Über die neuen finnischen Bildungsstandards

Vertrauen, Respekt, Selbständigkeit

Die neuen finnischen Bildungsstandards sind auf Deutsch erschienen und begeistern immer mehr Schulen hierzulande


Von Reinhard Kahl


Wir haben noch Geld, bemerkte man Ende vergangenen Jahres im ¸¸Opetushallitus“, dem Zentralamt für das Schulwesen in Finnland. Da könnten wir doch unsere neuen Standards gleich auf Deutsch übersetzen lassen, schlug Rainer Domisch vor. Dann müsste er nicht mehr so viele Fragen aus Deutschland beantworten, eine echte Entlastung. Domisch, Fachberater für Deutsch im Zentralamt, ist der einzige finnische Beamte mit deutschem Pass.


So groß war allerdings der Aufwand fürs Übersetzen nicht. Denn die neuen Standards für die Peruskoulu, die neunjährige Gemeinschaftsschule, haben auf 180 DIN A4 Seiten Platz. Im fertigen Buch mit Illustrationen und Anhängen wurden es 300 Seiten. Die grundsätzlichen Passagen und die Kompetenzen für den Fremdsprachenunterricht gibt es nun seit einer Woche auf Deutsch, für 15 Euro unter myynti@oph.fi zu bestellen. ¸¸Wir haben nicht geworben und die gehen weg wie warme Semmeln“, sagt Domisch.


Es handelt sich um das wohl derzeit gewagteste Dokument der nicht aufhörenden finnischen Schulreform. Darin werden jedoch kaum Inhalte vorgeschrieben. Abgesteckt wird der Rahmen, in dem vom Schuljahr 2004/2005 an jede Schule eigene Lehrpläne verfassen soll. Der Text liest sich als Aufforderung an die Kollegien, ihren Weg zu finden. Man hat nicht mehr wie früher die wichtigen Inhalte addiert. Das hatte auch in Finnland zu überfüllten Lehrplänen geführt, die den Lehrern vor allem ein schlechtes Gewissen gemacht haben und wenig beachtet wurden.


Ohne Partizip Perfekt


Vom Opetushallitus wurden Teams aus Lehrern und Wissenschaftlern in Kommissionen berufen, die Schülerarbeiten und Tonkassetten aus Schulen im ganzen Land ausgewertet haben, um die ¸¸guten Kompetenzen“ heraus zu finden und zu formulieren. Die beginnen etwa in den Fremdsprachen mit dem ¸¸Grundbedarf im unmittelbaren sozialen Umgang“, führen über das ¸¸Zurechtkommen im Alltag“ sowie den ¸¸regelmäßigen Umgang mit Muttersprachlern“ schließlich zum ¸¸Zurechtkommen in anspruchsvollen Situationen“.


Aber es steht nicht dort, wann das Partizip Perfekt dran kommt. ¸¸Das wissen doch die Lehrer,“ insistiert Riitta Piri. Die pensionierte Ministerialrätin hat zunächst als junge Deutschlehrerin in den 60er Jahren, später in der inzwischen abgeschafften Schulaufsicht und zum Schluss im Ministerium den finnischen Reformprozess mit betrieben.


Die neuen Standards fragen vielmehr: Unter welchen Lernumgebungen erreichen Schüler hohe Kompetenzen? Statt von oben definiert zu bekommen, was richtig und wichtig ist, fühlt sich der Leser eingeladen nach Bedingungen für das Gelingen der Schule zu suchen. Aus dem Text spricht eine veränderte Grammatik des ganzen Schulsystems.


Opetushallitus wurde im Jahre 1994 neu gegründet, die frühere Aufsichtsbehörde aufgelöst. Das Amt entwickelt sich seitdem zur Denkfabrik für die Schulen. Es ist aber auch eine normgebende Institution, die Ministerium und Parlament unterstellt ist und zwischen Gesetzgeber und Schulträgern in den Kommunen vermitteln soll. Die Schulaufsicht im Land wurde 1995 auf Anraten der Schulinspektoren selbst abgeschafft. An deren Stelle trat die Evaluierung. Seitdem weiß man besser über die Qualität der Schulen Bescheid.


Der Kulturwandel findet nun in den neuen Standards seinen Ausdruck. Zunächst werden Werte definiert. 1995 hatte das finnische Parlament die ¸¸Kommunikationsgesellschaft“ als Staatsziel in seine Verfassung aufgenommen. Für die Erziehung folgen daraus die Maximen, Respekt, Teilhabe und Lernfähigkeit in der globalisierten Welt. Dafür wird dann im nächsten Schritt die geeignete Lernumgebung skizziert. Verlangt werden eine ¸¸gute Ästhetik der Schulen“ sowie ¸¸psychische und soziale Geborgenheit“. Entscheidend ist ¸¸die Wechselwirkung zwischen Lehrern und Schülern sowie unter den Schülern zu fördern.“ Die Verwirklichung dieser Grundsätze können Schüler und Eltern nun einfordern. Es sind keine unverbindlichen Präambelsätze.


