Schule kann gelingen (4)

SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

 

Freiheit und Standards

Reihe: Schule kann gelingen (4)

 

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Anja Brockert

Regie: Maria Ohmer

Sendung: 25.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

Archiv-Nr.: 018-9436

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manuskript

 

 

Sprecherin

Zum Beispiel der Schüler Andreas. Nach der vierten Klasse schrieb ihm der Grundschullehrer ins Zeugnis: „Ungeeignet für das Gymnasium“. Seine Eltern akzeptierten das Urteil nicht. Hätte er keinen Professor für Erziehungswissenschaften zum Vater gehabt, was wäre wohl aus ihm geworden? So kam der Junge doch noch auf die höhere Schule. Dort musste Andreas wie Hunderttausende von Kindern in Deutschland an sich zweifeln: Bin ich der falsche Schüler auf der richtigen Schule – oder vielleicht doch der Richtige in der falschen Umgebung?

Seine Schullaufbahn hat Andreas längst hinter sich. Irgendwann, erinnert er sich, wurde aus dem ängstlichen, schlechten Schüler ein mutiger, guter Schüler. Das Jugendorchester, in dem er Geige spielte, half ihm. Dankbar erzählt er vom  Dirigenten, der jedes einzelne Instrument hervorragend aufgebaut und dann alle zum Orchester zusammengeführt habe.

 

Schließlich machte der fürs Gymnasium angeblich Ungeeignete sein Abitur mit sage und schreibe 1,0.

Er gewann einen „Jugend forscht“ Preis.

Er studierte mit großem Erfolg Physik in Deutschland und Mathematik in Australien. Dort traf er auf Forscher, die statistische Verfahren zur Messung von Schülerleistungen entwickelten, arbeitete daran mit und entwickelte sie weiter.

Schließlich holte ihn die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in der die 29 stärksten Industrienationen zusammengeschlossen sind, in ihre Zentrale nach Paris. Dort ist er für die Bildungsstatistik verantwortlich und erfand die Pisa Studie, die er weltweit koordiniert.

Die Rede ist von Andreas Schleicher.

Am 11. April 2003 erhielt er in Stuttgart den Theodor Heuss Preis.

 

Cut 1 / Schleicher

Die Pisa Ergebnisse  sprechen  auch hier eine klare Sprache Jede institutionelle Barriere, die wir aufbauen, behindert Lernen und verstärkt Chancenungleichheit.

 

Sprecherin

Andreas Schleicher plädierte in seiner Dankesrede dafür, Schulen mehr Eigenständigkeit und Vertrauen zu geben. Denn so wie man mit den Schulen umgeht, so gehen auch sie mit den Schülern um.

Alle  Festredner waren sich einig: Mehr Freiheit für die Schulen. Bislang sind es aber nur wenige  Schulen, die sich die Freiheit nehmen. Doch es gibt sie. Und sie werden gewöhnlich nicht daran gehindert, eigene Wege zu gehen. Sechs solcher Schulen wurden in Stuttgart mit der Theodor Heuss Medaille ausgezeichnet, zusammen mit Schleicher, der den Theodor Heuss Preis erhielt.

 

Zum Beispiel die Jenaplan-Schule in Jena. Die Schule fängt  bereits mit dem Kindergarten an, alle Schüler lernen bis zur 10. Klasse gemeinsam. Ein großer Teil macht Abitur.

 

Cut 2 / Gisela John, Schulleiterin

Wir haben tolle Schüler – oder?  Dass ich immer froh bin Lehrerin zu sein hier. Leute, die als Gäste kommen, sagen immer, das sind doch alles ausgesuchte Schüler, die machen doch nie Probleme. Die haben noch nicht begriffen, dass hinter dem Ganzen ein gemeinsam geschaffenes Regelwerk und gemeinsame Rituale stehen, dass man miteinander leben kann und sich nicht behindert.

 

Sprecherin

Gisela John, die Schulleiterin. Ihr Stolz auf die eigene Schule ist Teil einer pädagogischen Produktivkraft, die nur entsteht, wenn die Schule keine nachgeordnete Behörde ist, wenn sie sich nicht als Erfüller von Lehrplänen versteht. 

