PS 7 Raum und Zeit

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Raum & Zeit

»Der Raum ist der dritte Pädagoge«, sagte der 1994 verstorbene Begründer der »Reggiopädagogik«, Loris Malaguzzi. In den kommunalen Vorschulen der norditalienischen Reggio Emilia Romagna begann man schon in den 80er Jahren, Kinder als Forscher und Dichter anzusehen. Respekt und Neugier wurden als kognitive und moralische Tugenden entdeckt. Der schöne Satz vom Raum als dem dritten Pädagogen kommt nun erneut nach Deutschland. Diesmal erreicht er die Schulen als vermeintlich schwedische Maxime. Atmosphäre und Architektur, also eine gut gestaltete und intelligent vorbereitete Umgebung, sind für das Gelingen der Bildung entscheidend. Diese Einsicht trat auch in Skandinavien ihren Siegeszug in den Vorschulen an. Die Brisanz des Satzes vom dritten Pädagogen wird deutlich, wenn man ihn vollständig zitiert: »Die anderen Kinder sind der erste Pädagoge. Lehrer sind der zweite und der Raum ist der dritte Pädagoge.« Die Zeit noch als vierten Pädagogen hinzuzufügen, wäre gewiss in Malaguzzis Sinn. Betrachtet man die hierzulande üblichen Klassenzimmer unter dem Aspekt dieser vier Pädagogen, dann wird schlagartig klar, was schief läuft. Die deutsche Schule setzt traditionell nur auf den einen Pädagogen, den Lehrer, überfordert und schwächt ihn.

Karg und linear

Für eine große Zahl von Grundschulen gilt das nicht mehr. Aber die meisten Schulräume sind schmucklos. Das Interieur ist häufig zum Verzweifeln karg. Die Zeit wird so linear konstruiert, dass sie fast zum Punkt schrumpft. Kein Wunder, dass die meisten Lehrer behaupten, gar keine Zeit zu haben, und dass sich ihre Schüler in der verklumpten Zeit langweilen. Der übliche »fragend entwickelnde Unterricht« kommt durchaus mit einem leeren Raum aus, ganz so als seien die Schüler gar nicht anwesend – was ja irgendwie stimmt. Wo man nicht Individuum sein darf, wird das Unumgängliche zum notwendigen Übel. Weder Kooperation noch Gemeinschaft bilden sich. Von Eleganz und Schönheit ganz zu schweigen. Erst wenn die Verschiedenheit nicht als Abweichung und Nachteil angesehen wird, hört der Raum auf, Container zu sein und kann ein reizvoller Ort werden. Und weil die Verschiedenen jeweils ihre Eigenzeit haben, kommen Rhythmen auf. Sind Raum und Zeit als Koordinaten für Differenzen erst mal akzeptiert, dann entstehen in Schulen Lernlandschaften. Dürfen die Pfade des Verstehens verschlungen sein, werden Raum und Zeit immer komplexer, ja intelligenter. Gibt es aber in der Klasse nur den einen Pädagogen, der unaufhörlich sendet, und sollen die Schülerempfänger nur auf seine Frequenz eingestellt sein, wird bald der ganze Raum eine einzige Quelle von Störungen. Jetzt erschließt sich auch, was Raum ist: gedehnte Zeit, also Gegenwart. Wenn Gegenwart nichts gilt, wenn alles in die angebliche Zukunft treibt, wird der Raum zum schmalen Korridor, den man nicht schätzt, in dem man sich nicht aufhalten und schon gar nicht einrichten will. Folglich heißt die Parole, wenn Gegenwart verloren geht und wenn der Raum zu nichts mehr einlädt: »Ich hab keine Zeit«.

Will man allerdings das Wissen auf direktem Weg und möglichst schnell in die Köpfe der Schüler transportieren, braucht man den leeren Raum und die lineare Zeit. Das Ganze hat nur einen Nachteil: Die meisten Schüler werden nicht erreicht. Sie schalten nach und nach ab. Ist aber die Schule ein gestalteter Raum und eine rhythmisierte Zeit, also eine Welt zur »Personwerdung«, wie es Alfred Hinz von der Bodensee-Schule ausdrückt, dann lässt sich die Vermittlung von Wissen gar nicht vermeiden.« Was deutschen Pädagogen, die in den letzten Jahren Skandinavien entdecken, als erstes auffiel, war ja, dass Leistung dort gar nicht so sehr im Zentrum steht. Aber die Besonderheit jedes Einzelnen wird respektiert und das alltägliche Versprechen von Zugehörigkeit gibt man vorbehaltlos. Genau das bekommt der Leistung. Diese Einsicht kann man auf die deutsche Debatte um die Ganztagsschule übertragen. Die Umgründungen sind ein Anlass, Raum und Zeit der Schule neu zu vermessen. Ganztagsschulen bieten die Chance, den Unterricht als engen Kanal zum Durchschleusen von trägen Wissenspaketen zu weiten. Man sieht an der Bodensee-Schule, der Jena-Plan-Schule in Jena, der Montessori-Gesamtschule in Potsdam und an vielen anderen deutschen Schulen, die gelingen, wie reich die soziale und kognitive Ernte ausfällt, wenn Lehrer mit den anderen drei Pädagogen kooperieren, ja zuweilen spielen.

Eine Frage der Kultur

Aber wehe einer Schule, die als gestresste, gegenwartslose und verwahrloste Vormittagsschule ganztägig wird. Die hält keiner aus. Auf diese List kann man natürlich setzen. Je mehr Zeit eine Schule hat, umso dringender stellt sich die Frage nach ihrer Kultur. Gewiss. Andererseits ertragen viele das, was eigentlich nicht auszuhalten ist, doch viel zu lange.

Wenn sich jetzt Schulen, nur um an Mittel für den Ausbau einer Kantine zu kommen, zur Ganztagsschule erklären und ihre Schüler nachmittags zwei Stunden in der Kantine von einer schnell angelernten Kraft (»Erste-Hilfe-Kurs«) die Hausaufgaben »betreuen« lassen, und das heißt häufig, die Zeit totzuschlagen, dann könnte es uns in Deutschland gelingen, auch noch diese gute Idee zu diskreditieren. Da seien die guten Beispiele vor. Außerdem setzen wir auf den 7. Dezember 2004. Da werden die Ergebnisse der zweiten internationalen Pisa-Staffel veröffentlicht.

P. S.

Josef Brodsky schrieb: »Ob ihrs glaubt oder nicht, die Evolution hat ein Ziel: Schönheit.«

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de