Schule kann gelingen (2)

SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

 

Eine pädagogische Währungsreform

Aus der Reihe: Schule kann gelingen (2)

 

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Bildung

Regie: Maria Ohmer

Sendung: 11.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

Archiv-Nr.: 018-9433

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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

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manuskript

 

 

 

Atmo:  Lehrwerkstatt; anblenden, ganz kurz offen;

 

Cut 1: (Jürgen Christ  – Werkmeister, BMW Motorradwerk Berlin Spandau)

Die haben ein Suchtverhalten, möchten Vorgaben haben und zwar ganz genaue Vorgaben, bitte nicht nachdenken.

 

Atmo:  Lehrwerkstatt unter Sprecher

 

Sprecher:

So erlebt Jürgen Christ, Lehrlingsausbilder im BMW Werk Berlin, viele, ja die meisten Schulabgänger.

 

Cut 2: (Christ)

Und das zweite: sie sind süchtig nach Zensuren. Nicht nach Lob, das ist nicht das Problem, sondern nach Zensuren. Nicht ob das Teil gut oder schlecht geworden ist,  ihre Welt ist nach Zensuren ausgerichtet. / Sie sind es nicht gewohnt alleine Entscheidungen zu treffen und die nachher auch zu vertreten, auch wenn sie falsch gewesen sind. Also zu sagen, o.k. ich hab einen Fehler gemacht, müssen wir halt ne neue Lösung finden. Aber zu der Entscheidung zu stehen.

 

Sprecher:

Mit seinen Lehrlingen im BMW Werk ist der Ausbilder schon dabei, aus der Welt der Zensuren auszusteigen. Statt dessen werden hier sogenannte „Rückmeldungen“ eingeführt, Dialoge. Denn es geht schließlich auch darum, zusammen zu arbeiten – das wird heute immer wichtiger, überall. Zensuren hingegen fördern den Einzelkämpfer.  

 

Cut 3: (Christ)

Ich will weg von den Zensuren. Wir haben als Gruppe lange gekämpft, um vorwärts zu kommen und zu wenigstens zu sagen, wir funktionieren ein bisschen als Gruppe. Das war sehr, sehr schwer. Es wurde nie darauf geachtet, was kann eigentlich mein Nebenmann und wo könnte ich von ihm lernen. Wir nutzen die Stärke des Einzelnen in der Gruppe und jetzt gehen wir dazu über zu fragen, wer hilft dem anderen? Wo ist ein Starker, der dem Schwachen hilft und ihn so ein bisschen hoch zieht.  

 

Sprecher:

Zensuren sind ins Gerede gekommen. Auch dort, wo man die stärksten Befürworter für diese traditionelle Leitwährung des Bildungssystems vermutet, in der Arbeitswelt. Die hat sich in den vergangenen Jahren stärker gewandelt als jeder andere Bereich der Gesellschaft.

1967 noch hieß es im Wirtschaftsorgan „Industriekurier“:

 

Zitator:

„Demokratie hat in Unternehmen so wenig zu suchen wie in Gefängnissen, Krankenhäusern und Schulen.“

 

Cut 4:  (Enja Riegel, Helene Lange Schule, Wiesbaden)

Ich hab als junge Lehrerin in einem sehr konservativen Mädchengymnasium in einer Gesamtkonferenz den Antrag gestellt, dass die Noten abgeschafft werden sollen. Das war ein ganz furchtbarer Aufruhr und die Lehrer haben mit den Fäusten auf die Tische getrommelt und gesagt, ich soll in die DDR gehen. Das war damals das Schlimmste, was man jemandem androhen konnte: „Gehen sie doch nach drüben, da gehörnse hin! “

 

Sprecher:

Diese Zeiten sind vorbei. Enja Riegel, damals die junge Lehrerin, wurde später Leiterin der Helene Lange Schule in Wiesbaden  – einer eigenwilligen und durch Spitzenleistungen glänzenden Schule. Enja Riegel brauchte Geduld, ungefähr 25 Jahre, bis das Notensystem tatsächlich ins Schwanken geriet.

