Wir haben Schulen, die gelingen, Interview

12. MÄRZ 2004

„Wir haben Schulen, die gelingen“

Reinhard Kahl ist einer der profiliertesten deutschen Bildungsjournalisten und Filmautoren. Derzeit arbeitet er an dem DVD-Projekt „Treibhäuser der Zukunft“, das sich innerhalb der Bildungsreihe „Archiv der Zukunft“ mit Ganztagsschulen beschäftigt. Im Gespräch nimmt er zur deutschen Bildungsmisere und den möglichen Auswegen Stellung.

Online-Redaktion: Herr Kahl, Sie monieren, dass in Schulen viel Zeit vergeudet wird. Ist das ein Problem von Schule an sich oder ein spezifisches des deutschen Bildungssystems?

Kahl: Ich glaube, dass es ein generelles Problem ist, das durch das deutsche Bildungssystem unglaublich verschärft wird. Global gesehen ist die Bildungstradition theologischer Herkunft: Das über allen schwebende Wissen wird von oben nach unten abgeseilt. Viele Länder haben sich davon gelöst, und vieles, was man heute Bildungsreform nennt, hängt damit zusammen: Man kommt vom Belehren zum Lernen. Diese Übergänge sind in Deutschland schwächer als anderswo. Wir sind ganz groß in Belehrung und Weltmeister im Entweder-oder und Richtig-oder-falsch-Denken. Die Tradition, dass eine Sache mehrere Lösungen haben kann und dass es Ambivalenzen gibt, ist demgegenüber nur schwach ausgeprägt

Es ging ja ein großes Raunen durch die deutsche Lehrerschaft, weil bestimmte mathematische Aufgaben der PISA-Studie mehrere Lösungen zuließen. „Das geht doch nicht, die Aufgabe hat ja mehrere Lösungen“, meinten viele – und die PISA-Leute entgegneten: „Eben!“ Daran wird das Problem deutlich: Gibt es die eine richtige Lösung, repräsentiert durch das System und deren Geschäftsführer, die Lehrer, oder lassen sich eine Reihe von Möglichkeiten herausfinden, mit denen man selbst arbeiten kann? Tatsächlich werden bei einem explorativen Lernen die Erwachsenen für die Schüler viel wichtiger. Sie sind dann als Personen, nicht als Funktionäre gefragt. Aber letztlich kommt es auf die Fragen der Schüler an. Das wäre eine für uns noch nicht selbstverständliche Sichtweise. Meiner Meinung nach befinden wir uns mitten in dieser Transformation.

Online-Redaktion: Bereitet denn eine solche Schule adäquat auf die Leistungs- und Ellbogen-Gesellschaft vor?

Kahl: Erstens verzichten Systeme, in denen die gegenseitige Anerkennung und Menschlichkeit groß geschrieben werden, keineswegs auf Leistungsansprüche. Im Gegenteil. Dort wächst die Leistungsbereitschaft mit dem Wunsch, etwas Wirksames zu tun. Der zweite Aspekt: Ich glaube, dass es in der Wirtschaft immer weniger um Ellenbogen geht, sondern immer mehr um Kooperation. Und drittens sollte man die problematischen Strukturen der Wirtschaft als nicht so übermächtig ansehen, als dass man sich diesen zu fügen hätte.

Online-Redaktion: Tickt denn auch die Wirtschaft im Ausland anders?

Kahl: Auch hier sind wieder skandinavische, aber auch die angelsächsische Traditionen interessant. In diesen Ländern gehen Diskussionen über Wirtschaft und Bildung vom Konzept „Humankapital“ aus. Das Humankapital zu stärken bedeutet, wenn ich die Fähigkeiten von Menschen stärke, dann werden sie schon was daraus machen. Hinter diesem Ansatz steckt Vertrauen. Demgegenüber haben wir in Deutschland eine tief gespaltene Tradition: Auf der einen Seite der über den Wolken schwebende, fast pathetische Bildungsdiskurs. Wenn es dann aber hart auf hart kommt, redet man auf einmal vom Bedarf – vom Bedarf an Akademikern oder an Facharbeitern. Dabei schleicht sich unvermeidlich das Misstrauen ein: Wer gehört dazu? Wer ist gut genug? Und wo verstecken sich die blinden Passagiere?

