Schule kann gelingen (1)

SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

 

Treibhäuser der Zukunft

Aus der Reihe: Schule kann gelingen (Teil 1)

 

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Bildung

Regie: Maria Ohmer

Sendung: 4.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

Archiv-Nr.: 018-9432

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Bitte beachten Sie:

Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

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manuskript

 

 

 

Atmo 1:  7. Klasse  – Hauptschule – Bodenseeschule

 

Sprecher:

Es ist noch nicht 8 Uhr. Die Schüler kommen in die Klasse, begrüßen ihren Lehrer mit Handschlag, gehen an ihre Tische und sagen anderen Hallo. Kleine Trauben bilden sich, so wie morgens an der Bushaltestelle oder im Büro.

 

Atmo 1 hoch

 

Sprecher:

Andere gehen gleich an die Regale, holen sich Material und legen los. Sie fangen an zu arbeiten, ohne dass es geklingelt hätte. Niemand hat sie zum Lernen aufgefordert oder gar ermahnt. 

Man traut seinen Augen nicht. Dabei sind wir in einer siebten Klasse, die Schüler mitten in der Pubertät. Und man sagt, in diesem Alter seien sie auf alles mögliche scharf, nur nicht auf Schule. Es ist eine Hauptschulklasse und das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall, 7. Klasse Hauptschule.

 

Atmo ganz kurz hoch

 

Sprecher:

Die Bodensee Schule in Friedrichhafen. Wie kommt es, dass diese Schule gelingt? Worin liegt ihr Geheimnis? Oder geht es vielleicht nur darum, das Selbstverständliche zu entdecken? 

 

Atmo 2: 

Montessori Gesamtschule Potsdam; ganz harter Atmowechsel;

kein Zweifel, dass wir jetzt anderswo sind;  Schüler spricht über Apfelsorten;

Schüler spricht über Kastanien

„Ich halte jetzt einen Vortrag über die Kastanie.“

 

Atmo ganz kurz hoch

 

Sprecher:

Noch eine Schule, die morgens nicht so anfängt, wie man es erwartet. Die Montessori Gesamtschule in Potsdam. Eine staatliche Regelschule, die früher mal Karl-Liebknecht-Schule hieß. Die Schüler sitzen im Halbkreis und lauschen dem  achtjährigen Jacob, der über Kastaniensorten spricht.

 

O-Ton-Atmo:

“Die Esskastanie gehört nicht zu den Kastanien, sie ist mit den Buchen verwandt. Die Rosskastanie kann 200 Jahre alt werden …

 

Sprecher:

Nach malte kommt Jacob. Der hält einen Vortrag über Apfelsorten. Neben seinen gut geordneten Notizzetteln stehen sechs Schalen voller Apfelscheiben, in jeder eine andere Sorte. Die reicht er nun herum. Auch schmecken ist eine Übung im Unterscheiden. Und lernen heißt hier, eher einen Unterschied zu machen und Zusammenhänge heraus zu finden, als etwas zu kopieren. Jacob erzählt, was er über Blüten, Ernte und Sorten bei Äpfeln alles heraus finden konnte. Die Kinder fragen nach. Wer aus Büchern bloß was zusammen gesucht oder von seinen Eltern nur was aufgeschnappt hat, kommt hier nicht weit. Aber warum auch mogeln. Das Leben ist so vielfältig, es schmeckt und es gibt so viel zu wissen. Weshalb sich dann betrügen?

 

Atmo 3:

Helene-Lange- Schule  Wiesbaden; wieder ganz harter Atmowechsel;

Wassergeräusche; melodische Töne auf Wassergläsern

Die Atmo nicht ganz kurz; etwas geheimnisvoll; man denkt: was ist denn jetzt los

 

Sprecher:

Merkwürdige Geräusche auf einem Flur. Wir sind in der Helene-Lange-Schule, Wiesbaden. Manchen gilt sie als die „Königin“ der deutschen Schulen. Ihr Motto könnte lauten: Schüler und nicht Fächer unterrichten! Auch wieder so eine Selbstverständlichkeit, die alles andere als selbstverständlich ist. Neben dem Unterrichten geht es hier ums Aufrichten. Ein Haus voller unterschiedlich temperierter Lerngelegenheiten. Zum Beispiel Theaterprojekte, die über Wochen gehen. Unterricht, der absolut verbindlich ist.  Oder Projekte, in denen sich Lernen, Handeln und Forschen mischen. Keine „in-der-Woche-vor-den-Ferien-machen-wir-mal-eine-Projektwoche-oder-so“ – Projekte.