 

Cut 5:  (Riegel, Fortsetzung Cut 4)

 Wir haben das dann in dieser Schule irgendwann erreicht, dass  es in den Klassen fünf und sechs keine Ziffernnoten gibt. Aber da war ich gar nicht die treibende Kraft. Das waren damals Schüler….

 

Sprecher:

…und auch Eltern.

Heute verdichten sich ausgerechnet bei einigen Müttern und Vätern, die in Unternehmen in den obersten Etagen sitzen, die Zweifel an der Aussagekraft, vor allem an der Wirkung von Noten. Spornen sie wirklich zu besseren Leistungen an? Oder zehren sie am Willen der Schüler, ihr Bestes zu geben?  Es kommt wohl darauf an, was man unter Leistung versteht. Geht es darum, gut zu funktionieren und von anderen gesetzte Aufgaben möglichst perfekt zu erfüllen? Oder kommt es darauf an, Probleme zu lösen, auch auf Wegen, die bisher vielleicht noch niemand gegangen ist? Anders gefragt:

 

Zitator:

„Wie machen wir aus Söldnerheeren Kulturgemeinschaften?“

 

Sprecher:

Der Manager Thomas Sattelberger. Fünf Jahre hat er bei der Lufthansa den Bereich Personalentwicklung geleitet. Neuerdings ist er Personalvorstand der Continental AG. Sattelberger verlangt einen Wandel in den Betrieben und in der gesamten Gesellschaft. „Früher“, – also in der klassischen Industriegesellschaft, schreibt  Sattelberger… 

 

Zitator:

„…stellte das Individuum eine gemietete Ressource, einen Kostenfaktor dar. Heute ist das Individuum ein „human asset“, das Humanvermögen. Diese immateriellen Vermögen der modernen, informationsbasierten Unternehmen sind zunehmend fragil. Unternehmen sollten Mitarbeiter zu Mitgliedern machen. Personen, die sich als Mitglieder betrachten, zeigen größeres Interesse als andere, die sich nur als gemietetes Gut betrachten.“

 

Sprecher:

Manager wie Thomas Sattelberger verlangen eine mentale Währungsreform: In den Betrieben, in den Schulen, in der ganzen Gesellschaft. Auf den Wandel drängt die Wirtschaft am stärksten. Sein Ausbleiben schlägt sich dort bereits in den Bilanzen nieder.

  

In der Industriegesellschaft sollten die meisten Menschen Routinearbeiten verlässlich ausführen. In der aufziehenden Wissensgesellschaft müssen immer mehr Menschen selbständig Probleme lösen. Sie agieren an der Front zur Zukunft, also zu dem, was niemand kennt. Der Anteil klassischer Produktionsarbeit wird in den beiden kommenden Jahrzehnten auf 10% sinken, prognostiziert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD. Software-Ingenieure und Handwerker, Ärzte und alle Beraterberufe können sich nicht nur auf vorhandenes Wissen stützen. Sie müssen es ständig modifizieren. Sie müssen selbst neues Wissen schaffen. Und das gedeiht nur in einem Klima, in dem sich die Menschen anerkennen. Sie werden sich nur dann trauen, ihren Intuitionen zu folgen und sich auch ins Unsichere zu wagen, wenn sie Fehler machen dürfen.

Alle internationalen Schulstudien, nicht nur „Pisa“,  bescheinigen den deutschen Schülern passable Leistungen, solange es um Routineaufgaben geht. Der Leistungseinbruch erfolgt, sobald die Kompetenz, Probleme zu lösen getestet wird.

Sie ist schwach. Dieser Mangel wird inzwischen in den meisten Schulen gespürt, einige haben ihn klar erkannt und manche Schulen sind schon ziemlich weit darin, ihn auszugleichen und ihren Alltag entsprechend umzubauen.

