PS 9 Sein

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Einfach nur sein?
nannt. »Erziehung von Kindern nicht durch direkte Erziehung, sondern durch allmähliches Teilnehmen lassen an Beschäftigungen der Erwachsenen.« Goethe verlangte für die Erziehung eine »vollständige Umgebung«.² Aus dem Überschuss von Gelegenheiten entwickeln sich Biographien ­ und die ständige Erneuerung der Welt. Nennen wir es Sein oder wie auch immer. Das ist mein Gärgedanke. So bilden sich Personen. In diesem Zwischenraum entspringt Neues. Theorien sprechen heute von Emergenz oder, wie Hartmut Rosa, von Resonanz. Wie schafft man Resonanzverhältnisse? Ist es nicht so, dass die Strategien von Planerfüllung und Stoffvermittlung darauf hinaus laufen, Resonanz auf ein bloßes, würdeloses Echo zu reduzieren? Basislager Die Schule als Resonanzraum wäre einer von Werkstätten, Laboren, Ateliers und Vortragsräumen. Sie wird ein Basislager für Exkursionen. Es gibt auch Räume der Stille und zum Üben. Die Rehabilitation des Übens steht an. Es ist so wichtig wie das Wissen. Üben heißt dann nicht mehr nur Wiederholen, das auch. Üben heißt zugleich Variieren und Ausüben und auch Spiel. Der Resonanzraum Schule wäre einer des Handwerks, des Wissens und der Künste. Er wäre zuerst als ein einmaliger und sich verwandelnder Ort zu beschreiben. Einer der Schonheit, der Poesie und des Staunens. Einer, an dem die Kinder und Jugendlichen auf Erwachsene treffen, die sie mit ihrem lebendigem Wissen und tätigem Konnen anregen und anstoßen. Einer mit der Chance, irgendwann an etwas hängenzubleiben und zu sagen, ja, das ist es, das will ich, das ist mein Ding. Eine Passion, die dem Passionierten selbst immer auch ein Geheimnis bleibt. Kurz: Wir brauchen eine Schule der Welt und nicht der Abziehbilder von ihr. Mein Selbstgespräch wird auch vom Geschrei in der Realität getrieben. Von Kindern, die aus dem Sog der Konsumsphäre nicht mehr herauskommen und in deren All² Den Hinweis und den auf Novalis verdanke ich dem Waldorfpädagogen Peter Guttenhofer. tag das Spiel und die sich aus ihm entwickelnden Tätigkeiten an Terrain verlieren. Aber auch vom dumpfen Geräusch, das aus Schulen kommt, die jede Praxis verachten und sich schon deshalb auf den Zuschnitt des Stoffs stürzen, der von Schülern vielleicht auswendig, aber kaum inwendig gelernt wird. Es werden Wissenssegmente in Umlauf gebracht, die an kognitives Falschgeld erinnern und die auch genau so behandelt werden, nämlich verachtet. Personen Auch die Erfindung von »Kompetenzen« und die »Individualisierung des Unterrichts«, die einen Ausweg versprachen, sind in diesen Sog geraten. Sie haben die »didaktische Konstruktion des Individuums«,³ die Michael Schratz kritisiert, fortgesetzt und die Personen damit weiter geschwächt. Statt ein Puzzle aus Schulstoff zusammenzulegen, wären Gewebe aus den vielen Stoffen und dem Material der Welt zu weben. Diese Gewebe sind natürlich nicht jedes Mal neu. Behüte! Sie tragen Traditionen weiter! Aber es gibt immer wieder neue Muster. Und was unterscheidet den wertvollen Perserteppich von der maschinellen Imitation? Sein Eigensinn und auch die Webfehler. Wenn Individuen ihr einmaliges Muster flechten, spricht Michael Schratz von »Personalisierung«. Darauf käme es an. Die Schule der Vermittlung hingegen ist eine Mühle geworden, in der inzwischen der Stoff so fein ausgemahlen wird, dass er nicht mehr schmeckt.

Es gibt Themen, die müssen gären. Wenn sie durch die sieben Mägen des Gehirns wandern, kommen von dort auch die Signale »unverdaulich« oder »lass es«. Aber ich kann es nicht lassen. In der nächsten Hirnkammer sieht es dann schon wieder anders aus. Es denkt, wie es regnet, sagte Lichtenberg. Der Gedanke, der mir nicht aus dem Kopf will, heißt in meinen Selbstgesprächen »Schule des Seins«. Die Gärung begann im Frühjahr in Bremen, als ich die Wirkung der ungewohnlichen Wohngemeinschaft einer Schule mit dem Weltklasseorchester »Deutsche Kammerphilharmonie« erlebte.¹ Das Aufregende daran ist, dass die Musiker nicht gekommen sind, den Schülern Musik beizubringen. Ihre enorme Wirkung ist für den üblichen Blick geradezu paradox, ein Nebeneffekt. Aber das Indirekte wirkt stärker als der auf direkte Erfüllung gerichtete Plan. Es reicht einfach zu sein. Eine Person. Und dass ihr das, was sie macht, wichtig ist. Ich zitierte bereits im Juni Goethe: »Man merkt die Absicht und ist verstimmt.« Arbeitet der so absichtsvolle Lehrkorper nicht an der Verstimmung des Lernkorpers? Provoziert er nicht dessen Immunabwehr und bekämpft und schwächt sie sogar? Rasen die vor Absicht starrenden Systeme nicht in die falsche Richtung? Labore Statt einer Wohngemeinschaft mit einem Orchester konnte es vielleicht auch die Arbeitsgemeinschaft der Schule mit einer Tischlerei sein oder mit einer Medienwerkstatt oder mit einem Labor. Gärten in der Stadt und Außenstellen bei Bauern. Wie wäre es mit Künstlern, Wissenschaftlern oder Handwerkern in Residence? Oder Werkstätten mit den rüstigen Pensionären? Kinder und Jugendliche sollten die Chance haben, Erwachsene kennenzulernen, für die das gilt, was der Soziologe Richard Sennet über das gute Handwerk schrieb: Etwas um seiner selbst willen tun und es deshalb gut machen wollen. Novalis hatte in einem Fragment über Pädagogik diese List des Indirekten schon be¹ PS im Juni

http://www.redaktion-paedagogik.de/2014/06/es-ist-etwas-dazwischen-gekommen/