Wir wollen uns die Helene Lange Schule genauer ansehen, sozusagen Gewebeproben entnehmen. Sie stehen auch für die Pädagogik anderer Schulen, die gelingen.

Wie hat die Helene Lange Schule es geschafft, ein wichtiger und kultivierter Ort zu werden – für Schüler wie für Lehrer? Wie kommt es, dass Schüler hier, wenn sie nicht dabei sind, fürchten etwas zu verpassen – und dass sie während ihrer Anwesenheit nicht immerzu träumen, das Leben sei anderswo? Wie schafft die Schule diese Anziehungskraft? Und wie hat sie jene „Abstoßungskräfte“ überwunden, die sich andernorts darin zeigen, dass die Lehrer mittags schneller in ihrem Golf sitzen als die Schüler auf dem Fahrrad?

   

Cut 1:  Enja Riegel  

Wir können uns so wunderbare Mathematikstunden ausdenken und herrliche Projekte, wenn die Menschen sich nicht mögen, wenn das Kind sich nicht angenommen fühlt, dann wird es das, was ich die Lebenszuversicht nenne, dann wird es das nicht mit bekommen. Wenn es zu häufig die Erfahrung macht, du gehörst hier nicht hin, du wirst ausgesondert, weg sortiert, weg geschmissen, was bleibt dann eigentlich anders übrig, als sich einer solchen Welt gegenüber destruktiv zu verhalten?

 

Sprecher:

Enja Riegel, die ehemalige Schulleiterin. Die eigenwillige Helene-Lange- Schule hat viel von sich Reden gemacht, seit sie sich im internationalen Pisa Vergleich als eine der erfolgreichsten erwiesen hat. Die Schülerleistungen liegen weit über dem sogenannten Erwartungswert, der nach dem sozialen Status der Familien errechnet wird. Die Leistungen übertreffen selbst die von finnischen, kanadischen oder koreanischen Lernweltmeistern. Das irritiert in Deutschland so manch einen, denn die Helene-Lange-Schule setzt auf die Selbständigkeit der Schüler, aber nicht auf Laissez-faire. Sie fördert die Individualisierung des Lernens und schafft die Atmosphäre für Kooperation. Form hat hier den gleichen Rang wie Inhalt. Das kann man auch Erziehung nennen. Oder Schulkultur. Und die zeigt sich im Alltäglichen.

 

Cut  2: Ella v.Haasteren / Lehrerin

Wir haben 17 Stationen, ihr bekommt einen Laufzettel und da stehen genau die Stationen aufgelistet. Deutsch, Geografie, Musik, Kunst, Sport sogar und Nawi, klar. Ihr sollt davon im Laufe der nächsten Wochen mindestens 10 bearbeiten. Ihr dürft alles machen, ist klar.

 

Sprecher:

Die Lehrerin Ella v.Haasteren  stellt den Schülern eine Aufgabenparcours vor. 17 Stationen. Die Aufgaben gehören zum Wasser – Projekt. Das geht über Wochen. „Nawi“ heißt übrigens Naturwissenschaft.

Neben dem Projekt läuft der übliche – hier nie ganz übliche – Unterricht in Fächern wie Mathematik und Englisch weiter. Aber so weit es irgend geht, dreht sich in den nächsten Wochen alles ums Wasser. Die Schüler haben bereits die Qualität eines Bachs an drei Stationen seines Verlaufs vom Taunus in die Stadt Wiesbaden gemessen und damit begonnen, die Proben zu untersuchen. Sie lernen, wie man solche Wasserproben analysiert. Dafür muss man eine ganze Menge können und wissen. Aber die Schüler wollen ja unbedingt herausfinden, was mit dem Wasser im Bach los ist. Dafür nehmen sie manchen Umweg über komplizierte Techniken und trockene Methoden in Kauf. Überhaupt: der Umweg hat hier einen guten Ruf.

