Philosophische Café“, zu dem Gastgeber Reinhard Kahl am 14. Januar 1999 den Gießener Philosophen Odo Marquard ins Literaturhaus eingeladen hatte. Tatsächlich steckte in diesem ersten Abend der Keim für viel, viel mehr.

Heute feiert das „Philosophische Café“ mit der 91. Veranstaltung sein zehnjähriges Bestehen. Dass der Beginn rasch vom Ich zum Wir, zu Gott und der Welt führte, lässt sich an Programm und Gästen ablesen. Heute geht’s um philosophische Aspekte der Finanzkrise: Die Gebrüder Ralph und Stefan Heidenreich sprechen über das Thema „Mehr Geld! Noch mehr Geld?“.

Der Erfolg der Reihe, die nicht nur bei bekannten Größen wie Safranski, Sloterdijk oder Alexander Kluge für ein ausverkauftes Literaturhaus sorgt, lässt sich nicht allein mit dem Bedürfnis nach Orientierung in unsicheren Zeiten erklären. Denn fertige Antworten sieht das Konzept von Reinhard Kahl nicht vor: „Obwohl alle der Wahrheit verpflichtet sind, gibt es keine zwei Philosophen, die gleich gedacht haben. Philosophie ist das, was Hannah Arendt Pluralität nannte. Jeder Mensch ist anders und deutet die Welt durch sein individuell geschliffenes Prisma hindurch.“

Das Sesam-öffne-dich zu wahrhaft philosophischer Erkenntnis ist für Kahl das Gespräch. Er befragt den Gast, das Publikum kann bei der Verfertigung von Gedanken beim Sprechen nicht nur zuhören, sondern soll sich einmischen, was im Idealfall einen gemeinsamen Reflexionsraum eröffnet. „Ein Gespräch kann eine Bühne sein“, sagt Kahl. „Das Ereignis hat eine Einmaligkeit, und wenn dabei etwas Wesentliches entsteht, hat es die Ewigkeit des Augenblicks.“

Zuhörer sollen nicht bekehrt werden durch große Gedanken, sondern angestiftet werden zum Selberdenken. „Das hilft gegen ängstliches Nachplappern und das epigonale Hauptrauschen in unserer Alltagswelt.“ Vom Publikum wird in der Diskussion nicht die Versiertheit des Spezialisten erwartet, sondern „Nachdenklichkeit und gute, klare Umgangssprache“ – was Kahl mit einem Einstein-Zitat illustriert: „Alles so einfach sagen, wie es geht – aber nicht einfacher.“

Das alles gelingt nicht immer, denn Kahl lädt Gäste ein, deren Thema vielversprechend ist, wohingegen ihre Eignung fürs öffentliche Gespräch sich oft erst am Abend zeigt. „Nicht jeder ist gesprächsfähig, manche monologisieren langatmig, andere wollen die Zuhörer in ihrem System alphabetisieren.“ Volles Vertrauen hat Kahl jedoch in die Urteilsfähigkeit seines Publikums: „Das ist erfreulich gemischt, vom Schüler bis hin zur alten Frau. Was mich besonders erfreut, sind so viele Gesichter, die Lebendigkeit, Glanz, Interesse ausstrahlen, also eine innere Schönheit.“