Die Idee des Humankapitals dagegen fundiert im Vertrauen: Ihr seid schon ganz gut! Ihr könnt noch viel besser werden! Ihr werdet schon was aus dem Gelernten und vor allem aus Euch selbst machen und damit die Zukunft gestalten! Man könnte auch sagen, so entsteht Zukunft. Sie ist doch das, was wir noch nicht kennen. Der scheinbar so plausible Blick auf den Bedarf muss auf die Vergangenheit fixiert bleiben. Das ist eine ganz andere Logik. Es ist ein Ansatz, der die Menschen kräftigt, während das gebannte Starren auf die angeblich übermächtige Wirtschaft einen selber schwächt, egal ob man sich zum Gefolgsmann oder zum Opfer macht.

Online-Redaktion: Was verbinden Sie in diesem Zusammenhang mit dem Begriff Elite? Erleben wir da gerade eine Gespensterdebatte?

Kahl: Die Debatte hat schon etwas Gespenstisches. Aber wenn man unter Elite versteht, dass Menschen versuchen, in dem, was sie machen, besonders gut zu sein, und man sie darin fördert, so dass im Ergebnis einige besser sein werden als andere, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich finde die Unterscheidung zwischen Wettbewerb und Vernichtungskonkurrenz nicht feinsinnig. Wieso denken wir so schnell an Vernichtung? Da haben wir wieder diese unselige Entweder-oder-Tradition: Entweder Elitenförderung oder Breitenförderung. Das ist doch kein Widerspruch!

Ich versuche, in meiner Arbeit doch auch möglichst gut zu sein – wenn man das Elite nennt, von mir aus. Es gibt ja keinen Grund, den Wunsch nach dem Gelungenen zurückzustecken. Nein, man sollte Menschen und besonders Kinder darin fördern. Gerade bei Kindern ist es faszinierend mitanzusehen, welchen Hunger sie auf die Welt haben und wie dabei Vorfreude auf sich selbst aufkommt. Das ist Lernen: Dinge kennen zu lernen, Sachen zu können und gut zu machen. Und dabei man selbst zu sein. Darin muss man sie unbedingt unterstützen.

Online-Redaktion: Beim Fördern kommen wir zur Ganztagsschule. Ein Argument, das stark für die Ganztagsschulen ins Feld geführt wird, ist die bessere individuelle Förderung, allein schon durch das Plus an Zeit. Wie sind Sie denn auf Ganztagsschulen aufmerksam geworden? Sind die schon lange auf Ihrem Radar?

Kahl: Eigentlich noch nicht so lange. Ich hatte auch lange Zeit den Vorbehalt, den heute noch immer viele hegen, dass Ganztagsschulen dem verschulten Leben der Kinder Vorschub leisten. Dieser Einwand ist nicht falsch, solange es nur um die reine Verlängerung von Lernzeit geht, die dann womöglich auch noch auf Belehrungszeit eingeschränkt wird. Wenn es aber darum geht, aus der Schule zugleich einen Lebensort zu machen, was ja überhaupt nicht im Widerspruch zum Lernen steht, also einen Ort, den man kultiviert – angefangen von den Räumen, den Pflanzen und dem Licht bis hin zu der Auswahl der Lehrerinnen und Lehrer – dann ist es klar, dass eine solche Schule nicht um 13 Uhr aufhören kann.

Eine gute Schule wird immer eine sein, wo die Lehrer mittags nicht schneller in ihrem Golf sitzen als die Schüler auf dem Fahrrad, sondern eine, wo alle sagen: Hier wollen wir sein, hier fangen wir etwas an, und hier machen wir etwas weiter. Das ist eigentlich das, was ich unter Ganztagsschule verstehen möchte. Ein Ort, der mit Bedeutung und Lebenskraft aufgeladen wird. Dazu gehört sehr viel. Da haben wir aber auch schon gute Anfänge.

Online-Redaktion: Hoffen Sie, dass mit Ganztagsschulen ein neues System eine Chance bekommt, oder befürchten Sie, dass das Thema aus politischem Kalkül gebremst und zerredet wird?

Kahl: Ich glaube, dass die Erneuerung eine enorme Chance hat. Wenn man sich kürzlich vor der Wahl in Hamburg, wo ich lebe, die Parteiprogramme angesehen hat, stand die Ganztagsschule bei allen Parteien im Zentrum des bildungspolitischen Teils. Wenn man sich darüber hinaus Äußerungen kluger Wirtschaftsleute ansieht, erwarten wirklich alle von ihr eine bessere Pädagogik und ein besseres Generationenverhältnis. Jeder weiß ja, welcher Stress durch die Enge in manchen Heimen entsteht. Die Ganztagsschule ist nach 30 Jahren Bildungskrieg auch so etwas wie das Projekt eines westfälischen Friedens – ein Projekt, über das sich die Zerstrittenen einigen könnten.