 

 Atmo Wasserprojekt kurz offen, dann drunter liegen lassen

 

Sprecher:

Zurück zu den Lernstationen. Einen ganzen Nachmittag lang haben die Lehrer des siebten Jahrgangs im Schülertreff auf 17 Tischen jeweils die Aufgaben rund ums Wasser vorbereitet. Das Wasserprojekt wird seit Jahren in der 7. Klasse gemacht,  ein Lehrerteam gibt das Aufgabencurriculum ans nächste weiter. Jedes Mal gehen neue Erfahrungen ein. So bildet die Schule Tradition  – in täglicher Kleinarbeit.   

Schüler experimentieren etwa mit der Oberflächenspannung von Wasser, lesen Lyrik mit Wassermotiven, schreiben Aufsätze oder nehmen mit dem Mikrophon eine kleine Wassersymphonie auf, mit singenden Gläsern, Wassertropfen, Gieskannen und anderen ungewöhnlichen Instrumenten. Lauter Puzzleelemente fügen sich über Wochen zum Wissen über Wasser zusammen. Natürlich bleiben Lücken. Aber so entsteht ein Wissen, das nicht satt, sondern hungrig macht. Ein Wissen von dem –  wie bei Forschern – ein Sog nach mehr Wissen, nach neuen Verknüpfungen und nach Anwendungen ausgeht. Ein Wissen, das Fragen aufwirft und einen nicht mit Antworten zu deckt. 

Bei jeder der Aufgaben lernen die Schüler etwas Neues kennen. Das fordert sie heraus, sich mit der jeweiligen Sache erst mal genau zu befassen. Ohne Genauigkeit geht es nicht. Sie arbeiten mal einzeln, mal mit Partnern, mal in Gruppen. Die Aufgaben führen an Probleme heran und verlangen Lösungen. Schüler lernen zu unterscheiden  – und müssen sich entscheiden.

Etwas vom Prickeln eines Forschungslabors liegt in der Luft. 

 

Atmo Wassermusik / kurz

 

Cut 3:  Haasteren: 

Das Stationen – Lernen bereitet natürlich viel Vorarbeit, aber während die Schüler hier an den Stationen arbeiten, hat man als Lehrer wenig zu tun, man hat Zeit, die Schüler zu beobachten und man sieht dann auch, wie die Stationen auf die Schüler wirken, und das macht zum Teil sehr viel Spaß, zu beobachten, wie sie mit den Stationen umgehen,  wie die Ergebnisse sind, /. / wenn ich sehe, dass die Schüler die Aufgaben verstanden haben, mit Spaß herangehen und gerade auch bei naturwissenschaftlichen Aufgaben die Freude am Experimentieren haben, das ist auch für uns Lehrer wirklich ein Genuss. / Wenn ich die Texte lese, die mich zum Teil sehr überraschen, bin ich begeistert. Das ist natürlich auch für die Schüler ne schöne Rückmeldung.

 

Sprecher:

Die Lehrerin Ella von Haasteren unterrichtet nicht nur die Fächer, die sie studiert hat; auch sie muss sich in neue Gebiete einarbeiten. Das ist der Preis, den alle in dem kleinen Lehrerteam zahlen. Im jeweiligen Jahrgangsrevier hat jedes Team sein eigenes Büro, sieben bis neun Lehrer gehören dazu – je nach dem, wie viele Lehrer auf vollen Stellen arbeiten. Seit die Lehrer nicht mehr nur als Fachlehrer ihre Stunden geben, erkennen sie mehr und mehr Vorteile in dieser neuen Mischung. Sie arbeiten immer enger zusammen – so, wie sie ja auch von ihren Schülern Zusammenarbeit erwarten. Am Anfang waren viele etwas widerwillig, wohl auch ängstlich. Inzwischen genießen sie die gesteigerte Resonanz. Sie nutzen den Blick über den Zaun auf die Domänen der Fachkollegen und profitieren von Fragen, die ihre Kollegen stellen. Man könnte sagen, na und? Ist doch selbstverständlich! In Schulen nicht. In Lehrerkollegien schon gar nicht.