 

Heute ist die ganze Schule auf den Beinen – das heißt, fast die ganze, bis auf die „Spatzen“,  die Kleinen aus dem Kindergarten. Aber alle anderen 400 Schüler von Klasse 1 bis 13 sowie das Kollegium ziehen von der Tatzendpromenade 9 quer durch Jena zum Universitätshügel. Ein großer Hörsaal reicht für die ganze „Jenaplan-Schule“ aus. An diesem Vormittag stellen die Lehrer ein Projekt vor, an dem in den nächsten drei Wochen alle Schüler und Lehrer und auch die „Spatzen“ arbeiten werden. Das Thema: „Die Moderne.“

 

Cut 3 Atmo Projektpräsentation

 

Sprecherin

Die Präsentation im Hörsaal ist kurzweilig und lehrreich. Eine Lehrerin trägt das Gedicht „Anna Blume“ von Kurt Schwitters vor. Ein Chor von Lehrern und Oberstufenschülern singt Songs aus dem Musical „Cabaret“. Lauter Proben aus Projekten, die nun beginnen. Die Reihe ist lang. Dann geht etwas schief. Während eine Lehrerin Brecht singt, erscheinen hinter ihr unpassende Dias und Schriften aus dem Beamer. „Der Computer spinnt,“ ruft jemand, „wo ist Konrad?“ Konrad ist ein Computergenie aus dem 9. Jahrgang, die Autorität auf diesem Gebiet.

 

Diese Szene wäre in manch anderer Schule der Auslöser für großes Gejohle im Saal geworden. Lauter prustende Schüler, die auf so etwas nur gewartet haben. Endlich mal Druck ablassen, ein kleines Match im sadistischen Pingpong mit dem Lehrkörper. Hier aber: nichts davon. Vielleicht ein Lächeln. Keine Störung der Aufmerksamkeit. Bloß einige Lehrer finden die Panne peinlich.

Wenn eine Schule diesen Test besteht, muss etwas ganz Besonderes mit ihr sein. Worin besteht ihr Geheimnis?

Es ist der Verzicht auf den Druck durch Selektion. Es ist der Abschied vom Gift des dreigliedrigen Schulsystems.

 

Cut 4  Atmo /  Schüler O-Ton /  Atmo

Also ich find’s gut mit den Noten, dass man da nicht so unter Druck gesetzt wird, in vielen Schule, (sonst sagt man) „ja, gut, lernen, ja, viel lernen,  ja, machen, dass man ne gute Note bekommt im Diktat oder in `ner Mathearbeit“. Hier ist das nicht so. Hier kriegt man in Englisch vielleicht mal Exercises, also wird nicht so unter Druck gesetzt. „Hoffentlich habe ich ne gute Note, hoffentlich“, das ist hier nicht so. Jede Woche haben wir sechsmal Englisch, also jeden Tag. Man lernt hier schon viel, es wird nur ruhiger angegangen. Ich lern hier mehr wie in einer anderen Schule.  Ich bin hier um Längen besser wie in anderen Schulen. Und ab der 8. gibt es ja eh Noten, aber ich finde da ist man reifer, viel reifer.

 

Sprecherin

Wolfgang geht in die fünfte Klasse. Er hat erst kürzlich an die Jenaplan Schule gewechselt. Jetzt lauscht er weiter der Projektpräsentation im Unihörsaal. Ein Lehrer skizziert, worum es bei Studien über den Komponisten Eric Satie gehen wird. Ausschnitte aus Charly Chaplins Film „Modern Times“ werden gezeigt. Eine Exkursion zum „Bauhaus“ wird vorgestellt. Worum soll es bei den „Blauen Pferden“ des Malers Franz Marc gehen;  wie wurde Fritz Langs „Metropolis“ gedreht? Nicht leicht, sich für eines der Angebote zu entscheiden. Und bei allen Projekten wird Wolfgang viele jüngere und ältere Mitschüler treffen. Auch das ist spannend. 

 

Die Grundidee des Jenaplan, den der Reformpädagoge Peter Petersen in den zwanziger Jahren entwickelt hatte, ist die der Gemeinschaftsschule. Schüler sollen nicht nur mit gleichaltrigen Kindern oder Jugendlichen zusammen sein. Sie lernen besser in gemischten Gruppen. Nicht nur, weil Jüngere von Älteren lernen –  die Älteren bekommen auch von den Jüngeren Impulse.

