Vom Wunder des Anfangens

Hannah Arendt zum 100.Geburtstag: Ihre Aktualität ist ungebrochen

Vor 31 Jahren ist sie gestorben. Am kommenden Samstag wäre sie 100 Jahre alt geworden. Aber immer noch ist es, als würde ihr Denken täglich aktueller. Hannah Arendt hat die geistige Vorarbeit für ein Projekt geleistet, das ansteht: die Politik neu zu erfinden.

Vor 31 Jahren ist sie gestorben. Am kommenden Samstag wäre sie 100 geworden. Aber immer noch ist es, als würde ihr Denken täglich aktueller. Hannah Arendt hat die geistige Vorarbeit für ein Projekt geleistet, das ansteht: die Politik neu zu erfinden. Eine Politik jenseits der Ideologien. Eine Politik nicht der Lager, sondern von Personen, die diesen Namen verdienen. Eine Politik nicht der Feindschaft, von der sie nie völlig frei sein wird, sondern der Freundschaft. In ihr sah sie mit dem von ihr verehrten Lessing ein irdisches Glück, um das die Götter uns Sterbliche beneiden. Denn Freundschaft ist eine starke Frucht der menschlichen Schwäche. „Macht“, schrieb sie, „kommt von Mögen“. In Freundschaft halten wir uns nicht nette Spiegel vor, durch sie bringen wir Welt hervor. Wer absolut zu sein meint, braucht keine Freunde, hat aber viel Anlass, Feinde zu fürchten. Das alles sind für die meisten gewöhnungsbedürftige Gedanken.

Hannah Arendt hat sich von der alten Philosophie, die das Wesen der Welt in große Worte stopfte, verabschiedet. „Die Welt“, sagte sie 1959, als sie in Hamburg den Lessingpreis erhielt, „liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde“.

Sie hat es abgelehnt, Philosophin genannt zu werden. „Mein Beruf“, sagte sie, „ist politische Theorie.“ Sie hat kein System entwickelt, aber sie hat das Denken – und den Irrtum – gewagt. „Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand“, schrieb sie in ihrem Buch „Vita activa“, das sie ursprünglich „Amor Mundi“, Liebe zur Welt, nennen wollte. Weil jeder Mensch anders ist und als Fremdling zur Welt kommt, ist er auf „ein Heimatgefühl“ angewiesen. In der Verlassenheit moderner Menschen sah Hannah Arendt eine Ursache für totalitäre Bewegungen. Ist diese Verlassenheit überwunden? Dagegen setzte sie die Lust, zusammen zu handeln und Neues anzufangen. Das war ihre Definition von Politik.

Für ihr, wie sie sagte, „Selberdenken“ war das Jahr 1933 der Wendepunkt. Das Verhalten ihrer intellektuellen Freunde hinterließ einen Riss in ihrem Weltbild. Die bis dahin völlig unpolitische, 27-jährige Frau hatte Philosophie, Theologie und Griechisch bei Heidegger, Husserl und Jaspers studiert und über den Liebesbegriff bei Augustinus promoviert. Das Schockierende war für sie 1933 nicht die Machtergreifung, die sie kommen sah, „es war, dass die Freunde sich gleichschalteten!“ Schon damals hatte sie den Verdacht, „das hängt mit diesem Beruf, mit der Intellektualität zusammen“. Sie, die Jüdin, war davon überzeugt, dass sich auch deutschjüdische Intellektuelle unter anderen Vorzeichen nicht anders verhalten hätten. Zugleich beobachtete sie, dass die freiwillige Gleichschaltung bei Nichtintellektuellen keineswegs die Regel war.

Führte also eine Art Berufskrankheit die Intellektuellen dazu, sich selbst auf den Leim zu gehen? Hannah Arendt entschloss sich 1933 zum Handeln. Für die Zionistische Vereinigung dokumentierte sie antisemitische Äußerungen, die im Ausland veröffentlicht werden sollten. Dabei wurde sie erwischt und inhaftiert. Von dem Kriminalbeamten, der sie verhörte, sagte sie später, dass er ein so offenes, anständiges Gesicht hatte. „Mit dem freundete ich mich an. Ich verließ mich auf ihn und dachte, das ist eine viel bessere Chance als irgendeinen Anwalt zu nehmen, der ja doch bloß Angst hat.“ Sie setzte auf die Person, kam frei und verließ Deutschland Richtung Paris mit der Vorstellung: „Nie wieder rühre ich irgendeine intellektuelle Geschichte an.“ Der Abscheu gegenüber Intellektuellen verwandelte sich in Fragen nach der Herkunft des abendländischen Denkens mit seinen Absolutheitsansprüchen. Aus ihrem Widerspruch gegen die Intellektuellen entfaltet sich ein authentisches Leben – als eine Intellektuelle, denn die war sie nun mal.