Die Schulforschung hat heraus gefunden: Lehrer reden wenig miteinander. Das hat sich in der Hela, wie man die Helene Lange Schule in Wiesbaden nennt, auch deswegen geändert, weil die Grenzflächen zwischen den Fächern im Alltag immer mehr Bedeutung bekommen haben. Überhaupt, das „Zwischen“ – es spielt in dieser Schule in vielerlei Hinsicht eine wichtige, vielleicht die Hauptrolle.

 

Atmo Wassermusik / eher kurz

 

Sprecher:

Ein „Zwischenraum“ ist der sogenannte Schülertreff, in dem die 17 Lernstationen aufgebaut sind. Auffällig, wie ruhig es hier ist. Die meisten Türen zu den umliegenden Klassenzimmern stehen offen. 

 

Atmo Wassermusik / eher etwas länger

 


Sprecher:

Was ist ein Schülertreff? Daran lässt sich schon fast die ganze Schule erklären – und das bedeutet, ihre Geschichte zu erzählen. Machen wir es kurz:

Die Helene Lange Schule konvertierte Ende der 80er Jahre von einem Gymnasium zu einer Gesamtschule – einer, so lautete das Programm von Anfang an, die keine Lernfabrik werden wollte. Schon gar nicht sollte sie, wie viele deutsche Gesamtschulen, eine noch perfektere Sortiermaschine werden als das dreigliedrige Schulsystem.

Wie schaffte sie das?

Die Veränderung begann an vielen Stellen, aber grundlegend war die Veränderung des Raums. Das Haus wurde in viele „kleine Schulen“ mit jeweils eigenen Revieren aufgeteilt. Die vier Klassen eines  Jahrganges werden nun von dem dazu gehörigen Lehrerteam unterrichtet –  und jeder Lehrer unterrichtet möglichst nur in einem Jahrgang. Das Ergebnis: Schüler und Lehrer kennen sich. Neben dem Unterricht gedeiht auch das Informelle. Der Small Talk siedelt sich nun auch zwischen dem an, was die Hauptsache der Schule ist:  Unterricht, Theater, Projekte. Sonst findet die informelle Schülerwelt auf dem Schulhof statt oder unter der Schulbank. Sie bildet normalerweise eine Art Paralleluniversum.

 

Cut  4: Schüler O –Töne

Mädchen

Man kennt sich, die Freunde, gerade die Halbfreunde, die man nur in der Klasse gern mag, grade durch die vielen Projekte, die wir in der Klasse zusammen gemacht haben, grad bei uns das Theaterprojekt, fünf Wochen aufeinander gehangen, das ist schon traurig, wenn man dann auseinander geht

 

Junge

Ich hab eine Freund in einer anderen Schule, der kennt außerhalb der Klasse kaum einen,  ich kenne jeden aus dem Jahrgang und 80% mit Namen und kann zu jedem was sagen, das ist was schönes, wie ne Familie, ja, wir sehen uns jeden Tag, das ist wie ein zweites Zuhause

 

Sprecher:

Ende der 80er Jahre wurden die Flurwände jedes vierten Klassenraums eingerissen, um Platz für die Schülertreffs dazwischen zu schaffen. Erinnern die Flure in Schulen sonst an Krankenhäuser oder Finanzämter, reine Transportwege, die ohne Umschweife von A nach B führen, so ist hier etwas Neues entstanden. Die zu Schülertreffs umgebauten ehemaligen Klassenräume weiten die Flure, als würde aus einem Kanal ein See werden. In diesen Zwischenräumen entwickelt sich Schulleben – so wie Flora und Fauna besser im Teich und in den Nischen unregelmäßiger Bäche gedeihen als in geraden Kanälen.