Eine ansteckende Gesundheit


Außerdem werden die Arbeitsmethoden beschrieben. Der Unterricht wird am Ziel Denken und Problemlösen ausgerichtet. Noch bevor das Wort Lehrplan fällt, ist von den ¸¸Lernplänen“ für Schüler die Rede. Die müssen vor allem für Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen aufgestellt werden. Denn in jedem finnischen Kollegium arbeiten neben den Lehrern auch Sozialarbeiter, Psychologen, Sonderpädagogen, Beratungslehrer und Kuratoren, die sich auch darum kümmern, dass sich Schüler wohl fühlen. ¸¸Wohlbefinden“ ist ein häufig gebrauchtes Wort.


Da in Finnland Schüler mit Schwierigkeiten kaum noch auf Sonderschulen verwiesen werden, spielen Förder- und Sonderunterricht eine große Rolle. Am Förderunterricht nimmt etwa ein Viertel der Schüler teil. Auch deshalb gilt er nicht als Stigma. Das ist der stärkste Beweis für das Gelingen von 40 Jahren Schulreform. Ein starker Nebeneffekt ist: Schulen lernen an den Lernschwierigkeiten der Schüler am besten, was Lernen ist.


Das Fachliche schließlich ist nur eine Säule im Abschnitte „Lernziele und zentrale Inhalte des Unterrichts“. Die anderen heißen ¸¸Lernen lernen“ und ¸¸lebenslanges Lernen“. Aber müssten Standards nicht vielleicht doch etwas konkreter sein? Rainer Domisch verneint. ¸¸Sie sollen die Schulen dazu bringen sich Gedanken für die Lehrpläne zu machen.“ Diese, wie gesagt, müssen sie künftig selbst erstellen. Im Übrigen ist der neue Rahmenlehrplan so abgefasst, dass ihn alle Eltern verstehen. Ihre Mitwirkung ist ein hohes Ziel. Ganz konkret allerdings sind solche Gebote: Bei Gesprächen zwischen Lehrern und Eltern sind die Schüler, von Ausnahmen abgesehen, zugegen.


Über diese indirekte Perspektive aufs Lernen staunen auch die deutschen Pädagogen, die seit dem Pisa-Schock erlösungsbedürftig nach Norden pilgern. Aber langsam springen die skandinavischen Ideen wie eine ansteckende Gesundheit über, vor allem nach Norddeutschland. Viele Lehrer besuchten in beiden vergangenen Jahren Schulen in Schweden. Auch dort wurde die zentrale Schulbehörde, wie man sagt, ¸¸geschlachtet“. Auch dort seht das ¸¸nationale Curriculum“ in schmalen, für jedermann verständlichen Broschüren. Schwedische Schulen verfügen über ihren eigenen Haushalt, egal ob es darum geht, das Dach zu decken oder mit neuen Lehrern individuelle Gehaltsverhandlungen zu führen.


Viele Schulen haben eigene Lehrpläne geschrieben. Zum Beispiel in der Gemeinde Halmstad. Dort heißt der Bildungsplan ¸¸Baum der Erkenntnis“. Als Wurzeln werden etwa Demokratie, sprachliche und motorische Entwicklung oder Verantwortung genannt. Man kann nachlesen, wie bereits die Vorschule diese Wurzeln pflegt. Oben in der Baumkrone stehen die Kompetenzen, die Kinder nach der neunjährigen Gesamtschule erworben haben sollen.


Dieser fast poetisch formulierte Bildungsplan gefiel dem deutsch-schwedischen Pädagogen-Ehepaar Marianne und Lasse Berger aus Bremen so gut, dass sie dem Druck ihrer Kollegen, den Plan zu übersetzen, nachgaben. Ende Oktober 2003 waren die ersten Exemplare gedruckt. Seitdem wurden 5000 Stück verkauft. Ohne Werbung, im Eigenverlag, nur über Mund zu Mund Propaganda. Sieben Euro kostet das Buch, das sich unter berger_LM@web.de bestellen lässt.


In Hamburg setzen auch Gymnasien Tageskonferenzen über ¸¸Skandinavische Pädagogik“ an. Die Bremer ¸¸Gesamtschule Mitte“ hat die vergangen drei Wochen den Tag nach dem Modell der schwedischen Futurum Schule in der Nähe von Stockholm mit drei Stunden Freiarbeit der Schüler begonnen. Sie stellen sich in Absprache mit Lehrern ihr individuelles Programm zusammen. Die Ergebnisse des Freiheitsversuchs werden nun ausgewertet. Sind sie erfolgreich, wird die Schule nach dem Futurum-Vorbild umgebaut.


