„Zeit verlieren heißt Zeit gewinnen“

„Jeder bekommt jetzt ein DIN-A 4-Blatt.³ Der Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer klingt plötzlich wie ein Oberlehrer. „Sie haben eine Viertelstunde Zeit. Schreiben Sie auf, was Sie von der Mathematik der Oberstufe können.³ In der Stadthalle in Schwäbisch Gmünd sitzen mehr als 1000 Menschen. Der Direktor der Psychiatrischen Universitäts-Klinik in Ulm und Gründer des „Transferzentrums Neurowissenschaften und Lernen³ blickt lauernd in den Saal. Bald beginnt er zu lächeln. Beim Publikum löst sich die Anspannung in einer Woge donnernden Lachens – die meisten hätten nicht mal zwei Minuten gebraucht, um die kärglichen Reste von Vektorrechung und Stochastik zusammenzufegen.

Mit einem Mal scheint die Lebenslüge der Normalschule entlarvt. Lernt der Mensch tatsächlich für die Zukunft? In Schwäbisch Gmünd zeigt Spitzer seinen Zuhörern, dass immer nur das Wissen abrufbar ist, was man verdaut und sich einverleibt hat. Das andere wird vergessen. Aber immer bleibt der eingeübte Habitus. Manch einer verkörpert sein Leben lang, dass er in den Klassenräumen vor allem gelernt hat, intelligent zu gucken, statt vermeintlich dumme Fragen zu stellen.

Schüler, die von ihren Lehrern wissen wollen, warum sie dies oder jenes lernen sollen, bekommen häufig noch die alte Antwort: fürs spätere Leben.

Wirklich? „Alle arbeiten sie für die Zukunft, dieser opfern sie ihr Daseyn; und die Zukunft macht Bankrott.³ Für dieses Verdikt des Philosophen Arthur Schopenhauer ist die Schule ein Paradefall.

Was verstehen wir unter Zukunft? Aufschlussreich ist die japanische Tradition. Sie hat für Zukunft kein Wort. Zukunft ist eine Lücke, die man in der Gegenwart lässt, damit sich in ihr das Neue, nicht Vorhersehbare einnisten kann. Das sind Momente radikaler Gegenwart. Eine Zukunft, die man plant, die man schon genau zu kennen meint, ist gar keine. Sie wäre nur ein aus der Vergangenheit projizierter Wunsch oder eben Tradition, ohne die es natürlich auch nicht geht.

Über Zukunft und Lernen lässt sich ohne Paradoxien nicht sprechen. Schulen sind dann am besten, wenn die Schüler ganz gegenwärtig sind. Sind sie hellwach und ganz bei sich, fließen die Ideen. Dann nehmen sie neues Wissen auf. Dann entwickeln sie ihre eigenen Strategien. Dann werden Probleme in Lösungen verwandelt und so entsteht Zukunft. Man muss Kindern nur zusehen, wie sie selbstvergessen spielen, ganz ähnlich wie Wissenschaftler forschen oder Künstler arbeiten.

Kinder, Wissenschaftler und Künstler sind verwandt. Sie sind Profis im Lernen, Forschen und Formen des Neuen. Albert Einstein nannte sich das „ewige Kind³. Oder Mozart: Ein Notenkopist bräuchte etwa 99 Jahre, um dessen Werk zu kopieren. Mozart aber hat keine 30 Jahre komponiert. Wie kann das gehen? Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann, ohne Mozarts Begeisterung und die Versenkung ins Spiel mit einzubeziehen. Wenn Mozart nicht komponiert oder musiziert hat, hat er Karten gespielt, Pölzel geschossen oder ist wie ein Kind durch den Mirabellgarten getobt.

Die große Epoche des Homo faber, des durch reproduktive Arbeit definierten Menschen, läuft aus. Homo ludens kommt wieder mehr zu seinem Recht. Und zwar nicht erst am Feierabend. Die Arbeit selbst braucht Spielräume, wenn sie in einer Wissensgesellschaft produktiv sein soll.

Wie könnte eine Schule für die Wissensgesellschaft aussehen? Zum Beispiel wie in der siebten Klasse der Bodensee-Schule in Friedrichshafen, einer katholischen Grund-, Haupt- und Realschule: Noch vor acht Uhr kommen die Schüler, begrüßen ihren Lehrer mit Handschlag, gehen an ihre Tische, sagen anderen „Hallo³ und machen sich an die Arbeit, ohne dass es geklingelt hätte. Ohne Kommando, als wäre das Lernen ihre eigene Sache.

„Die zentralen Prüfungen nach der neunten Klasse erledigen unsere Schüler mit einer Hand,³ sagt Alfred Hinz, der stolze Rektor. Die einzelnen Fächer hat er abgeschafft und stattdessen Projekte eingeführt, vernetzten Unterricht und eben die freie Arbeit. An jedem Morgen die ersten drei Stunden. Jeder Schüler arbeitet an seiner Sache es ist eine Zeit höchster Konzentration. Der Lehrer geht herum, ist hauptsächlich Beobachter. Er hilft, stachelt an und bespricht kommende Aufgaben.

In dieser Schule soll jeder Schüler seine Eigenzeit finden. Lernen ist etwas Diskontinuierliches und Individuelles. „Genauso individuell wie die Liebe³, sagt Hartmut von Hentig, der Doyen der deutschen Pädagogik. Im herkömmlichen Unterricht stören Schwierigkeiten, Fehler oder Missverständnisse nur.