 

Atmo: Grundschule

 

Sprecher:

Erstes Schuljahr. Eine Klasse, die den Besucher mit einer erstaunlichen Arbeitsatmosphäre überrascht.  Wir besuchen die Max Brauer Schule in Hamburg Altona. Im Frühjahr 2003 wurde sie als mutige Schule mit der Theodor Heuß Medaille ausgezeichnet. Sie geht von Vorschulklassen bis zum Abitur. Die Max Brauer Schule ist eine Gesamtschule der zweiten Generation, die die Fehler der Lernfabriken aus den siebziger Jahren vermieden hat.

Noten gibt es in den ersten Jahren nicht, und auch in der Oberstufe arbeitet man an einer anderen „Währung“ der Leistungsbeurteilung.  

Die Schule bekommt viel Besuch. Bestimmte Fragen werden den Lehrerinnen und Lehrern fast jedes Mal gestellt: „Strengen sich die Kinder denn an, wenn kaum Druck gemacht wird? Und wie kommt es, dass ihre Schüler dennoch so viel leisten, obwohl sie keine Noten bekommen?.“ 

Sybille von Katzler, Lehrerin in der ersten Klasse, lacht dann und fragt zurück:  Warum sagen Sie eigentlich obwohl?

 

Cut 6: (Lehrerin Sybille von Katzler)

Ich glaube, das die Kinder ohne Noten mehr leisten. Die guten Kinder sowieso, weil den Level, ich habe schon ne eins oder zwei, gibt es ja nicht. Die machen weiter, die wollen ja unheimlich viel. Und dass die nicht so Leistungsstarken auch mehr leisten. Weil sie bescheinigt bekommen, dass sie sich angestrengt haben, dass sie sich bemüht haben, dass sie einen  riesigen Lernfortschritt gemacht haben./  Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn so funktioniert, mit so einer Arbeitsatmosphäre, wenn man die geschaffen hat, dass sie dann mehr Leistung bringen als mit Noten. /

Noten sind so kontraproduktiv, /  dann muss man sehen, dass sie bei schlechten Noten den Mut verlieren, dass sie denken, ich bin fünf, nicht die Leistung ist fünf, ich bin schlecht.

 

Sprecher:

Die Kinder arbeiten gerade in einer sogenannten „Werkstatt“. Das Thema: die Jahreszeiten. Eine Werkstatt geht so: Es gibt so viele verschiedenen Aufgaben wie Kinder in der Klasse, hier also 21 Aufgaben zum Schreiben, Lesen, Rechnen und Malen, zu Natur und Alltag.  21 Aufgabenkästen stehen vor den Fenstern, und in jedem Kasten liegen wiederum 21 Exemplare, für jedes Kind also eines. Für jede der Aufgaben ist ein Kind der „Chef“. Seine Chefsache erledigt jeder zuerst. Vor allem macht er sie ganz gründlich und bespricht das Ergebnis mit „Billy“, so nennen die Kinder ihre Lehrerin Sibylle von Katzler. In manchen Stunden sind zwei Lehrerinnen in der Klasse. Mit Fragen oder mit den Lösungen aller anderen Aufgaben aus der „Werkstatt“ gehen Schüler dann nicht mehr zur Lehrerin, sondern zum jeweiligen „Chef“. Der weiß ja wie es geht. Und wenn nicht, dann ist für Zweifels- und Grundsatzfragen die Lehrerin zum Üben oder zum Noch-Mal-von-vorn-Anfangen da. So haben die Pädagogen für einzelne Kinder Zeit.

Die Max Brauer Schule hat sich vom Stil des in Deutschland noch immer verbreiteten „fragend entwickelnden Unterrichts“ gelöst. Das ist ein Unterricht, in dem der Lehrer versucht, alle Fäden in seiner Hand zu behalten. Er legt mit seinen Fragen Fährten, auf die er Schüler er zu locken versucht. Kritiker nennen das auch die „Hundeschule.“ Schüler lernen zu erspüren, was der Lehrer will, statt selbst zu denken.

Seit den internationalen Schulstudien weiß man, dass dieser stark von außen gelenkte Unterricht nicht sehr wirksam ist.

