Migration ist eine kreative Situation. Und eine schmerzhafte. Wer die Heimat verlässt (aus Zwang, oder aus freier Wahl, beides ist schwer zu unterscheiden), leidet. Denn tausend Fäden verbinden ihn mit der Heimat, und wenn diese durchschnitten sind, ist es, als hätte ein chirurgischer Eingriff stattgefunden, schrieb Vilem Flusses 1994 in seinem Buch Von der Freiheit des Migranten, Einsprüche gegen den Nationalismus (Bollmann Verlag).

Flusser war zeitlebens Migrant. Er sah diese Erfahrung nicht nur als schmerzlich an, sondern als Möglichkeit neue Erfahrungen zu machen und als Chance die (schmerzhafte) Trennung zu überwinden und sich sein eigenes Leben und seine Nächsten frei zu wählen. Dabei verwandelte Flusser die Frage frei wovon? in die Frage  frei wofür? Denn der Mensch ist frei, weil er sich mit einer unvorhersehbaren und unerklärlichen Bewegung gegen seine Bedingungen empören kann und sie verändern kann.

Flussers Theorie des Mirgranten ist nicht aus der Fernsicht auf die Welt entstanden, sondern am eigenen Leib.  Er beglaubigt sie mit seiner Praxis. Er brachte ideenreich Neues zur Welt. Als Autor, also Urheber, aber auch in alter Philosophentradition wie eine Hebamme, die Geburten ermöglicht, die sie weder gezeugt noch ausgetragen hat.

Gewiss ist seine Biographie privilegiert im Vergleich zu den Elends- und Kriegsflüchtlingen heute. Der in Prag geborene musste  1939 vor den Nazis fliehen. Über London gelangte er 1940 schließlich nach Brasilien, wo er bis 1972 blieb. Aber auch aus Brasilien musste er aufgrund der dort herrschenden Diktatur emigrieren, bis er sich nach einem einjährigen Zwischenaufenthalt in Meran schließlich in Robion, Südfrankreich, niederließ. Frei zu sein bekam für ihn eine ganz buchstäbliche und zugleich hoch metaphorische Bedeutung.  Wir Migranten sind die Fenster, durch welche die Einheimischen die Welt sehen können… A man is not a tree.  Die  Freiheit des Migranten hat somit etwas Paradigmatisches. Sie bedeutet los zu lassen und sogar der geheimnisvollen Fäden, welche ihn an die Heimat binden, abzuschneiden. Dieser Schnitt ermöglicht auf den geheimnisvollen und zunächst bedrohlichen Fremden zuzugehen. Er ermöglicht es eine völlig neue Welt zu sehen und zu erfahren.

Damit ändert sich der Begriff von Heimat. Wohnen kann der Mensch überall und irgendwo muss er ja auch wohnen. Aber Heimat? Sind das am Ende nicht vor allem die anderen? Jedenfalls ist es nicht die eine „Heimat“. Die wurde erst komplementär zu den Vertreibungen in der Moderne erfunden. Dazu gehört auch die Flucht vom Land in die Städte.  Vor allem verwirft Flusser die Nation als Mega-Heimat. Er fragt, was ist die Nation? Von Frankreich aus gesehen ist jeder Staat ein Nationalstaat, weil ‚Nation‘ statt ‚König‘ steht. Von Deutschland aus (von wo das ‚Volk‘ herkommt) gibt es drei Staatstypen: 1) ein Volk, ein Reich und womöglich ein Führer, 2) ein Volk und einige Reiche und 3) ein Reich und mehrere Völker.

Das sind Überlegungen des 1920 Geborenen und 1991 bei einem Unfall tragisch Umgekommenen, die nun wieder aktuell werden: Der Nationalismus ist ein Gespenst, das in verschiedenen Gestalten aus dem Abgrund auftaucht, der sich beim Zusammenbruch der politischen Vernunft (raison d‘ etat) öffnet und es ist ihm mit Vernunft nicht beizukommen.

Wir werden an Hand von Textauszügen Gedanken von Flusser diskutieren, ihnen widersprechen, sie modifizieren, kurz: sie uns tätig aneignen. Dabei wird auch ein brandneuer Text eine Rolle spielen. Der Berliner Autor Daniel Schreiber hat einen erhellenden Essay geschrieben: Zuhause – Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen: War das Gefühl des Zuhauseseins früher mit dem konkreten Ort verbunden, aus dem wir stammen, schreibt er, ist es heute eher mit einem imaginären Ort verknüpft, zu dem wir hinwollen.

Wenn es stimmt, dass Menschen Wurzeln und Flügel brauchen, wie Goethe in Anlehnung an persische Traditionen schrieb, ist diese Spannung heute gefährdet und häufig abhanden gekommen. Sind die Wurzeln gekappt, werden die überanstrengten Flügel bald lahm.

Der Essayist und Kunstkritiker Daniel Schreiber, dessen Arbeit über Susan Sonntag international Resonanz fand und der in seinem sehr persönlichen Essay Nüchern. Über das Trinken und das Glück Auskunft gab, berichtet von seiner Einsamkeit an den vorübergehenden Sehnsuchtsorten New York und London und spürt seinem „zuhauselosen Zuhause“ in Mecklenburg-Vorpommern nach, um sich in Berlin schließlich eines zu schaffen.

Allerdings, schreibt er: Manchmal müssen Dinge, die zerbrochen sind, auch zerbrochen bleiben. Manche Dinge gehen im Leben nicht auf. Er fragt, ob in der Wurzellosigkeit eine Form von Würde liegt und begnügt sich dann mit einem Zuhause, das gut genug ist. Dieses gut genug entlastet und ist kein letztes Wort: Zu Hause sein bedeutet unvollkommenes und beständiges Ankommen, ein Ankommen, von dem wir uns selbst immer erzählen müssen.