Das ist die eine Seite. Trotzdem – und das ist ja wirklich ein deutscher Sonderfall – ist Bildungspolitik immer noch das herausgehobene Profilierungsmetier einiger Politiker, traditionell ein Hackbrett der Politik, nicht wie in vielen anderen Ländern ein Gemeinschaftsfeld, auf dem der Konsens heilig ist. Bis zum Frieden wird es noch ein bisschen dauern. Immer wieder wird der Kulturkampf um die richtige „Bildung“ überhand nehmen und manches zerstören. Dennoch glaube ich, dass die Chance nicht schlecht ist, diese etwas vergiftete Tradition zu überwinden. Die Ganztagsschule könnte dazu einen Beitrag leisten.

Online-Redaktion: Wie ist denn ihr Film „Treibhäuser der Zukunft“ zu Stande gekommen?

Kahl: Zunächst mal bin ich aus dem Bundesbildungsministerium gefragt worden, ob ich einen Film über Ganztagsschulen drehen würde. Dazu war ich gerne bereit, habe aber klargestellt, dass ich keinen „Propagandafilm“ machen würde. Ich will einen Film drehen, in dem ich zeige, wie Raum und Zeit umstrukturiert werden. Das hört sich jetzt sich mächtig abstrakt an, aber ich will zeigen, wie Zeit nicht nur anders rhythmisiert wird, sondern vor allem wie aus der spätmilitärischen und industriellen Gleichschrittszeit unserer Schule unterschiedliche Individualzeiten werden können. Und dann wird es erst richtig spannend zu sehen, wie sich Eigenzeiten zu gemeinsamen Zeiten und zu Kooperationen assoziieren. Das ist etwas Anderes als die Stundenplanwelt. Man muss die Grammatik von Zeit gewissermaßen im Feinstofflichen des Alltags begreifen – und darstellen.

Zweites geht es um den Raum. Viele Menschen haben Schulen als grauen, muffigen, wenn nicht gar feindlichen Lebensbereich in Erinnerung. Wie kann er freundlich, einladend und lebenswert werden?. Am Raum erkennt man, mit welchen Traditionen Schulen aufgeladen sind. Denn die Schule ist ja nicht nur was die Curricula betrifft ein Ort des kollektiven Gedächtnisses. Diese beiden Koordinaten Raum und Zeit schneiden sich an einer Stelle, die ganz viel mit unserer Ganztagsschulhoffnung und -problematik zu tun hat, aber wenig mit einer Schule, der zum „Ganztagsbetrieb“ nur Betreuung einfällt. Natürlich geht es auch um Betreuung, klar – es geht erst mal um Betreuung, so wie vor dem Leben erst mal das Überleben kommt. Aber Überleben ist zu wenig.

Online-Redaktion: Ist dies ein besonderes Projekt für Sie?

Kahl: Das Projekt reizt mich ganz besonders, und ich bin wirklich dankbar dafür, es realisieren zu können. Ich habe in meinem Leben schon oft genug Kritik geübt. Das bleibt auch nötig. Aber es ist viel erfreulicher und – wenn man genau hinsieht – auch viel spannender zu zeigen, wie Dinge gelingen. Wir haben in Deutschland ja eine Reihe von Schulen, die gelingen. Eine Zeit lang ist auch mein Blick sehr stark auf Skandinavien und Kanada gerichtet gewesen. Ich war dort, habe mir die Schulen angesehen, Filme gemacht und auch darüber geschrieben. Dann habe ich auch gemerkt, wie wir erlösungsbedürftigen Deutschen das schon wieder als Ausrede nehmen: „Jaja, die Finnen, wunderbar – aber wir sind ja nun leider keine Finnen, also können wir nichts machen!“ Das stimmt eben nicht.

Es gibt Dinge auch in Deutschland, die wirklich gut gelingen. Wir können und müssen uns von anderen Ländern irritieren und anregen lassen, aber letztlich an eigene Traditionen anknüpfen. Zum Beispiel die Jenaplanschule in Jena. Sie wird eine Rolle in dem Film spielen. Oder die staatliche Montessori-Gesamtschule in Potsdam. Vor allem die Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Oder auch eine kleine Hauptschule in Herten, von der man gar nicht erwarten würde, was dort gelingt. Das Wort Mutmachen ist ein wenig verbraucht, aber ich wünsche mir, Erreger einer ansteckenden Gesundheit zu verbreiten.

Online-Redaktion: Ihr Film wird eingebettet in ein größeres DVD-Projekt?