Aber brauchen Kinder nicht straffe Zügel? Viele Eltern fragen: Müssen Kinder nicht auch Ellenbogen ausbilden, um sich später durchzusetzen? Geht es denn so ohne Druck?  Sybille von Katzler, die Lehrerin im ersten Schuljahr, widerspricht: Schüler strengen sich mehr an, wenn man ihnen vertraut und ihnen mehr Spielraum für Selbständigkeit und Zusammenarbeit gibt. Wenn sie für sich und miteinander lernen,  sind sie intensiver dabei, als wenn sie vor allem auf den Lehrer blicken und an Noten denken. Und wenn die Lehrerin heute die Arbeit der Kinder bewertet, hat sie das einzelne Kind im Auge, blickt auf seinen Fortschritt – und vergleicht es mit sich selbst,  nicht, wie bei der Notengebung, mit dem Klassendurchschnitt. 

 

Cut 7: (Sybille von Katzler) 

Die Anstrengung der Kinder wird ja nicht gemessen. Die strengen sich ja wahnsinnig an. Und der Lernfortschritt wird auch nicht gemessen. Einige Kinder machen einen ungeheuren Lernfortschritt, und trotzdem erreichen sie nie das, was leistungsstarke Kinder ganz locker erreicht haben. In den Noten spiegelt sich das in keiner Weise wieder, diese Anstrengung. Das demoralisiert die Kinder in ihrer Anstrengung. Auch für gute Kinder ist es so, wenn sie immer gute Noten haben, sie die aus dem Ärmel schütteln, warum soll ich mich dann noch mehr anstrengen?

 

Sprecher:

Demütigungen, auch die fortgesetzte Entwertung durch schlechte Noten, schwächt den Willen, sich mit seinen Leistungen zu zeigen, sich als Person vor anderen zu exponieren. Wenn die erwartete Resonanz nicht freundlich ist, steigt die Neigung, sich zu verstecken oder etwas vorzuspielen. Diese Tarnung kann auch darin bestehen, nur noch das zu tun, was verlangt wird, und damit die Unsicherheit und das Risiko zu mindern, die mit den eigenen Fragen und Antworten verbunden sind. Dann wirken Schüler zuweilen wie Untermieter im eigenen Leben. Was sie tun, sehen sie nicht mehr als ihre eigene Sache an. Sie taktieren. Sie fragen, wie viel Investition lohnt sich für das zu erwartende Noten-Ergebnis. In der Oberstufe agieren sie dann häufig wie Betriebswirte ihrer selbst. Sie verwerten und verwalten Bestände, sie produzieren nichts. Kreativität kommt so nicht auf. Sollen Menschen etwas Neues wagen, dann müssen sie es zunächst begehren, müssen es sich vorstellen. 

Es muss Teil von ihnen geworden sein, bevor sie es ins Spiel der Welt bringen.

In der Arbeitswelt wird verlangt, dass  selbstbewusste, erfindungsreiche, eben leistungslustige Menschen die Söldner ablösen. Wenn Unternehmen mit anderen innovationsfähigen Unternehmen im Wettbewerb sind, dann wird ihre Innovationsfähigkeit zur Überlebensfrage. Womit zuvor gegeizt wurde, nämlich den Mitarbeiten Spielräume und Anerkennung zu geben, wird nun  gewissermaßen zum Sachzwang. Denn die allseits verlangte Kreativität folgt keinem Kommando. Sie gedeiht am besten, wenn Neugier und Lust auf die Welt ganz absichtslos einfach sein dürfen.

In der Max Brauer Schule versuchen die Lehrer bereits, den Rahmen für Neugier und Lust auf die Welt zu schaffen. Und wenn die Schüler aufblühen, dann ist das für Lehrer der beste Lohn.