 

Mal wird der Schülertreff als Werkstatt genutzt, mal als Probebühne, mal – wie derzeit bei den Siebtklässlern– für einen Parcours mit Aufgaben. Und natürlich sind die sechs Treffs im Haus ständig von Schülern bevölkert – nicht nur in den Pausen.

 

Die Schulforschung kommt ja immer wieder zu dem gleichen Befund: Schüler gehen gern zur Schule –  in Deutschland allerdings vor allem deswegen, weil sie dort andere Kinder oder Jugendliche treffen; nicht so sehr wegen des Unterrichts.

 

Die Helene Lange Schule bietet Schülerinnen und Schülern Treffpunkte an und kultiviert sie. Vor allem aber will die Schule Kinder und Jugendliche mit interessantem Unterrichts anziehen. Ein Freizeitheim ist die Schule nicht. Sie soll ein Ort für lebendiges Wissen sein. Freude an den Sachen, die es kennen zu lernen gilt, Freude am Wachsen der eigenen Kompetenz und schließlich Freude an Zusammenarbeit – das sollen die Attraktionen der Schule sein.

 

Cut 5: Schüler O-Ton / Montage

… Mädchen
Ich habe durch die Klasse so viel gelernt, die  bedeutet mir sehr, sehr viel und [lacht] ich habe diese Schule so lieb gewonnen, / in der Schule sind so viele Möglichkeiten

 

anderes Mädchen:

wir sitzen uns gegenüber, wir sind Gruppen, / die einen haben Stärken in Englisch, die in Mathe und dann arbeitet man zusammen und ergänzt sich gegenseitig. Das macht viel aus. Man arbeitet in Gruppen. Man ist so sehr ein Team geworden, ob man sich vorher gemocht hat oder nicht. Diese Zusammenarbeit war zuerst aufgezwungen, aber dann lernt man die Zusammenarbeit, dass andere einen anderen Arbeitsstil haben und sich einzuteilen, wer was macht und so. 

 

Antonia

Ich begreif es viel besser, wenn es meine  Klassenkameraden erklären, weil die wissen besser wo meine Schwächen liegen; 

 

Junge

Als ich hier hin kam, kleiner Stöpsel, habe ich mich nicht mal getraut, mit anderen Klassenkameraden zu reden, in der Hinsicht hab ich es wirklich weit gebracht.

 

 

Sprecher:

Und wieder könnte man denken, na klar, so muss es sein. Ist das der großen Rede Wert? Ja. Der Abstand zwischen dem Alltag an der Helene Lange Schule und dem Alltag an anderen Schulen ist groß. Immer wieder stellen wissenschaftliche Studien den deutschen Schulen ein schlechtes Zeugnis aus, insbesondere was die Atmosphäre betrifft. Schüler fühlen sich von Lehrern wenig geschätzt und kaum beachtet.

Ein kleiner Exkurs in den Normalalltag einer deutscher Schule.

Johann Kegler, inzwischen Student, hat als Schüler eines Berliner Gymnasiums unter der Bank den Alltag protokolliert. Eine ganz normale Mathematik Stunde zum Beispiel.

 

Zitator:

Ich erzähle dem Lehrer, was er erwartet, auch wenn ich es nicht verstehe. Mein Lehrer ist fest davon überzeugt, dass ich Mathematik verstehe und nur etwas faul bin. Jedenfalls gebe ich mir von Tag zu Tag Mühe, ihm diesen Eindruck zu vermitteln. Ich melde mich in der Stunde ein- bis zweimal, um etwas zu sagen. Was ich dann sage, habe ich mir vorher aus meinem Ordner raus geholt. Ansonsten verhalte ich mich still, höre ein bisschen Musik, lese in meinem Buch und schaue meinem Lehrer zustimmend in die Augen, wenn er mich beim Erklären seiner Aufgaben ansieht. Es ist die reine Strategiefähigkeit, mit der ich durch den Matheunterricht komme. Diesen Instinkt, zwei- bis dreimal in der Stunde fit zu sein, eignet man sich im Laufe der Jahre an.“

