Wände einreißen und Vertrauen schaffen / Über Enja Riegel

Wände einreißen und

Vertrauen schaffen

Eine Schule kann man ändern – das hat die langjährige Direktorin Enja Riegel bewiesen, jetzt hat sie Neues vor


Von Reinhard Kahl


An ihrem ersten Tag als Direktorin der Helene-Lange-Schule sah Enja Riegel schwarz. Das Kollegium trug Trauerkleidung. Ausnahmslos. Die Riegel sollte es nicht werden! Solchen Protest hatte es in einer Schule noch nicht gegeben.


Fast 20 Jahre später bedankte sich das Kollegium der Wiesbadener Schule zur Pensionierung ihrer Schulleiterin. Ein Schatten allerdings lag über dem Zelt beim großen Abschiedsfest im Februar 2003. Bei ihrer Rede erlitt Enja Riegel einen Herzinfarkt, den sie erst nicht wahrhaben wollte. War das die Quittung? War ihr Einsatz, der diese Schule gegen tausend Zweifel und Widerstände an die Spitze gebracht hatte, nicht doch zu hoch? Und ist die Helene-Lange-Schule nicht doch nur ein Extremfall, der die deutsche Regel bestätigt? Oder muss man sich nicht endlich von dem Gedanken lösen, dass es das eine richtige Modell für die gute Schule gibt?


Die Helene-Lange-Schule ist das beste Beispiel für die Befreiung von diesem Glauben an den einen Weg. Gleich einem Individuum hat sich diese Schule zu ihrer Biografie durchgerungen. Sie macht ihre Geschichte, ausgehend von Bedingungen, die sie sich nicht hat aussuchen können. Den Anstoß gab Enja Riegel. Sie hat die Abkehr vom Leben im fremden Auftrag vorgelebt. Das beflügelt.


Ein Jahr Vorsprung


Nun, ein Jahr nach ihrer Pensionierung, gründet die einmal als rote Enja Verschriene in den Treibhäusern einer ehemaligen Gartenversuchsanstalt in Wiesbaden eine Privatschule, die alles noch übertreffen soll. Die Eigenwillige, die schon mal Kultusministerin einer SPD-Regierung werden sollte, trägt mit ihrem ¸¸Reformschulmodell“ zum bildungspolitischen Frieden im CDU-regierten Wiesbaden bei. Sogar ins ferne Afghanistan wird sie eine deutsche Reformschule exportieren. Aber in dieser Woche stellt sie erst einmal ihr Buch vor, das ist im Fischer Verlag erscheint: ¸¸Schule kann gelingen“.


In der Tat, die Pisa-Noten der Hela, wie man die Helene-Lange-Schule auch nennt, die Ende der 80er Jahre vom Gymnasium zu einer Gesamtschule konvertierte, machten Schlagzeilen. Die Punktzahl liegt über denen der Leseweltmeister in Finnland und der Mathematikchampions aus Asien. Gemessen am so genannten Erwartungswert, der unter anderem aus der sozialen Herkunft der Schüler errechnet wird, holen die Schüler bis zur 9. Klasse etwa ein Jahr Vorsprung heraus. Dabei hatte die Schule die kognitiven Leistungen zwar immer im Auge, sah sie aber nur als Effekte, die gar nicht zu vermeiden sind, wenn die Schule eine gute Atmosphäre schafft und aus dem Schulhaus die allgemeine Untermieterstimmung vertrieben wird: Wir müssen halt machen, was im Lehrplan steht… Nein, man kann viel machen. Dafür steht Enja Riegel.


Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik begann die ehemalige Helene-Lange-Schülerin Enja Glücklich 1969 das Referendariat an ihrer alten Schule und blieb dort noch als junge Lehrerin. Der Blick ins Lehrerzimmer war desillusionierend. Die routinierte Schulmaschine drehte sich um den Stundenplan und die Fächer. Die wurden unterrichtet, weniger die Schüler. Der Vormittag wurde im 45-Minuten-Takt zerhackt. Ein Ort für Kinder und Jugendliche, als den sie ihre Hela in Erinnerung hatte, war diese Schule nicht. Aber die Vision blieb, dass eine Schule so sein müsse, wie Enja, die inzwischen Riegel hieß, sie erlebt hatte.


Es war die Zeit des Protestes und die Riegel ließ nichts aus. Weder antikapitalistische Texte im Deutschunterricht noch die Polemik gegen die Sekundärtugenden. Als die junge Mutter mit ihrem antiautoritären Kinderladen einen längst entwidmeten Friedhof besetzt und zum Abenteuerspielplatz erklärt hatte, war sie bald stadtbekannt. Immerhin, aus dem alten Friedhof wurde ein Spielpark und das ist er heute noch. Tatsächlich hielt der Kinderladen für sie eine ganz andere Lektion bereit. Sie erlebte, dass der antiautoritäre Aufbruch nicht unbedingt zu mehr Freiheit führt. Im Kinderladen drängte sich ihr die Entdeckung auf, dass Kinder verlässliche Beziehungen brauchen und geradezu nach Regeln und Ritualen hungern. Die Rebellin wurde nachdenklich.


Nach ihren Wanderjahren durch verschiedene Schulformen, die sie bis zur Grundschule führte, in der sie von den Kindern lernte, was Pädagogik ist, passierte, was nun nach dem Skript eines Märchens klingt. Die Stelle des Direktors an der Helene-Lange-Schule wurde im Amtsblatt ausgeschrieben. Enja Riegel konnte nicht anders, als diese Anzeige als eine an sie gerichtete Aufforderung zu verstehen. Damit stand sie ziemlich allein. Aber sie kam auf die Liste, erhielt die Stelle – und traf auf eisiges Schweigen im Kollegium.


Nach einem Jahr Funkstille ging es los. Wände wurde eingerissen. Auf jeden fünften Klassenraum wurde verzichtet, und dafür Schülertreffs geschaffen. Diese Zwischenräume sind Programm. Dort arbeiten Schüler selbständig. Dort werden die Ergebnisse ihre Projekte ausgestellt. Eltern werden eingeladen, sie zu betrachten. Es entstanden Marktplätze der kleinen Schulen in der großen. Jeden Jahrgang unterrichtet ein Lehrerteam. Zugehörigkeit hatte Enja Riegel als den Grundstoff allen Lernens entdeckt. In anderen Schulen hatte sie beobachtet, was passiert, wenn Lehrer beim Zensurengeben ihre Schüler auf Fotos sortieren, um sie nicht zu verwechseln. Lehrer im Jahrgangsteam müssen auch fachfremd unterrichten. Das stellte sich für die Schüler bald als Vorteil heraus, erfordert aber die Zusammenarbeit der Pädagogen. Schritt für Schritt wurden eigene Curricula erarbeitet. Bald fand man es unmöglich, im Unterricht Selbstverantwortung zu predigen und mittags die Räume türkischen Putzfrauen zu überlassen. Also entschlossen sich die Lehrer Staubsauger anzuschaffen und hielten die Schüler an zu putzen. Bald hatte die ganze Schule den Übergang vom geputzten zum selbst putzenden System hinter sich.


Mit den eingesparten 25 000 Euro jährlich wird ein professioneller Theaterregisseur engagiert. Der spielt mit Schülern wochenlang Theater, zum Schluss der Session fällt aller Unterricht dafür aus. Die Schulleiterin hat sich wieder mal durchgesetzt. Sie sagt: ¸¸Wer viel Theater spielt, wird gut in Mathematik.“ So lernt die Schule über Bande zu spielen und erfährt alltäglich, dass Lernen ein indirekter Vorgang ist. Inzwischen finanzieren sich die Theateraufführungen über den Eintritt. So wird das Lernen, ja das Leben als folgenreiche Tätigkeit erlebt. Die eigene Wirksamkeit macht Freude, wenn sie zuweilen auch anstrengend ist. Aber jeder Schüler an der Hela weiß, Anstrengung macht viel mehr Spaß als Langeweile.