 

Cut 8:  (Lehrerin Frauke Vollkmer / Unterstufenleiterin)

Das schöne ist ja, dass sie nicht das Gefühl haben, dass sie sich anstrengen: Sie bringen das natürliche Wollen mit, wir wollen hier was lernen. Das ist so. Im Leben lernt man gerne. Das kann –  ich sage nicht, es muss – schlagartig aufhören, wo ich eine Note bekomme. Das ist, als wenn ich Geld dafür kriege. / Die Erfahrung hat man ja auch in Klasse 5/6 gemacht, dass sich der Geist einer Klasse völlig verändert hat. In dem Moment, wo es Noten gibt, dass der Gedankenstrang, wenn ich eine Arbeit beginne, dann mache ich es für eine Note, und nicht, ich will das jetzt können, oder ich interessiere mich für dieses Thema. Das hört dann schlagartig auf, das ist einfach so.

 

Sprecher:

Frauke Vollkmer ist Unterstufenleiterin in der Max Brauer Schule. Ihre Beobachtungen werden von den internationalen Schulstudien,  zuletzt von der Grundschulstudie IGLU, bestätigt. Spitzenreiter im Vergleich der Viertklässler ist Schweden. Dort gibt es bis zur 8. Klasse keine Noten. Auch beim Pisa-Spitzenreiter Finnland geht es mit Noten frühestens in der 5. Klasse, häufig auch erst in der 7. los.

Die Studien widerlegen, was manche Deutsche bis dahin vermutet haben: Ohne Noten fehle der Leistungsanreiz. Der Leistungsanreiz, auf den die Hamburger Lehrerinnen Sybille von Katzler und Frauke Vollkmer setzen, ist ein anderer:

 

Cut 9:  (Lehrerinnen Sybille von Katzler  und Frauke Vollkmer)

SK:

Es ist die Arbeitsatmosphäre. Der überwiegende Teil arbeitet und dann arbeiten die anderen auch.

F.V.

Es gehört ganz dringend dazu, dass in so einer Gemeinschaft jede Arbeit auch eine Bewertung erhält. Die Bewertung, die erfolgt und darf auf keinen Fall wegfallen. Und zwar erfolgt die zum größten Teil durch die Gemeinschaft, indem die Dinge, die erarbeitet werden, vorgestellt werden und von den anderen gesehen und beachtet werden: aufgehängt und vorgelesen, es werden Bücher draus gemacht; es darf natürlich nicht so sein, dass jeder vor sich hin arbeitet, es dem Lehrer zeigt und der Lehrer sagt, hast du gut gemacht. Es ist eine andre Kultur, wie man die Dinge in die Öffentlichkeit bringt…

SvK

….wertschätzt,/ wir haben ne andere Art von Leitungsbeurteilung, wir haben ne Leistungsbeurteilung, selbstverständlich, erst mal dass wir die Kinder loben, und sie auf die Fehler hinweisen, und ihnen sagen, das kannst du noch besser, sie anspornen, und dass es immer präsentiert wird; das die anderen immer ein Spiegel sind; sie lesen ihre Geschichten vor, sie zeigen was sie gemacht haben, sie haben ständig so ne Korrektur, / und sie wissen, was sie können; jedes kann Auskunft geben, was es kann. Und wenn man sie jetzt fragen würde, wo musst du noch besser werden, wüssten sie das auch.

 

Sprecher:

Wer die Grundschulklassen der Max Brauer Schule besucht, könnte an Robert Musils Vorschlag in seinem Roman „Mann ohne Eigenschaften“ denken, ein „Sekretariat für Seele und Genauigkeit“ einzurichten. In den Klassen spürt man etwas von dieser Kombination, von der Musil meinte, sie könnte die moderne Welt retten. Seele und Genauigkeit: Alles wird wichtig, auf die einzelnen Dinge kommt es an. Aber kein Ding wird von den anderen Dingen und vor allem nicht von ihren Produzenten abgeschnitten.

Man könnte ins Schwärmen geraten, zumal die Schule auch den härtesten Test bestanden hat: PISA. 