Verschiedenheit zuzulassen, Freiheit zu wagen, die Pflicht, zu erklären, was man will und zu verantworten, was man getan hat – das war so ziemlich das größte denkbare Gegenteil zur Schule der DDR. Aber auch im Westen herrscht – wie man weiß – noch Lehrplanwirtschaft.

In Jena wurde in der Wendezeit diese Schule gegründet, die so sehr an lichte deutsche Bildungstraditionen anknüpft und auf die dunklen verzichtet. Später wurde sogar ein Passus in das Thüringer Schulgesetz aufgenommen, der reformpädagogisch ausgerichteten Schulen besondere Spielräume zubilligt, zum Beispiel was die Notengebung betrifft oder die Möglichkeit, vom Kindergarten über die zehnjährige Regelschule bis zur gymnasialen Oberstufe alles unter einem Dach zu haben. Eine Schule muss also nicht bloß Gesetze erfüllen, sie kann auch auf deren Veränderung hinwirken. Und es zeigt sich: So etwas wie den „Geist“ einer Institution gibt es wirklich. Er wirkt in der großen Konzeption wie im Alltag jedes Schülers.

 

Cut 5              Gisela John

Jeder Klasse Klassenraum ist anders, einer hat Streifen, einer ist grün, einer ist blau. Die Schule lebt von der Individualität der Schüler und von der Individualität der Lehrer und im Grunde auch von den Stärken und Schwächen, von den Macken der einzelnen. Man muss erkennen, wie ein Schüler lernt, und jeder lernt anders, und ich muss dem Schüler helfen, dass er erfolgreich ist. Ich muss dem nicht die Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Ich muss ihm helfen, dass er bereit ist Anstrengung aufzubringen und dass er sieht, es lohnt sich, er kommt damit zum Ziel. Also, ne Sache muss auch irgendwo ästhetisch sein. Also ein Gegenstand muss immer zu Ende gebracht werden und zwar so, dass es schön aussieht.

 

Sprecherin

Schönheit ist ein Maß des Gelingens, auch das einer Schule. Das ist in Deutschland ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Wenn man an die Normalverwahrlosung vieler Schulen denkt, kann man traurig werden. Aber warum sollten nicht Schönheit und Spiel, Ernst und Eleganz, die Anstrengung, eine Sache zu vollenden und sie dann anderen vorzustellen, Prinzipien von Schulen werden?

Gelingen kann allerdings nur, was auch misslingen darf. Wenn Freiheit und Unsicherheit aus lauter Furcht vor dem Misslingen klein gehalten werden, dann wird der Kreativität die Seele genommen. Gelingen können Dinge nur, wenn im Handeln das Neue eine Chance bekommt, wenn nicht bloß Bewährtes angewendet, ausgeführt oder gar nur kopiert wird.

An der Jenaplan Schule ist das Selberhandeln der Schüler eines der Bildungsziele. Das kann man nur erfüllen, wenn es nicht in eine ferne Zukunft geschoben wird, sondern wenn es sofort gilt. 

Von 10.30 Uhr an sind an drei Tagen die Woche 100 Minuten Projektzeit. Über das ganze Jahr. Wer zu dieser späteren Vormittagszeit durch die Schule geht, erlebt eine für deutsche Schulen ungewohnte Arbeitsatmosphäre. Auf den Fluren, im Treppenhaus, in der Bibliothek, selbst im Lehrerzimmer und natürlich in den Klassenzimmern – überall sitzen, hocken oder stehen Schüler. Sie sind ganz bei sich selbst und bei ihrer Sache. Die meisten Türen stehen offen. Manchmal trägt ein Schüler etwas vor. Das nennt man Präsentieren, ein wichtiges Wort in dieser Schule. Diese 100 Minuten sind der Höhepunkt des Tages in dieser Ganztagsschule.

 

Jedes Projekt dauert in der Regel drei Wochen, anschließend werten die Lehrer es  aus und versuchen, es für das nächste Mal zu verbessern. So lernen auch die Lehrer. Ja, man könnte sagen, sie forschen. Sie sind nicht in erster Linie Fachlehrer, sondern Experten des Lernens. Sie beobachten die Schüler, sich selbst und die Wirkung ihrer Arbeit. Je freier die Schüler im Unterricht lernen, um so gewissenhafter müssen Lehrer den Unterricht entwerfen, ja choreografieren. Und Schulleiterin Gisela John sogt dafür, dass die Lehrer miteinander im Gespräch bleiben.