 

Sprecher:

Wichtiger als die Inhalte, der sogenannte Stoff, den Schulen vermitteln, sind die Haltungen, die dort ausgebildet werden, denn sie entscheiden darüber, was mit dem Stoff gemacht wird, ob mit ihm überhaupt etwas anderes gemacht wird, als ihn als Schulstoff in Prüfungen zu recyceln und ihn dann als träges Wissen mit zu schleppen oder zu vergessen. Wie gelingt es, Wissen mit möglichst viel anderem Wissen zu verknüpfen? Wie lassen sich die Wissensteile so aufladen, gewissermaßen magnetisieren, dass sie sich gegenseitig anziehen? Wie lässt sich das wissenschaftliche Wissen, das einem ja sonst nicht über den Weg läuft, zu komplexen Mustern verbinden?

 

Oder anders gefragt, wo muss man ansetzen, damit die Wissbegierde, mit der die meisten Kinder ja in die Schule kommen, erhalten bleibt und kultiviert wird? Gelingt das nicht, dann wird das Lernen zum Füllen von Fässern ohne Boden. Und manche Reform gleicht der Anstrengung, das Fülltempo zu steigern und die Wände höher zu ziehen.

 

Dass Schulen ein einladender Ort sein müssen, Treibhäuser der Zukunft, die den Schüler das sichere Gefühl geben, dazu zu gehören, das ist in Deutschland noch ein sperriger Gedanke. Viele halten das Lernen immer noch für eine bittere Medizin und glauben, Lust sei verdächtig.

Die skandinavischen Länder und auch erfolgreiche Schulen in Deutschland zeigen: Lust und Leistung vertragen sich, Freude ist tatsächlich ein Götterfunken.

 

Ein neues Licht auf diesen Zusammenhang wirft die Hirnforschung. Freiburger Hirnforscher haben Schüler ganze Tage mit Messinstrumenten versehen und herausgefunden, was vor einiger Zeit schon eine kanadische Studie an den Tag brachte: Die Aktivität der Schülerhirne ist vormittags am schwächsten.

Den Psychiater und Neurobiologen Manfred Spitzer wundert das nicht…

 

Cut 6:
Wenn die Atmosphäre schlecht wird, dann wird das gleiche Material von anderen Hirnstrukturen gelernt.

 

Sprecher:

Manfred Spitzer ist Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm. Er hat ein viel beachtetes Buch über „Lernen“ geschrieben, in dem er von eigenen und fremden Untersuchungen berichtet. Eines der wichtigsten Ergebnisse: Die Wirksamkeit des Lernens hängt von der Atmosphäre ab:

 

Cut 7:

Wir haben raus finden können, dass – wenn sie neutrales Material in einem positiven Kontext lernen, dann wird es so abgespeichert, wie sich das gehört, erst im Hippocampus, einer kleinen Hirnstruktur, dann im Kortex. Wenn sie genau das gleiche Material, mit Angst, Furcht oder Stress lernen, wird es ganz woanders abgespeichert, nämlich im Mandelkern und der ist normalerweise dafür da, dass wir angst- und furchtbesetzte Assoziationen ganz schnell dort heraus holen können, um unseren Körper, nämlich die Muskeln, Blutdruck oder Puls auf Flucht oder Kampf, einfach auf Konfrontation vorzubereiten.

Und wenn wir eines wissen, / dann das, wenn sie Angst aktivieren, dass sie dann nicht mehr kreativ sein können. Wenn wir also wollen, dass die Schulen heute die Kinder auf ein Leben in 30 Jahren vorbereiten, vom dem wir nicht wissen können, wie es aus sieht, dann muss die Atmosphäre an den Schulen eine positive sein. 

 

Sprecher:

…und das ist sie – Studien beweisen es – gewöhnlich nicht.

 Was läuft falsch?