Die Max Brauer Schule gehört zu den Schulen, in denen der Pisa-Test durchgeführt wurde. Die Zahl der in den jeweiligen Schulen getesteten Schüler ist zu gering für ein verlässliches Ergebnis der einzelnen Schule, außer das Ergebnis ist ganz eindeutig. Das Max Planck Institut für Bildungsforschung, das Pisa in Deutschland erhob, teilt mit, dass 10 bis 15 Prozent der getesteten Schulen deutlich über dem sogenannten „Erwartungswert“ liegen, der sich aus dem Durchschnitt der Schulen und der sozialen Zusammensetzung der jeweiligen Schule ergibt. In der Max Brauer Schule liegen die Pisa Testergebnisse im Lesen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften deutlich zwischen 30 und 40 Punkten über diesem Erwartungswert. Dieser Abstand entspricht dem Pensum eines Schuljahres, erklärt das Max Planck Institut.

 

Cut 10: (Svenja, Abiturientin, Max Brauer Schule)

Meine Grundschulerinnerung ist, dass ich eigentlich keine Schule hatte / Da fand ich’s schade, wenn Ferien warn. Wir haben aber alle Schreiben gelernt, Lesen gelernt. Wir haben aber auch alle nebenbei viel gemacht, viel Theater gespielt, das fand ich Klasse. Dass man Berichtszeugnisse kriegt und nicht sagt, oh bei dir steht ne drei und bei mir steht ne eins, oder ne fünf – ich habe nie Zeugnisse von anderen Schülern gelesen, ich weiß, dass das bei Notenzeugnissen anders ist.

 Es war toll. / Dann hatten wir in der fünften Berichtszeugnisse, in der sechsten wurde abgestimmt, da entscheiden  die Eltern. Seit der siebten werde ich erst benotet, dadurch habe ich den Anfangsprozess in anderer Erinnerung. /Alle in meiner Klasse sagen, das ist die Topzeit gewesen.

 

Sprecher:

Svenja Oehmichen hat in der Max Brauer Schule gerade Abitur gemacht und freut sich nun auf die nächste Station, die Universität. Dass die Vorfreude während der Schulzeit nicht auf der Strecke geblieben ist, ja dass ihre Lernlibido sogar noch gesteigert wurde, sollte eigentlich gar nicht weiter erwähnenswert sein. Ist das nicht das wichtigste Ziel von Bildung?  Selbstverständlich ist diese Überzeugung hier zu Lande nicht. Glauben wir  überhaupt daran, dass Lernen zumeist Freude macht? 

Svenja jedenfalls hat erlebt, dass ein gutes Klima auch eine gute Ernte einbringt. Das verdankt sie auch der Oberstufe. Die wurde in den vergangenen Jahren umgebaut. Ein Modellversuch:  „Profiloberstufe“. Dafür bekommt die Schule größeren Spielraum als er sonst gewährt wird. Seit 1993 wurde das Kurssystem in Klasse 12 und 13 nach übergreifenden Fragestellungen in „Profilen“ neu geordnet. Das naturwissenschaftliche Profil heißt Umwelt, die anderen sind Sprache & Kulturenvielfalt sowie Kommunikation. Dazu gibt es – gewissermaßen kontrapunktisch – Grundkurse. Zu den Leistungskursen Deutsch und Kunst im Profil Kommunikation gehören Grundkurse in Mathematik, Informatik und Philosophie. Dieses Set steht fest, da haben die Schüler keine Wahl. Dem aber steht der Vorteil gegenüber, das Projekte inhaltlichen Zusammenhalt bieten.

Svenja Oehmichen hatte das Profil SPUK, Sprachen und Kulturenvielfalt gewählt. Auch hier ist die Arbeit überwiegend in Projekten organisiert.

Der Besucher stellt seine Sympathie für diese Arbeitsform für einen Moment zurück und fragt, ob das nicht vielleicht doch ein bisschen „Schule light“ sei? Da geht Svenja hoch.