 

Cut 6     Gisela John

Lehrer, die nicht wissen was wir machen – in  Jena, die reden schlecht über uns. Die sagen Spielschule, hier kann jeder machen was er will, hier geht´s kunterbunt durcheinander, Kraut und Rüben. Leute die kommen und gucken sagen, Mensch, ihr habt keine Schüler, das sind Wunderleute, die ihr hier habt, aber dass es eingebettet ist in eine Struktur, und die Schüler wissen, sie müssen ihre  Leistungen abrechnen. Wenn ich präsentiere vor den anderen, wenn ich in der Präsentation mir ein kleines Stückchen von meinem erarbeiteten Wissen raus suchen muss und zwar nach dem Aspekt, wie kann ich das interessant für die anderen gestalten und wie kann es anfangen, dass die mir zuhören und dass es den anderen auch was bringt. Und wenn ich in der Situation erfahren habe, dass ich andere belastet, weil ich das nicht richtig durchdacht habe oder mich nicht richtig vorbereitet habe, dann ist das unwahrscheinlich heilsam. Die wissen, es ist eineingebettet in einen Rhythmus in ein Ritual.

 

Sprecherin

Die Präsentation ist das wichtigste am Projekt. Darauf laufen die Arbeit, die Mühe und die Lust hinaus. Jetzt muss jeder Schüler zeigen, was er geschafft hat. Er muss sich verständlich machen und Fragen beantworten können. Er muss seine Zuhörer interessieren. Es gibt keine bessere Prüfung als das Präsentieren. Bei dieser Art der Abrechnung des Geleisteten kann man kaum betrügen – und will es  gewöhnlich auch nicht. Wer mogelt oder blufft wird schnell durchschaut. Da sind die Mitschüler gnadenlos. Und vor seinen Mitschülern will jeder gut da stehen. Außerdem lernen die Schüler von den Präsentationen der anderen mehr, als wenn Schritt für Schritt das Pensum durchgenommen wird. Der größte Effekt: Mit diesem Lernen in Zusammenhängen gewinnt die Schule Zeit. Denn wie aufwendig ist es, die komplexe Welt in dünne Schichten zu sezieren, auf Fächer zu verteilen und sie dann nach Lehr- und Stundenplan wieder aufzuwärmen? Das gelingt selten; und am Ende ist die verschulte Welt erkaltet und fühlt sich wie Pappe an.   

 

In dieser Schule weiß jeder Schüler, zu welchem Jahrgang er gehört, aber wichtiger ist eine andere Einteilung: Man gehört erst drei Jahre zur Untergruppe mit den Jahrgängen eins bis drei, kommt dann in die Mittelgruppe mit den Jahrgängen vier bis sechs und schließlich in die Obergruppe für Jahrgänge sieben bis neun. Der 10. Jahrgang wird auf den Abschluss vorbereitet. Dann kommt die Oberstufe, die der größte Teil der Schüler besucht und dann Abitur macht.

 

Neben den Stunden, in denen die Schüler in ihren altersgemischten „Stammgruppen“ zusammen sind, gibt es Kurse, die nach Jahrgängen angeboten werden. Während es in den gemischten Gruppen auf Klassengespräche, Zusammenarbeit und die Selbständigkeit der Schüler ankommt, steht in den Kursen eher der Unterricht des Lehrers im Mittelpunkt. Doch seit ihrer Gründung driftet die Schule immer mehr von den Kursen hin zu den heterogenen Stammgruppen, vor allem zu Projekten. „Da trauen wir uns immer mehr,“ sagt die Schulleiterin. Natürlich, gibt sie zu, haben Lehrer dabei Ängste zu überwinden. Lehrer erleben, wie sie ein heimliches, tief sitzendes Misstrauen zu überwinden haben: Irgendeine Stimme sagt noch, eigentlich wollten und könnten die Schüler von sich aus gar nicht lernen.

Wenn Schule gelingen soll, dann muss der Lehrkörper diese Mitgift, die er aus der eigenen Schülerzeit in sich trägt, aufspüren und abbauen. Auch das macht man in Jena.

 

Zu dieser Schule gehören auch behinderte Kinder und Jugendliche. Von den schwierigen Schülern lernt die Schule am meisten. Sie lernt, wie gelernt wird, und sie lernt, wie vielfältig die Menschen sind und dass alle aus ihren Schwächen versuchen, neue Stärken zu machen. 