Johann Kegler notierte, als er noch Schüler eines Berliner Gymnasiums war:

 

 Zitator:

„Die beiden großen Fehler der Schule sind folgende:  Erstens die Zeiteinteilung: Niemand kann sich in einer Dreiviertelstunde wirklich effektiv mit einer Sache auseinandersetzen. Wenn man sich gerade eingearbeitet hat und zu verstehen beginnt, klingelt es schon. Während diese erste Sache eigentlich einfach zu ändern wäre, ist der zweite Fehler weitaus schwerer zu beheben. Die Art und Weise, wie einem der Stoff vermittelt wird. Auf schmutzigen Tafeln, in kahlen Räumen mit kreischender Kreide. In Räumen, die schlecht belüftet sind und in denen man in Reih und Glied sitzt. Von Lehrern, die verkrampft oder schlaff sind und sich hinter ihren Notenbüchern verstecken.

 

Sprecher:

Zurück in die Helene Lange Schule.

Dort sind die Räume keine sterilen Container mehr. Und auch die Zeit wird dort nicht mehr im 45 Minuten Takt auf Linie gebracht. So formatierte die Schule das Leben im Industriezeitalter. Es wurde effektiv gemacht, so wie man auch Flüsse kanalisiert hat.

Nun stellt sich überall in der Gesellschaft die Frage, wie man kanalisierte Wasserwege wieder zu Flüssen rekultiviert. 

 

Sprecher:

Ein und derselbe Klassenraum wird in der Helene Lange Schule täglich mehrfach verwandelt. Morgens werden die Stühle für den Morgenkreis aufgestellt. Dann zurück an die Gruppentische gebracht. In der siebten Klasse vielleicht eine Rechenspiel. Kopfrechnen, zack, zack.

 
Atmo  Rechnen

 

Sprecher:

Dann Referate.  Stehpulte werden nach vorn geschoben.

 

Atmo  Referat  Englisch

 

Sprecher:

Weiter geht es mit dem Projekt, zu dem ein Teil der Klasse in den Schülertreff ausschwirrt.

Natürlich gibt es auch Lehrervorträge mit zumeist  aufmerksamen Zuhörern.

Zum Unterrichtschluss stellen die Schüler ihre Stühle auf die Tische. Der Putzdienst holt Staubsauger aus der Ecke. Die Schüler putzen selber.

 

Atmo Staubsauger      (K I.8 :10)

 

Sprecher:

Selber zu putzen ist schon seit Ende der 80er Jahre Tradition. Damit verdient sich die Schule 30 000 € im Jahr. Geld, mit dem zum Beispiel ein Theaterregisseur oder andere Botschafter aus der tätigen Welt honoriert werden.

 

Atmo: Wassertöne aus dem Stationenlernen

 

Sprecher:

Bei ihren Erkundungen und Aufgaben im „Stationen-Lernen“ teilen die Schüler sich ihre Zeit selbst ein. Sie können wählen. Dabei sind die Aktivitäten der Schüler durchaus Antworten auf die Vorgaben der Schule.

 

In der Helene Lange Schule und in anderen Schulen in Deutschland, die ähnlich zu arbeiten begonnen haben, wollen die Schüler arbeiten. Häufig zur Überraschung manch kleinmütiger Lehrer. Aber sie arbeiten nicht wie Rädchen einer Maschine. Es kommt Unsicherheit ins Spiel, wenn man ihnen ihre Eigenzeit lässt, die sich mal beschleunigt, mal verlangsamt, und, die in intensiven Augenblicken still zu stehen scheint. Da steht plötzlich ein Schüler auf, blickt auf seinen Zettel, ganz versonnen und ein Lächeln fährt über sein Gesicht. Da hat in ihm gearbeitet und zu einem Ergebnis geführt. Neben dieser Eigenzeit erfahren Schüler die gemeinsame, mit anderen geteilte Zeit. In ihr gelten Verabredungen, Regeln und Rituale.

 

Wenn zum Beispiel jemand seine Hand auf halbe Höhe hebt, heißt das Ruhe! Es ist mir zu unruhig! Jeder, der das sieht, ob Lehrer oder Schüler, hebt ebenso seine Hand. Und es wird still. Das ist wie ein Zauber. Wer dieses Ritual das erste Mal beobachtet, traut seinen Augen nicht.  