Kahl: Die DVD hat gegenüber dem Film den Vorteil, dass manches, was man aus dramaturgischen oder Zeitgründen im Film nicht bringen kann, dort enthalten ist. Wenn man zum Beispiel ein Interview geführt hat, vielleicht eine Stunde oder länger, ein Gespräch, das wirklich sehr interessant war, bin ich im Film doch gezwungen, daraus höchstens drei Ausschnitte von allerhöchstens jeweils einer Minute Länge einzubauen. Ein Film muss laufen.

Die DVD kann jeder anders benutzen. Es besteht die Möglichkeit, sich das gesamte Interview mit Hartmut von Hentig anzusehen oder erst mal das mit Elsbeth Stern oder vielleicht das mit Andreas Schleicher gleich morgen im Kollegium zu zeigen oder es mit Studenten zu analysieren. Es wird auf der DVD Exkurse mit genauen Beobachtungen aus Schulen geben oder kleine Portraits. Ich nenne das dann „Galerie pädagogischer Erfindungen“ oder „Galerie gelungener Schulen“. Das ist ausweitbar, und mein Problem ist derzeit, mich angesichts dieser Möglichkeiten zu disziplinieren, damit es nachher nicht zu viel wird. Aber jeder wird auf der DVD einiges finden, was ihn interessiert und hoffentlich auch überrascht.

Online-Redaktion: Wie sind Sie auf die Schulen gestoßen, die in Ihrem Film „Treibhäuser der Zukunft“ vorkommen?

Kahl: Das ist immer so das Wunder der Recherche. Man spricht mit Leuten und wird auf Unbekanntes aufmerksam gemacht. Bestimmte Schauplätze hatte man auch schon lange im Hinterkopf, und plötzlich ergibt sich die Situation, zu bestimmten Schulen zu fahren, deren Repräsentanten man bereits an verschiedenen Orten getroffen hat. Es ist wie ein Rubbellos, wo mit verstärktem Reiben immer mehr zum Vorschein kommt. Manchmal scheint es so, als seien Schutzengel im Spiel, die mich an die richtige Stelle führen.

Online-Redaktion: Was würden Sie unserem Bildungssystem neben der Ganztagsschule noch gerne verabreichen?

Kahl: Wir müssen erkennen, dass Heterogenität in einer Gruppe die Intelligenz und Leistungsfähigkeit von Menschen steigert. Es ist nicht so, wie es bislang der deutsche Mythos vorschreibt, dass man möglichst Ähnliche zusammenbringen sollte, weil dies ihrer angemessenen Behandlung dienlich sei. Lernen ist etwas Anderes als behandelt zu werden.

Das fünfgliedrige Schulsystem – man vergisst ja allzu leicht, dass fast fünf Prozent unserer Schüler zu Sonderschule gehen und wir mit der Gesamtschule einen pädagogischen Bastard eigener Art besitzen – dieses System von Festlegungen muss überwunden werden. Man muss ja immer sehen, dass dort in Deutschland, wo noch sehr viele Kinder zur Hauptschule gehen, wir tatsächlich mehr Integration haben als in Ländern, denen der Schub zum Gymnasium gelungen ist, mit dem Preis, die Zurückgelassenen zu stigmatisieren. Die Bildungslandschaft und die politischen Proklamationen stehen auf verschiedenen Blättern Papier!

Wir werden unser System nicht wie die Schweden oder Finnen per Parlamentsbeschluss aufheben können, das hat in Deutschland wenig Chancen. Eine Möglichkeit, die Zerklüftung unseres Bildungssystems zu überwinden, wird in vielen Schritten bestehen, etwa auch darin, den einzelnen Schulen mehr Selbstständigkeit und Eigensinn zuzugestehen. Ich finde zum Beispiel die Club of Rome-Schulen interessant, in denen ein stärkeres zivilgesellschaftlicheres Engagement durchschlägt.

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Journalist sowie Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen. Geboren 1948 in Göttingen. Studium der Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt und Hamburg. Während des Studiums Mitarbeit bei verschiedenen Rundfunksendern. Seit 1975 Journalismus als Beruf. Mitarbeit unter anderem bei „Die Zeit“, „Geo“, „Welt“, „Süddeutsche Zeitung“ und „taz“; Kolumne „P.S.“ in der Zeitschrift „Pädagogik“. Im Hamburger Literaturhaus Gastgeber des monatlich stattfindenden „Philosophischen Cafés“ und im Stuttgarter Literaturhaus Gastgeber des „Stuttgarter Bildungsdiskurses“. Zahlreiche Veröffentlichungen und Preise.


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