 

Cut 7    Gisela John

Wir haben 16 Kinder, oder 17 Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, ein Kind aus dem Koma, das alles neu lernen musste, die beiden und richtig stark lernbehinderte Kinder, die kriegen auch keinen Schulabschluss.

 

Sprecherin

Am Umgang mit den Schwierigkeiten und Behinderungen der Schüler wächst die Schule. Das kann sie natürlich nur, wenn sie die Freiheit hat, aus ihren Erfahrungen und Beobachtungen Konsequenzen zu ziehen –  wenn also die Schule selbst ein lernender Organismus ist. Werden allerdings diejenigen Schüler, die Schwierigkeiten haben oder Schwierigkeiten machen, exportiert – von der höheren in die niedere Schule, von der Regelschule in die Sonderschule – dann nimmt sich die Schule die Chance, selber zu lernen.

 

Cut 8 Stern
Lernbehinderung ist ein Krankheitsbild, das es nur in Deutschland gibt, das gibt es überhaupt nirgends. Natürlich gibt es Kinder, die nicht so fix im Kopf sind, aber man käme nie auf die Idee, für sie Sonderschulen zu schaffen.

 

Sprecherin

…stellt Elsbeth Stern vom Max Planck Institut für Bildungsforschung fest. Tatsächlich gibt es in Deutschland eine Sonderschülerquote von mehr als 4%. Das ist international ohne Beispiel. In Finnland wurden alle Sonderschulen vollends abgeschafft.

Zum Profil der erfolgreichen Länder gehört auch: die einzelnen Schule ist selbständig.

Dass Freiheit leistungssteigernd wirkt, gehört zu den Erfahrungen in fast allen Bereichen unserer Gesellschaft. Vor Ort kennt man die Probleme am besten und weiß, welche Strategien erfolgreich sind. Nur souveräne Institutionen können lernen. In Ländern, die sich in den internationalen Schultests als erfolgreich erwiesen haben, wie zum Beispiel Finnland, hat man die staatliche Schulaufsicht komplett abgeschafft; in Schweden wurde die zentrale Schulbürokratie – wie man sagt – „geschlachtet“. Dafür wurde eine neue Infrastruktur zur Beratung von selbständigen Schulen geschaffen. An die Stelle detaillierter Lehrpläne und Vorschriften sind knapp formulierte Ziele getreten, die sogenannten Standards. Sie beinhalten weniger Wissen, das abgeprüft wird, als Kompetenzen, die sich im Lösen von Aufgaben erweisen. 

Das bedeutet natürlich auch, dass die einzelne Schule für den Erfolg ihrer Schüler verantwortlich ist und Rechenschaft geben muss.

Sie kann nicht mehr sagen: Wir haben die falschen Schüler. 

Elsbeth Stern, eine in ihrem Urteil vorsichtige Wissenschaftlerin, die sich solange zurück hält, bis sie ihre Thesen mit Studien beweisen kann, erbost die deutsche Ideologie, dass das frühe Sortieren begründet und von Vorteil sei. 

Es stimme einfach nicht.  

 

Cut  9             Elsbeth Stern

Diese Vorstellung, dass man für jeden Schüler den richtigen Platz und zwar auf Dauer, wo er auf Dauer hingehört finden müsse, die ist so absurd, die lässt sich überhaupt nicht rechtfertigen. In jeder Lernsituation gibt es Kinder, die schon etwas können, und andere können es noch nicht. Damit muss man umgehen. Aber das kann man nicht damit, indem man ihnen man ihnen vier verschiedene Plätze dauerhaft zuweist, sondern indem man verschiedenen Lernsituationen anbietet.

 

Zitator

„Die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen derselben Schulform sind wahrscheinlich größer als Unterschiede zwischen den Schulformen“.

 


Sprecherin

So lautet ein Befund der innerdeutschen Pisa Auswertung, der sogenannten Pisa-E Studie, die im Frühjahr 2003 vorgelegt wurde. Und weiter lesen wir….

 

Zitator

„Zugespitzt ließe sich formulieren, dass eine leistungsorientierte Homogenisierung von Schule um so bessere Fördereffekte hat, je weniger sie gelingt“.

 

Sprecherin

Verklausulierter kann man den Skandal des deutschen Bildungssystems kaum formulieren. 

