PS 9 Pisa paradox


 

Wenn Bayern besser als Schweden abschneidet,

kann das gegliederte System

doch nicht ganz falsch sein. Solche und

ähnliche Schlüsse suggeriert manch einem

der süddeutsche Pisaerfolg. Zumal im

Wahlkampf gehen Analyse und Ideologie

munter durcheinander. Man muss die beiden

Ebenen entwirren. Bildungspolitische

Ideologie und Realität decken sich nicht.

Homogenisiert

Schon in der ersten deutschen Vertiefungsstudie

zu Pisa schrieb Jürgen Baumert

so vorsichtig wie eindeutig, »dass

eine leistungsorientierte Homogenisierung

von Schule um so bessere Fördereffekte

hat, je weniger sie gelingt.« Ein Satz

zum drei Mal lesen. Je weniger das Homogenisierungsgebot

erfüllt wird, also je

später die Schüler getrennt werden, umso

höher ihre Leistungen. Man könnte auch

sagen, je weniger Schüler frühzeitig zum

Gymnasium geschickt werden, desto besser.

Tatsächlich haben sich die neuerlichen

Aufholgewinner Sachsen und Thüringen

vom dreigliedrigen zugunsten eines zweigliedrigen

Systems verabschiedet. Entscheidend

ist, dass die Hauptschule in

Süddeutschland nicht oder noch nicht

das pädagogische Lazarett des vielfach

zerklüfteten Systems ist. Dort ist es in

ländlichen Gebieten kein Stigma, Hauptschüler

zu sein. Anders in Nordrhein-

Westfalen, Bremen oder Berlin. Richtige

Gesamtschulen, in denen alle bis Klasse

neun zusammenbleiben, gibt es in

Deutschland nur in ganz wenigen Ausnahmemodellen.

Das gegliederte System

ist überall. Und es ist wirklich verwirrend,

dass die sozialdemokratischen Länder,

die dieses gegliederte System ideologisch

nicht favorisieren, tatsächlich die

am stärksten zergliederte Bildungslandschaft

haben. Das ist der Effekt einer Politik,

die möglichst vielen über das Gymnasium

zum »Aufstieg durch Bildung«

verhelfen wollte. Möglichst viele sollen

zum Gymnasium. Das System wurde

flüssiger. Es wurde aus seiner ständischen

Ruhe geholt. Aber es wurde in keine neue

Stabilität gebracht. Es wurde neurotisiert.

Hat sich das Abitur bei den meisten

als angestrebtes Ziel durchgesetzt,

dann entwertet, ja beschämt es alle, die

nicht schaffen. Besonders schlecht dran

ist, wer vom Gymnasium wieder abgestuft

wird. Wenn Gesamtschulen das

System mit gestuften Leistungsniveaus in

sich wiederholen, verstärken sie diese Effekte.

Dann produzieren sie Minderwertigkeitsgefühle,

Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit.

In Bayern gab es bis vor drei Jahren noch

eine sechsjährige Grundschule für alle,

die nicht nach der vierten Klasse zum

Gymnasium gingen. Erst mit der siebten

Klasse zweigte sich die Realschule

ab. Und da der Anteil von Gymnasiasten

in Bayern am geringsten ist, kann

man mit Fug und Recht behaupten: Bayern

hat das integrierteste Schulsystem

in Deutschland, auch wenn die CSU so

ein Wort nie benutzen würde.

Schwaches Gymnasium

Das Gymnasium ist entgegen einem von

fast allen geteilten Volksglauben nicht die

beste Schule. Allerdings schöpft es die besten

Schüler ab. Diese Schwäche unserer

höchsten Schule brachte LAU zu Tage.

Nach LAU (Lernausgangslagen-Studie)

wurden in Hamburg alle Schüler eines bestimmten

Jahrgangs im Abstand von ein

paar Jahren getestet. In der Untersuchung

der Neuntklässler konnte bei den

Jungen im Gymnasium seit Klasse sieben

kein signifikanter Kompetenzzuwachs gemessen

werden, von einigen Verbesserungen

im Englischen abgesehen, aber die

sind bei normalem Musikhören ja gar

nicht zu vermeiden. Im Gymnasium werden

viele Schüler nicht erreicht, weil Lehrer

dort dazu neigen, bloß ihre Fächer und

nicht ihre Schüler zu unterrichten. Ist es

dann verwunderlich, wenn der Leistungsstand

der Fünfzehnjährigen in

Bundesländern mit geringer Gymnasialquote

steigt? Dort gehen ja weniger Schüler

auf die pädagogisch schwächste Schule

und die anderen werden nicht so sehr

mit dem Versagermakel infiziert, der sich

mit dem Siegeszug des Gymnasiums ausbreitet.

Wer Bayern verstehen will, muss

die Fixierung aufs Gymnasium lassen

und den Gedanken aufgeben, dass die

Quote traditioneller Gymnasiasten das

entscheidende Gütekriterium des Schulsystems

sei.

Skandinavien im Süden

42 Prozent der Studienanfänger in Bayern

haben die Hochschulreife auf Umwegen

über Fachoberschulen und Berufsoberschulen

erreicht. In Baden-Württemberg

macht inzwischen ein Drittel der

Abiturienten die Reifeprüfung an Beruflichen

Gymnasien. Für diese ehemaligen

Haupt- und Realschüler beginnt das

Gymnasium mit der Klasse 10. Das ist,

wenn man so will, skandinavisch. Diese

implizite Strategie, stärker auf Anschlüsse

zu achten und nicht schon so früh

auf Abschlüsse fixiert zu sein, könnte die

explizite Formel für ein modernes Schulsystem

werden, zu der die deutschen Südstaaten

viele Erfahrungen mitbringen.

Was fehlt ist eine Sprache, mit der man

sich verständigt, und in der sich diese Erkenntnis

mitteilen lässt: Das gegliederte

Schulsystem ist am erfolgreichsten, wo

seine ihm inne wohnende Erosion noch am

schwächsten ausgeprägt ist. Aber einen

Erosionsschutz gibt es nicht. Deshalb ist

es auch kein »zukunftsfähiges« Konzept.

P. S.

Bayern hat wie übrigens auch Finnland,

Irland und asiatische Länder einen

großen Sprung von einer agrarischen

Struktur zu der einer nachindustriellen

Wissensgesellschaft gemacht.

Laptop und Lederhosen. In einer Balance

aus Tradition und Moderne wird dort

das reichlich vorhandene kulturelle Kapital

von Arbeitshaltung und Disziplin,

das aus alten Bindungen stammt, aufgezehrt.

Die finnische Wette besteht

darin zu zeigen, wie es Schulen gelingt,

kulturelles Kapital zu erneuern und zu

vermehren. Die neue Leitwährung dort

heißt Vertrauen und Selbstständigkeit.