Macht statt Herrschaft


Durfte die Schule denn das alles? Wenn Eltern und Lehrer der Schulleiterin diese Frage stellten, bekamen sie immer zur Antwort: ¸¸Ja, selbstverständlich.“ Denn Lehrpläne seien richtungsweisend, nicht als kleinliche Vorschriften zu verstehen. Und die Schulleitung übernehme die Verantwortung, dass die Anforderungen alles in allem eingehalten werden. Die Schulbehörden sahen das zunächst anders. Aber sie wurden Jahr für Jahr mehr von den Erfolgen dieser selbständigen Schule überzeugt, in der nicht, wie manch einer fürchtete, jeder macht, was er will, sondern in der immer mehr Schüler und Lehrer tatsächlich etwas wollen: so gut wie möglich sein und sich nicht beschummeln.


Die Leitung gibt der Schule so viel Sicherheit, dass sich die Lehrer ruhig in Unsicherheiten begeben können. Das hat nichts mit Führung als Herrschaft zu tun. Eher mit Macht, wie man sie auf englisch buchstabiert: Power. Macht kommt von Mögen, meinte die Philosophin Hannah Arendt, ja Macht entstünde, wenn sich Menschen zum Leben und zur Gestaltung ihrer Verhältnisse verabredeten. Genau das geschieht an der Helene-Lange-Schule. An die Lehrerteams wurde viel Macht abgegeben. Aber was heißt abgegeben? Die Zusammenarbeit der Lehrer in Teams verschaffte ihnen die häufig völlig neue Erfahrung, wie beglückend Resonanz ist und wie kräftezehrend die Vereinzelung.


Natürlich gab es auch an dieser Schule, vor allem bei Eltern den Zweifel, ob man so denn auch was fürs Leben lernt. Die gute Ernte wurde nicht nur von Pisa bestätigt. Zuvor schon, bei der internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie Timss schnitt die Schule bestens ab. Eine Studie der Uni Erfurt bescheinigt ehemaligen Schülern Selbstständigkeit und Kooperation. Seit Jahren evaluiert die Schule selbst den Weg der Schüler nach der 10.Klasse. In der gymnasialen Oberstufe, auf die viele wechseln, stiegen die Leistungen der Schüler im Schnitt um 2,1 Punkte auf der Oberstufen-Skala.


Enja Riegel, die im vergangenen Jahr aufgeschrieben hat, wie sich diese Schule seit fast 20 Jahre neu erfindet, fängt nun selbst noch mal neu an. Sie gründet eine freie Schule, in der das Unterrichten noch mehr vom Aufrichten abgelöst werden soll. Denn bei aller List im Umgang mit Behörden, erwartet sie von der Freiheit, vor der sie sich nie fürchtete, nicht nur glücklich zu sein, sondern auch exzellente Leistungen. Was die Deutschen seit Jahren in Skandinavien entdecken, zeigt sich auch hier: Anerkennung, Vertrauen und Freude sind die stärksten Produktivkräfte. Und diese Lektion überzeugt inzwischen in Wiesbaden auch die CDU. Als Enja Riegel dem Bürgermeister ausgiebig das Konzept einer Gesamtschule erläuterte, in der Schüler nicht mehr wie Hühnereier in die Kategorien A, B und C eingeteilt und damit neurotisiert werden, nickte er, aber verlangte, ¸¸das darf nicht Gesamtschule heißen!“ Nun werden in Wiesbaden zwei Schulen zu ¸¸Reformschulen“ umgewandelt.


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.118, Montag, den 24. Mai 2004 , Seite 10