Zahlen wiederlegen Ideologien:

In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erzielt fast ein Drittel der Realschüler bessere Mathematikleistungen als viele Gymnasiasten des Landes. In Bayern würden sogar 40 Prozent der Realschüler mit ihren Mathematikkenntnissen im Gymnasium zurechtkommen. Beim Lesen liegen immerhin 10 Prozent der Hauptschüler auf gymnasialem Niveau. 

 

Elsbeth Stern hat im Max Planck Institut für Bildungsforschung Studien

ausgewertet, die den Intelligenzquotienten von Schülern mit der von ihnen besuchten Schule in Beziehung setzen. Die Korrelation ist schwach.

 

Cut  10          Elsbeth Stern

Was man natürlich findet, sonst hätten wir ja die absolute Katastrophe, dass der Mittelwert schon so ist, dass im Gymnasium der IQ etwas höher ist als auf der Realschule und der wieder höher ist als auf der Hauptschule. Aber die Überlappung ist riesig. Wenn man es nur mal zweiteilt, Gymnasium / Nicht-Gymnasium, dann findet man bei 40 bis 50% der Schüler, das kann variieren zwischen den Studien, dass man sagt, mit diesem I Q kann man auf dem Gymnasium sein, damit kann man aber auf der Realschule sein.

 Das Problem ist ja, dass sich Begabungen normal verteilen, die „Gaußsche  Normalverteilung“, das heißt die meisten Menschen sind sich ziemlich ähnlich. 70% etwa weichen gar nicht mehr voneinander ab als der Test an Ungenauigkeit mit bringt. Nur die Extreme unterscheiden sich. Unserer dreigliedriges Schulsystem hat sich ad absurdum geführt, je höher der Anteil an Gymnasiasten wurde, weil man inzwischen den Schnittpunkt da setzt, wo sich die Leute am ähnlichsten sind.  Damit (steigt) die Fehlklassifikation, oder die Willkürklassifikation, weil man gar nicht klassifizieren kann.

 

Sprecherin

Lässt sich das deutsche, dreigliedrige Schulsystem noch verteidigen? Tatsächlich ist es ja zumindest ein viergliedriges System. Man vergisst die Sonderschüler. Und die deutsche Gesamtschule wäre ein fünftes Glied. Sie betreibt die Selektion häufig noch schärfer und noch beschämender. In jedem Fall gilt: die Raster, nach denen Schüler sortiert werden, verstellen den Blick auf die Individuen.

 

Cut  11

Die Grundidee der Dreigliedrigkeit ist ja eigentlich, wir wollen unterschiedliche Begabung fördern. Doch im Ergebnis kommt genau das Gegenteil heraus. //. Das ist ein unmenschliches System.

 

Sprecherin

…sagt Jürgen Hogeforster. Er ist Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer in Hamburg. Er ging im Herbst 2003 in der Wochenzeitung DIE ZEIT mit einer vernichtenden Kritik am deutschen Schulsystem an die Öffentlichkeit. Statt Selbstbewusstsein verbreitete es ein Gift, das alle schwäche. Für viele Schüler, meint der Handwerkssprecher, lautet die Botschaft…  

 

Cut 12

Du bist umsonst. Und immer wieder, du bist nur dumm. / Das saugt die Kraft ab. Die Fülle der negativen Erfahrungen,  dass er dann eines Tages sagt, ich habe keine Lust mehr, und dann kommt: wir brauchen dich eigentlich nicht, du gehörst nicht mehr hierhin.

 

Sprecherin

Auch Hogeforster blickt nach Finnland und Schweden – auf die Systeme, die dadurch die allgemeine Intelligenz steigern, dass sie den Schülern Zugehörigkeit versprechen.

Vor den Hamburger Handwerkern setzte sich bereits der Handwerkstag Baden-Württemberg für eine Schule nach skandinavischem Vorbild ein, in der alle Schüler neun Jahre zusammenbleiben.

War man vom Handwerk in Sachen Bildung bisher gewohnt, dass auf  Rechtschreibung, Dreisatz und saubere Fingernägel gepocht wurde, so liest man im Bildungsmanifest des Handwerks aus dem Südwesten: 

 

Zitator

„Das Kernproblem ist in Deutschland, dass der Lernprozess nicht individuell an den Entwicklungsstand der Schüler gekoppelt ist. Stattdessen wird nach einem Einheitskonzept unterrichtet.“

 

Sprecherin

Wer nicht der Norm entspricht…

 

Zitator

 „….den stigmatisiert das System zum schlechten Schüler, das selektive System entlässt die Schule aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern“.