Cut 11: (Svenja, Abiturientin, Max Brauer Schule)

Wir haben Schüler, die erst in der zwölften zu uns gekommen sind, die schreien alle, wenn es heißt Projektarbeit,  die würden alle lieber ne Klausur schreiben, `ist doch viel leichter einmal sich ´n Tag hinsetzen, am nächsten Tag schreiben, dann hat man’s hinter sich, wenn du so ne Projektarbeit machst, dann musst du das Thema voll und ganz verstehen, um dann die 10 oder 20 Minuten zu erzählen zu können,, was der Kern ist / Es ist auf jeden Fall mehr Arbeit, mir macht sie auch mehr Spaß.

 

Sprecher:

Manchmal gleichen die Projekte schon fast Gesamtkunstwerken, sie sind längst nicht bloß die Additionen von Schulfächern. Zum Beispiel eine Revue über Jugend. Svenjas Freundin Vera Freitag hat sich dafür in ein Mädchen im Mittelalter versetzt…

 

Cut 12: (Vera Freitag & Svenja, Abiturientinnen, Max Brauer Schule)

Vera:

ein junges Mädchen im Kloster. Da haben wir gesungen und versucht die Kulisse so zu gestalten, dass sie historisch korrekt ist und dann auch die Religion einbezogen, wie wichtig die in dieser Zeit gewesen ist und das komplett so zu gestalten, dass es zusammenpasst, dass der Gesang passt, dass die Kulissen passen – weil das wurde ja alles  in Geschichte bearbeitet. Wir mussten die Quellen raus suchen, wie das wirklich ausgesehen hat. Wir mussten belegen können, warum wir jetzt grade dieses Kleidungsstück anhaben und nichts anderes, allein das Klosterfenster, warum das so gewesen ist und woher wir das haben, Kleinigkeiten, die im Endeffekt viel ausmachen.

Svenja:  

 Es ist ein ganz anderes Lernen, du kannst dir raussuchen, was dir wichtig erscheint, du kannst deine Schwerpunkte setzen, du kannst in Richtungen gehen, die du interessant findest, du kannst es auf eine Art den anderen Schülern vermitteln, wie du es interessant fandest. Dadurch gibt es eine viel größere Spannbreite, als wenn ein Lehrer erzählt, das Datum,  der Kreuzzug und der Krieg usw. Und ich behalt es auch besser auf jeden Fall.

 

Sprecher:

Dass Schüler so gar nichts auf ihre Schule kommen lassen wollen ist ungewöhnlich. Haben nicht auch Projektarbeit, Präsentation und die Betonung der Gruppe Nachteile? Wird die Allgemeinbildung nicht dem Spezialwissen geopfert?

 

Cut 13: (Vera & Svenja, Abiturientinnen, Max Brauer Schule)

Vera:

Das ist ja nicht so, dass wir nur Projektarbeit machen, uns nur das aussuchen, was wir gerne möchten. Das Allgemeine geht nicht verloren. Man kann sich das nicht so vorstellen: Der Lehrer kommt in den Unterricht und sagt, so, jetzt machen wir mal ein bisschen Projektarbeit. Es ist so, es fängt mit theoretischem Unterricht, teilweise mit Frontalunterricht an/.  Es wird vorweg Geschichtliches erzählt, was man wissen muss.. /  Jetzt machen wir Liebespaare in ihrer Geschichte und ob es ne typische Liebesbeziehung in dieser Zeit ist, oder ob sie aus den Fugen gerät. Dazu haben wir auch das klassische Griechenland gemacht, die Reden aus dem Symposion und alles. / Das ist doch Allgemeinbildung, damit fangen wir immer an im Unterricht, das muss auch als Vorwissen dienen. 

 

Svenja: 

Es kommt drauf an, dass ich weiß, wie ich an Themen ran gehe. Ob man Metall schleifen muss oder ob man irgendwelche Pläne koordiniert, dann kommt es darauf an, dass du dir in deinem Kopf das Produkt vorstellen kannst um daran zu arbeiten, dass du weißt, was es für Möglichkeiten gibt, welche Wege kann ich gehen und das ist das worauf hier Wert gelegt wird. Und dann hat es für mich die Folge, dass ich mir die Kleinigkeiten auch noch besser merken kann.