 

Die wichtigsten Rituale spielen sich in der Schule zwischen Lehrern und Schülern ab. Wie sehen sie sich? Negativ, vielleicht sogar als Feinde? Oder bestimmen Respekt, Anerkennung, ja Neugier das gegenseitige Verhältnis? Für den Psychiater Manfred Spitzer lassen sich daraus Prognosen stellen, ob die Schule gelingt oder misslingt, ob dort Leistungstärke oder –schwäche herrschen. Manfred Spitzer zieht eine Analogie zu einer anderen Berufsgruppe, den Therapeuten:

 

Cut 8:

Egal was Therapeut und Patient miteinander anstellen, ob das nun Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Handauflegen oder sonst was ist, die Therapie ist dann erfolgreich, wenn die beiden sich gegenseitig wertschätzen und wenn eine positive emotionale Atmosphäre von Anfang an besteht. Wenn das nicht der Fall ist, ist die Therapie, egal was die machen, nicht erfolgreich. / Wenn es für Psychotherapie zutrifft, dann trifft das allemal auch für die Schulsituation zu, so dass es zunächst mal auf das gegenseitige Annehmen und die gegenseitige Wertschätzung ankommt.

Zynismus ist bei Lehrern, meine Kindern berichten mir das oft, ist bei Lehrern vollkommen unangebracht. Es kann nicht sein, dass sich Lehrer  zynisch über Schüler äußern, dann ist der Kampf schon verloren.  

 

Sprecher:

Es zeigt sich immer wieder: Das Wie kommt vor dem Was. Die Neurobiologie setzt noch ein starkes Argument auf die Tagesordnung, eines, auf das man auch ohne Wissenschaft kommen könnte: Menschen sind nicht zum Einzelkämpfer geschaffen.

In vielen deutschen Schulen verzichtet man auf Kooperation, ja bekämpft sie oft als Schummeln, als eine Art Fahnenflucht vor dem, was man dort immer noch „das spätere Leben“ nennt. 

 

Cut 9: 

Was man gern übersieht ist, dass Menschen seit Jahrhunderttausenden in der Gruppe, in der sie sind, immer kooperieren. Man konkurriert mit anderen Gruppen, das mag schon sein, aber mit dem Nachbarn, mit dem konkurriere ich nicht, mit dem kooperiere ich. // Man soll nicht glauben, dass es in der Natur des Menschen liegt, dass wir sowieso alle gegen alle immer nur mit Ellenbogen kooperieren, / das stimmt einfach nicht. /  Die Neurobiologie hat gezeigt, wenn Menschen sich kooperativ verhalten, dass dann unser Belohnungssysteme anspringt, das heißt unserer Gehirn belohnt uns, wenn wir kooperativ sind. //  Wir kooperieren eigentlich gerne. Die Randbedingungen sollten in der Schule so sein, dass es die Kinder auch tun. 


Literaturliste zur Reihe „Schule kann gelingen“:

 

 

Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.

Kartoniert – 124 Seiten – Beck
Erscheinungsdatum: 2003
ISBN: 3-406-50469-8

 

Hentig, Hartmut von: Bildung

Taschenbuch – 206 Seiten – Beltz
Erscheinungsdatum: 1. April 2001
Auflage: 3. Aufl.
ISBN: 3-407-22035-9

 

Kluge, Jürgen: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept.

Gebundene Ausgabe – 241 Seiten – Campus Sachbuch
Erscheinungsdatum: März 2003
ISBN: 3-593-37189-8

 

Oelkers, Jürgen: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA.

Kartoniert – 228 Seiten – Beltz
Erscheinungsdatum: März 2003
ISBN: 3-407-22141-X

 

Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.

Gebundene Ausgabe – 511 Seiten – Spektrum Akademischer Verlag
Erscheinungsdatum: Oktober 2002
ISBN: 3-8274-1396-6