 

Sprecherin:

Natürlich wollen die Handwerker auch deshalb eine andere Schule, weil sich bei ihnen die Invaliden unseres Schulsystems sammeln. Nur der Hälfte der Jugendlichen, die sich dort bewerben, wird die Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsausbildung zugesprochen. Anders als in manchen früheren Verlautbarungen wird die Schuld nicht bei den Jugendlichen gesucht, sondern in der Art, wie hier zu Lande Schule gemacht wird.

 

Cut 13  Hogeforster

Lernen muss doch Freude machen. Aber wenn man immer unter Druck und Angst lernen muss, du fliegst in die nächste Schublade rein, dann  findet kein Lernen mehr statt. Also die Psychologie ist ne völlig verkehrte.

 


Sprecherin

Dass die neurotisierende Wirkung des deutschen Schulsystems von der Wirtschaft angeklagt wird, ist eines der Zeichen dafür, dass die Karten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft neu gemischt werden. Das deutsche System, das immer mit Erniedrigung und Aberkennung gearbeitet hat, brachte dem Industriesystem Vorteile. Wem in der Schule gesagt wurde, du bist nichts, aus dir wird nichts, reiß dich am Riemen, der hatte wohl den Antrieb, seine lebenslange Rehabilitierung zu betreiben, notfalls durch Maloche und Selbstausbeutung.

Künftig kommt es mehr und mehr darauf an, Ideen zu haben – und dazu muss man sich selbst einigermaßen trauen. Und man muss hungrig auf die Welt sein.

 

Bildung, schreibt die OECD, in ihrem Bildungsbericht 2003, wird zur wichtigsten Produktivkraft. Zugleich stellt sie für Deutschland fest: die Bildungszahlen sind fast so schlecht wie die Wirtschaftsdaten.    

 

Cut 14

Heute hängt Produktivitätszuwachs, hängt Wirtschaftswachstumganz ganz entscheidend von Bildung ab. Wir sehen dass Unterschiede beim Produktivitätszuwachs, Unterschiede beim wirtschaftliche Fortschritt ganz entscheidend auf Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten beim Um- und Ausbau der Bildung zurück zu führen sind

 

Sprecherin

Die Erkenntnisse von Andreas Schleicher, dem Chef der OECD Abteilung „Bildungsindikatoren“, dem Beinahe -Schulversager aus Deutschland und Pisa Erfinder, ohne den wir etwas ahnungsloser wären, werden uns die nächste Jahre weiter irritieren

Die nächste weltweit durchgeführte Pisa Studie erscheint am 6. Dezember 2004, ausgerechnet am Nikolaustag. Wenige zweifeln daran, dass Schleicher nicht als Nikolaus, sondern als Knecht Ruprecht nach Berlin kommen wird. Nach dem Abschalten des Tonbands und dann doch noch zum Zitieren freigegeben sagte er:

Deutschland hat höchsten noch ein Zeitfenster von 10 Jahren. Wenn bis dahin die Bildung nicht umgebaut ist, wird unser schönes Land ein Museum der alten Industriegesellschaft.


Literaturliste zur Reihe „Schule kann gelingen“:

 

 

Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.

Kartoniert – 124 Seiten – Beck
Erscheinungsdatum: 2003
ISBN: 3-406-50469-8

 

Hentig, Hartmut von: Bildung

Taschenbuch – 206 Seiten – Beltz
Erscheinungsdatum: 1. April 2001
Auflage: 3. Aufl.
ISBN: 3-407-22035-9

 

Kluge, Jürgen: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept.

Gebundene Ausgabe – 241 Seiten – Campus Sachbuch
Erscheinungsdatum: März 2003
ISBN: 3-593-37189-8

 

Oelkers, Jürgen: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA.

Kartoniert – 228 Seiten – Beltz
Erscheinungsdatum: März 2003
ISBN: 3-407-22141-X

 

Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.

Gebundene Ausgabe – 511 Seiten – Spektrum Akademischer Verlag
Erscheinungsdatum: Oktober 2002
ISBN: 3-8274-1396-6