 

Sprecher:

Die an den Oberstufen vieler deutscher Gymnasien grassierende „Wissensbulimie“ –  diese deutsche Schulkrankheit, den sogenannten „Stoff“ aufzunehmen und so schnell wie möglich wieder los zu werden – findet man an der Max Brauer Schule nicht, auch nicht nach drei Tagen Suche. Diese Schule gelingt, rundum – und gibt sich mit dem Erreichten dennoch nicht zufrieden.

Von der Schulkonferenz wurde jetzt das Projekt „Traumschule“ beschlossen. Hier werden keine Ideen für ein „Wolkenkuckucksheim“ gesammelt, sondern Wünsche, die Realität werden sollen.

Im Foyer stehen Tische, auf denen Architekturstudenten ihre Entwürfe für die „Traumschule“ ausgestellt haben.

Die Modelle zeigen Lernbüros für die Schüler mit runden Tischen, es gibt Labors und Bühnen. Auch die Lehrer haben Arbeitsplätze, die, sagen wir es mal so, dem Zivilisationsniveau eines mitteleuropäischen Erwachsenen entsprechen: Mit Schreibtischen und Telefonen, vernetzten Computern und Bürostühlen mit richtigen Rückenlehnen; auch Sofas und Besprechungsecken gibt es.

Die Schulleiterin erläutert den erstaunten Schülern: In dieser Traumschule sind die Lehrer 35 Stunden die Woche anwesend, und die Schüler werden dann bis in den Nachmittag hier zu Hause sein.

Schön und gut, denkt der Besucher  – aber ist eine „Traumschule“ auch das richtige fürs spätere Leben? Wir fragen noch einmal einen Repräsentanten des Realitätsprinzips. Tom Sommerlatte ist der Europa Chef der international tätigen Unternehmensberatung Arthur D. Little. Worauf kommt es aus seiner Sicht an?

 


Cut 13  (Tom  Sommerlatte )

Aus meiner beruflichen Erfahrung in der Unternehmensberatung ist es in erster Linie die Projektorganisation: also keine Hierarchie und keine Abschottung nach bestimmten Bereichen, sondern die Projektorganisation, wo alle gemeinsam arbeiten, wo man auch einspringen kann, wenn der eine gerade zu viel hat oder nicht genau weiß, wie er weiter kommt, dann springen die anderen ein, und das heißt auch, dass nicht mehr der einzelne das Lob bekommen kann und die Belohnung, darauf ist er auch gar nicht mehr aus, dann würde er nämlich den Teamgeist zerstören.

Das Team muss das Erfolgserlebnis als Gemeinschaft haben, `das haben wir gemeinsam geschaffen‘. Bei Jugendlichen können das Gruppen sein, Banden oder wie immer man das nennen will, deswegen spielen Kinder so gerne Indianer. Bei Schülern und Studenten können das Teams sein und deswegen müsste man davon abgehen sie einzeln zu benoten sondern immer gruppenweise und er sitzt dann natürlich immer in unterschiedlichen Gruppen und kriegt dann auch seine eigenes Profil, und im Berufsleben sind es die Projektgruppen.


Literaturliste zur Reihe „Schule kann gelingen“:

 

 

Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.

Kartoniert – 124 Seiten – Beck
Erscheinungsdatum: 2003
ISBN: 3-406-50469-8

 

Hentig, Hartmut von: Bildung

Taschenbuch – 206 Seiten – Beltz
Erscheinungsdatum: 1. April 2001
Auflage: 3. Aufl.
ISBN: 3-407-22035-9

 

Kluge, Jürgen: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept.

Gebundene Ausgabe – 241 Seiten – Campus Sachbuch
Erscheinungsdatum: März 2003
ISBN: 3-593-37189-8

 

Oelkers, Jürgen: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA.

Kartoniert – 228 Seiten – Beltz
Erscheinungsdatum: März 2003
ISBN: 3-407-22141-X

 

Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.

Gebundene Ausgabe – 511 Seiten – Spektrum Akademischer Verlag
Erscheinungsdatum: Oktober 2002
ISBN: 3-8274-1396-6