Tatsächlich sind sie das Salz des Lernens. Jeder lernt anders und wer auf seine Weise lernt, lernt am besten. Individualisierung und Zusammenarbeit, heißt das Motto solcher Schulen. Der Respekt vor der Eigenzeit der Schüler soll ihren Eigensinn fördern.

Schulen wie die Bodensee-Schule, von denen es in Deutschland zwar noch viel zu wenige, aber doch immerhin schon eine ganze Reihe gibt, „lernen selbst am meisten von ihren schwierigen Schülern³, fand der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser von der Universität Jena heraus. Eine Voraussetzung dafür ist, dass Lehrer ihre Schüler kennen und sich für sie interessieren. Die häufig als etwas Unscharfes und viel zu Weiches verdächtigte Atmosphäre ist, wie Peter Sloterdijk einmal sagte, das Allerrealste.

Investitionen in die Räume, in die Vorbereitung und ein schier verschwenderischer Umgang mit Zeit erzeugen hohe Renditen. Bei täglich drei Stunden freier Arbeit in der Bodensee-Schule denkt man an Jean-Jacques Rousseaus Paradox: „Zeit verlieren heißt Zeit gewinnen.³ Wenn die Atmosphäre stimmt und dazu gehört vor allem, dass die Lehrer darauf verzichten, immerzu zu bewerten oder gar zu zensieren , „können sie neben dem Kind singen oder klatschen³, sagt Alfred Hinz. „Es lässt sich von seiner Sache nicht abbringen und wird seine Arbeit immer gut beenden.³ Bernhard Bueb, Leiter des nur ein paar Kilometer entfernten Edelinternats Salem, schwärmt von der Begeisterung, der Arbeitshaltung und der Konzentration der Friedrichshafener Schüler: „alles Eigenschaften, die selten sind in der Schule³.

Wie kommt es, dass Kinder ihre frohe Zukunftsfähigkeit, ihre Lust am Spiel häufig mit Beginn der Schule verlieren? Warum geben so viele Schüler das Lernen als das große und faszinierende Projekt des eigenen Lebens auf? Und warum ist diese Gruppe in Deutschland so erschreckend groß? Vielleicht, weil viele Menschen die Schule als ständigen Versuch erleben, sich einer Außensteuerung unterwerfen zu müssen. Als Reaktion darauf legt sich selbst ihre mitgebrachte Begeisterung, fremde Sprachen zu beherrschen, Mathematik zu verstehen oder das Wissen der Welt kennen zu lernen.

Eines Tages schließlich gehen Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt. Manch einer entdeckt später am Arbeitsplatz wieder den Reiz des Lernens. Heute erfahren immer mehr Menschen im Beruf die Vorteile von Teamarbeit, die ihnen in der Schulzeit vorenthalten wurde. Das sind dann Eltern, die eine andere Schule wollen. Eine Welle von Schulgründungen und Umgründungen ist in Deutschland im Gang. Future looks bright.

Dennoch sitzt das Misstrauen gegen die Lust am Lernen tief. Sind das die Narben einer Industriegesellschaft? Kein Zufall, dass Finnland heute in vielen Bereichen an der Spitze steht: Das Land hat einen großen Sprung gemacht von einer auf Verständigung und Vertrauen basierenden Agrargesellschaft zu einer nachindustriellen Gesellschaft. Das Ziel „Kommunikationsgesellschaft³ wurde sogar in die Verfassung aufgenommen. Mehr als 70 Prozent der Schulabgänger studieren. Vertrauen steigert nicht nur die Schulleistungen, sondern auch das Bruttosozialprodukt. Vertrauen und Selbstvertrauen sind die wichtigsten Medien für das Gelingen des Lernens.

Das gilt für Individuen, für Organisationen und für die gesamte Gesellschaft.

Das amerikanische Gallup-Institut fragte kürzlich in 47 Ländern, welcher Institution die Menschen am meisten vertrauen. Bei den 36000 weltweit durchgeführten Interviews stehen Schulen, Kindergärten und Universitäten an der Spitze. Das ist eine gute Nachricht. Die schlechte: In Deutschland liegt die Bildung auf Platz 11. Höchstes Vertrauen genießen bei uns die Polizei, das Militär und die UNO.

Ist es ein Zufall, dass wir Bildung in der Vertrauensskala ins untere Mittelfeld setzen auf exakt jene Position, auf die uns die Pisa-Studie international verwiesen hat? Unschwer erkennbar gehört das Misstrauen zur Physiognomie der auslaufenden Industriegesellschaft, in der man sich auf das Funktionieren in zumeist entfremdeter Arbeit vorzubereiten hatte. Schule sollte das Training dafür sein. Es ist eine Erbsünde der Industriegesellschaft, dass Kindern mit dem Ernst des späteren Lebens gedroht wird, statt sie zum Leben einzuladen. Was heute in Deutschland ansteht, ist der Übergang in eine nachindustrielle Wissens- und Ideengesellschaft. Damit sind andere Länder weiter. Deutsche Besucher in skandinavischen Schulen wundern sich: „So gute Leitungen, obwohl es so lange keine Noten gibt?³ Warum versuchen wir es nicht einmal mit dem Wörtchen „weil²?