Lernen ohne Wände


In der Grundschule Borchshöhe, ebenfalls in Bremen, läuft der Umbau Richtung Futurum schon auf vollen Touren. Wände wurden eingerissen, Bühnen errichtet und Arbeitsplätze für Lehrer geschaffen. Gelder aus dem Bundesprogramm für Ganztagsschulen machen es möglich. Wie in der Futurum Schule entstehen altersgemischte kleine Schulen in der großen Schule, Lerndörfer für die Kinder. Lehrer bleiben wie in Schweden 35 volle Stunden in der Schule. Eine der beiden Leiterinnen von Borchshöhe ist die Schwedin Karin Bossaller , die seit 20 Jahren in Deutschland lebt. Sie erinnert sich, dass sie als Schülerin nie auf den Gedanken kam zu mogeln. Ihre drei in Deutschland aufgewachsenen Kinder allerdings, sagt Bossaller, hätten in der Schule eigentlich nur eines gut gelernt: mogeln. Von anderen in Deutschland lebenden Schweden höre sie ähnliches.


Auch die in Berlin lebende Finnin, Kati Jauhiainen kann von manch ähnlichem Kulturschock ein Lied singen. Als sie ihre Tochter vor Jahren zur Grundschule anmeldete, fragte sie, welche Schwerpunkte die Schule habe. ¸¸Da hat die Schulleiterin geguckt, als ob ich vom Mond käme.“ Aus Finnland war sie gewohnt, dass jede Schule besonders ist. Allein in Helsinki gibt es sechzig verschiedene Profile. Und dann fragte sie nach dem Schulessen. Wieso, bekam sie zur Antwort, Kinder bekommen doch kein Essen in der Schule.


Inzwischen ist die Pädagogin und Kommunikationsberaterin Kati Jauhiainen eine der begehrtesten Referentinnen über skandinavische Schulen. Manchmal schließt sie ihre Vorträge mit einer Geschichte von Mats Ekholm, der bis Ende 2003 Generaldirektor von Skolverket, der schwedischen Bildungsagentur war. Nach Besuchen in deutschen Schulen wurde er gefragt, worin sich denn die deutschen von den skandinavischen Schulen am meisten unterschieden. Nach kurzem Bedenken antwortete er: ¸¸Dass in Deutschland Schüler nichts zu essen zu bekommen.“ Und damit waren nicht nur Kalorien gemeint.

Kästen mit Zitaten

¸¸Wir nehmen seit mehr als zwanzig Jahren die Kontrollen zurück und haben die Schulaufsicht ganz abgeschafft. Wir haben immer mehr Zuversicht und Evaluierung an die Stelle gesetzt. Vertrauen ist unser Grundkonzept. Wir haben unsere Lehrer so gut ausgebildet, dass wir uns auf sie verlassen können. Keiner spricht mehr von Sanktionen. Wir haben im Gesetz Möglichkeiten zu Sanktionen, aber wir gebrauchen sie nicht. Wenn man Zuversicht gibt, dann benehmen sich die Menschen entsprechend. Für uns Finnen zählt Bildung mehr als Besitz und so ein kleines Land kann es sich nicht erlauben, auch nur einen Schüler ohne Abschluss zu entlassen.“

Riitta Piri, Ministerialrätin im Ruhestand

¸¸Die deutschen Schüler sind nicht dümmer und die Lehrer nicht schlechter, aber das Zusammenspiel und die rechten Trainer in der Supervision fehlen. Vor allem darf man Bildung nicht mit Einbildung verwechseln. Man muss in Deutschland aufpassen, dass man Standards und schulische Evaluierung nicht falsch angeht und das Pferd von hinten aufzäumt. Ein Vergleich von reinen Leistungsergebnissen hilft nicht viel, dazu braucht man keine großen Untersuchungen. Wichtig ist es, Ziele für die Bildungsplanung an den Schulen zu nennen, fundierte Indikatoren aufzustellen, nach denen man evaluieren will, sonst kommt langfristig überhaupt nichts dabei raus.“


Rainer Domisch, Finnisches Zentralamt für das Schulwesen

¸¸Ich habe immer gewusst, dass das finnische Schulsystem humaner ist und dass sich die Kinder in der Schule wohl fühlen. Pisa war eine Befreiung – denn jetzt wissen wir auch, dass diese Schule erfolgreich ist. Ich finde, es ist eine deutsche Sünde, sofort eine Lösung zu finden und immer schon eindeutige Antworten für alles zu haben. Der Erfolg des finnischen Schulsystems liegt darin, dass es alles erlaubt, das hilft, die Kinder gut vorzubereiten. Das fängt schon damit an, dass die Lehrer in den Kindergarten und in die Vorschule gehen und hinschauen, welche Schüler in die Schule kommen werden. Die Schule bereitet sich tatsächlich auf die Kinder vor, nicht umgekehrt.“


Kati Jauhiainen, in Berlin lebende finnische Diplompädagogin


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.74, Montag, den 29. März 2004 , Seite 10