„All das, was dem Menschen der Vormoderne Halt und Heim zu sein schien: weggeblasen. Das Individuum steht nun allein in der Pflicht für seine Welt andere zu begeistern, das heißt – denn allein will keiner bleiben – eine neue Gemeinschaft zu finden.“ Maximilian Probst
Für die Generationen der 68er und deren Nachfolger, die aus einem antiautoritären Impuls aufbegehrt und sich so gebildet haben, waren Wörter wie Verbindlichkeit oder Haltung verdächtig. Dafür gab es gute Gründe. Haltung erinnerte an Haltung annehmen und Militär. Verbindlichkeit schien eine Floskel für Kandare, fast von Freiheitsberaubung. Aber für Schulden. Solche Sekundärtugenden wurden verneint. Aber was, wenn in der Position von Verneinung verharrt wird, wenn die Geste erstarrt? Dann wird erneut die Verneinung nötig.
Maximilian Probst wurde 1977 in Hamburg geboren, wo er Philosophie, Geschichte und Germanistik studierte. Danach arbeitete er in Wien für den Passagen Verlag, übersetzte Werke von Paul Virilio, Alain Badiou und Slavoj Žižek. Seit 2011 schreibt er vorwiegend für die „Zeit“. Seine Artikel sind nie routiniert. Ob es um den Erdölsumpf geht, der Trump und Putin verbindet, um die Philosophie des Radfahrens, ums Gehen, um den Garten, um das Aristokratische an den Bewegungen eines Tennisspielers oder um Joggende Manager, an denen er zeigt, wie man das Richtige zielgerichtet falsch machen kann.
«Es ist eine seiner großen Qualitäten, dass er verbindet, was man nicht verbinden kann: das Zeitgebundene und das Zeitlose.» (Urteil der Jury des Clemens-von-Brentano-Preises)
Anfang des Jahres erschien sein Buch Verbindlichkeit im Rowohlt Verlag.
Probst schreibt:
Die Verbindlichkeit hat als Symbol den Handschlag. Hier hast du mein Wort, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, den Bund, den wir eingehen, zu halten. Aber es steht keineswegs alles in unserer Macht! Dass die Verbindlichkeit nicht mehr sozioökonomisch gedeckt ist, sondern jeder sie aus eigener Kraft aufrecht erhalten muss, bedeutet auch: Wir können ihr Scheitern nicht ausschließen. Wir müssen darauf hoffen, dass uns gelegentlich vergeben wird.
Das ist es, was sie zu einem Schlüsselbegriff unserer Zeit werden lässt: Sie weist jeglichen Fundamentalismus zurück….
Verbindlichkeit kann nicht bei den Menschenrechten halt machen kann: Sie muss auch auf kommende Generationen und deren Existenzbedingungen bezogen sein, auf die Ökologie. Ja, sie muss in letzter Konsequenz noch über den Menschen selbst hinausreichen, um ihn, neben nicht-menschlichem Leben, als Teil der Existenzbedingung der Welt im Ganzen zu umfassen. Ob uns notorisch selbstverliebten Menschen das gelingt? Danach sieht es zurzeit nicht aus. Aber es könnte nicht schaden, würden wir die Verbindlichkeit gegenüber der Natur überhaupt einmal anerkennen und ihr Gegenteil, das unverbindliche Tun und Lassen im eingeschliffenen Gefühl der Folgenlosigkeit, als eine der großen mörderischen Ideologien unserer Zeit demaskieren.
Aber was folgt daraus? Im Alltag meistens ein Zielkonflikt. Soll ich zum Termin nach München fliegen? Jeder weiß: Der CO2-Ausstoß ist beim Flugzeug um ein Vielfaches höher als bei Bahn und Bus. Jeder weiß: Die CO2-Emissionen befördern den Treibhauseffekt und heizen das Klima an. Jeder weiß: Die Erderwärmung geht mit Überschwemmungen, Dürreperioden, Hungersnöten und Wirbelstürmen einher. Jeder weiß: Vor allem auf der Südhalbkugel verlieren Menschen deshalb ihr Leben. Aber keiner will etwas davon wissen, sagt man ihm, sein Flug nach München sei keine so gute Idee.
Wie kann das sein?
Es kann sein, weil es dafür zwei ausgefeilte Strategien gibt, die immer schnell zur Hand sind. Die erste Strategie lässt sich als Adiaphorisierung bezeichnen. Der Soziologe Zygmunt Bauman versteht unter diesem Begriff einen Prozess, der moralische Gefühle zu neutralisieren vermag. Das geschieht, indem eine konkrete Tat herausgelöst wird aus der Kategorie der Handlungen, die einer moralischen Beurteilung unterliegen. Bauman macht für diesen Vorgang hauptsächlich die moderne Bürokratie und Technik verantwortlich. Es sei geradezu Kennzeichen der Moderne, „die moralische Verantwortung vom moralischen Ich auf gesellschaftlich konstruierte und verwaltete überindividuelle Agenturen zu verlagern oder durch eine freischwebende Verantwortung innerhalb einer bürokratischen ‚Niemandsherrschaft‘ zu ersetzen“.
Die zweite geradezu klassische Strategie, moralische Gefühle zu betäuben, besteht im Wegschauen. Ich habe beispielsweise noch nie einen Klimatoten gesehen, ertrunken, verdurstet, verhungert. Wie auch? Ich habe noch nie die südliche Halbkugel betreten. Das alles ist weit weg. Und was man davon hört, erreicht uns über die Medien. Auch die müssen wir nicht lesen, den Artikel in der Zeitung überblättern wir einfach, haben gerade keine Zeit dafür, der Fernsehsender lässt sich wechseln, wenn es droht, unangenehm zu werden, irgendein besserer Film kommt immer. Und: Stimmt es überhaupt, was in den Zeitungen steht, was über den Bildschirm eilt? Wir zweifeln, wir haben ja gelernt, an allem zu zweifeln. Warum nicht auch daran? Stimmt das überhaupt mit der Erderwärmung und dem CO2, haben die Dürreperioden vielleicht andere Gründe, ist nicht meist irgendein afrikanischer Despot schuld? Ruckzuck ist unser Teil der Verantwortung für die Stürme, Überschwemmung und Dürre versunken, vertrocknet, verweht. (Aus dem Buch Verbindlichkeit mehr Leseproben hier https://www.rowohlt.de/download/file2/row_upload/3499154/LP_978-3-498-05244-7.pdf.)