In Paris erlebte sie „acht lange und glückliche Jahre“ in der Sozialarbeit für jüdische Organisationen und vor allem in der kleinen Polis der Emigranten. 1941 musste sie wieder vor den Deutschen flüchten. In New York bekam sie schnell Kontakt. Sie schrieb für die deutsch-jüdische Wochenzeitung „Aufbau“. Bald erregten ihre Artikel und Essays Aufsehen. Hier meldete sich eine unverstellte Stimme zu Wort. Aus ihr sprach immer auch Erfahrung. Da ließ sich jemand beim Denken beobachten. Sie agierte immer als Person, die sich exponierte und dabei auch gefährdete. So sehr sie den Absolutheitsanspruch der Wahrheit fürchtete, so sehr bestand sie auf Wahrhaftigkeit. Die strahlte sie aus. Ihr Freundin, die Schriftstellerin Mary McCarthy, sah in Arendts Schönheit einen Wahrheitsbeweis: „Bezaubernd. Verführerisch feminin. Das Auffälligste an ihr waren die Augen: leuchtend und funkelnd, verträumt.“

Fragen nach Zielen und Absichten ihrer Arbeit machten sie hilflos. Ein Ziel? Nein! Aber ein Antrieb. „Ich muss verstehen.“ Spekulierte sie nicht auf Wirkung? „Das ist eine männliche Frage“, antwortete sie. „Männer wollen immer furchtbar gern wirken. Und wenn andere Menschen verstehen, im selben Sinne wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befriedigung, wie ein Heimatgefühl.“ Der Wunsch nach einer Welt, die eine Heimat sein kann, war der Hoffnungssog ihres Denkens. Die Erschütterung darüber, dass die Welt unbewohnbar werden könnte, wenn die Menschen ihre Möglichkeit, frei zu handeln, verlieren, weil sie auf Mittel für Zwecke reduziert werden, trieb sie an.

Was hat es mit der Verlassenheit auf sich, die mehr und mehr Menschen in der Moderne erleiden? Aus welcher Tradition heraus neigen sie zur Flucht aus der Politik in totalitäre Bewegungen? Hannah Arendt stellte Fragen, die angesichts heutiger Fluchten in Fundamentalismen wieder auf der Tagesordnung stehen. An Adolf Eichmann erkannte sie den Prototypen des feigen Funktionärs und Mitmachers. Ein Typus, der immer zu allem fähig ist. Ist er ausgestorben? In ihrem Hauptwerk „Vita activa – vom tätigen Leben“ fragte sie nach den Konditionen gelingenden Lebens. Viel wichtiger als das Denken war für sie längst der Begriff des Handelns geworden: „Handeln, im Unterschied zum Denken und Herstellen, kann man nur mithilfe der anderen. In dem Zusammenhandeln realisiert sich die Freiheit des Anfangenkönnens.“

Totale Herrschaft wurde nur möglich, weil die Massen mit der Aussicht auf ein bald erreichbares Ende der Geschichte, ja mit dem Versprechen auf Erlösung von Geschichte überhaupt vertröstet wurden. Diese Schimäre stellte den Freibrief dafür dar, die Gegenwart dieser vermeintlichen Zukunft zu opfern. Für ein solch großes Ziel schien jedes Mittel recht. Hannah Arendt fand in dieser Mentalität wiederum eine fatale abendländische Spur, die sie zu den Endspielen ihres Jahrhunderts führte. Wird alles zum Mittel ideologischer Ziele, dann wird die Welt zu einem geschlossenen Raum, dann hat das Neue keine Chance mehr. Die Herrschaft der Zwecke über die Mittel war für Hannah Arendt den Sphären der Arbeit und des Herstellens angemessen, nicht aber dem Handeln, das für sie im Grunde gleichbedeutend mit Politik war. Freiem Handeln schien ihr jede Unterordnung unter Zwecke prinzipiell unangemessen. „Eine gute Tat für einen bösen Zweck“, notierte sie im Mai 1951 in ihrem Denktagebuch, „fügt der Welt Güte zu; eine böse Tat für einen guten Zweck fügt der Welt Bosheit zu.“ Im Handeln ist das Wie stärker als jedes Was. Die Art und Weise der Tätigkeit drückt den Inhalten und Zwecken ihren Stempel auf, bringt sie häufig erst hervor. Denn das Handeln setzt einen Anfang, es verfolgt genau genommen gar keine expliziten Ziele, es bringt etwas Neues in Gang.

„Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.“ So schrieb Hannah Arendt über Rahel Varnhagen, die Berliner Jüdin im 19. Jahrhundert, und zugleich über sich selbst. Im Klappentext des Varnhagen-Buches wurde dieser Satz über viele Auflagen so zitiert: „Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.“ Aus „sie“ wurde „nie“. Die Veränderung nur eines Buchstabens reichte für die völlige Verdrehung des Sinns. Ein Beispiel, wie radikales Denken unversehens eingemeindet und im allgemeinen Gemurmel stimmlos gemacht wird. Ein Beispiel für die Singularität der lebenshungrigen Denkerin inmitten des wohlfeilen Geraunes.

Heute bringen NDR Kultur um 20.15 Uhr und WDR 3 um 22 Uhr die Radio- dokumentation von Reinhard Kahl: „Liebe zur Welt – Zur Aktualität von Hannah Arendt“, in der auch ihre Stimme ausführlich zu hören ist.