PS 5 Einstein, Schiller & McKinsey

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Einstein, Schiller und McKinsey

Deutschland vermisst seine Kinder – und entdeckt sie. Vielleicht korrigieren die Deutschen dabei auch ihr Bild von Kindern? Das wäre an der Zeit. Im Blick auf Kinder drückt sich ja das Verhältnis aus, das wir zu uns selbst haben. Als ich zuletzt Hartmut von Hentig, der im September seinen 80. Geburtstag feiert, in Berlin besuchte, antwortete er auf die Frage nach seinem Befinden, mit einem Seufzer, »wenn ich morgens in den Spiegel blicke …« Er führte den Satz mit einer fast verzweifelten Pantomime zu Ende. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Aber innen«, fügte er hinzu, »innen bin ich immer noch dasselbe Kind.«

Homo faber

Albert Einstein nannte sich das »ewige Kind.« Friedrich Schillers Satz »Der Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt« hört man in seinem Jubiläumsjahr häufig. Mit dem Zitat traut sich mancher auszusprechen, was ihm schon länger dämmert. Die große Epoche des Homo faber, des durch Arbeit definierten Menschen, läuft aus. Homo ludens kommt wieder mehr zu seinem Recht. Und zwar nicht erst am Feierabend. Die Arbeit selbst braucht Spielräume, wenn sie in einer Wissensgesellschaft produktiv sein soll. Dem großen Selbstgespräch der Gesellschaft kommen die Jubiläen von Einstein und Schiller gerade recht. Sie sind Paten eines veränderten Blicks. Schillers Leben wird von Rüdiger Safranski als so produktiv geschildert, weil er sich nicht dem Zwang zu einer berechenbaren Identität gebeugt habe. »Alle acht Tage war er ein anderer und ein vollendeterer«, schrieb Goethe über ihn.

Oder Mozart. Günter G. Bauer rechnet vor, dass ein Notenkopist circa 99 Jahre bräuchte, um dessen Werk zu kopieren. Mozart aber hat nur 30 Jahre komponiert. Wie geht das? Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann, ohne die Begeisterung und die Versenkung ins Spiel mit einzubeziehen. Der kürzlich verstorbene Mediziner und Hirnforscher Detlef Linke bezeichnet das Spiel als den Punkt, an dem der »Halbzombie Mensch« zu Freiheit und Kreativität kommt. Jenseits aller Fragen nach dem guten und richtigen Leben – der Bedarf nach Menschen, die wie Automaten funktionieren, ist rückläufig.

Zum Beispiel McKinsey. Schon im Herbst 2002 hatten die Unternehmensberater einen viel beachteten Bildungskongress abgehalten. Neben Wissenschaftlern sprach der Regisseur Robert Wilson. Er erzählte, wie ihn die Erfahrung des Raums durch Tänzer und Choreographen in New York geprägt hatte. Seine wichtigsten Entdeckungen brachten ihm die Freundschaft mit einem tauben afroamerikanischen Jungen und mit einem autistischen Kind. Sein Fazit: »What’s important today, is to have some understanding of others in other fields. And, perhaps, we as individuals would act in a different way.« Der Museumsmann Jean-Christophe Ammann führte diese Gedanken weiter. »Wir entwickeln eine zweidimensionale Bildschirmwahrnehmung«, kritisierte er. Die Verluste seien dramatisch, nicht nur für Künstler, die nicht mehr figürlich malen könnten, sondern für die Wahrnehmung aller, für unsere Bildung.

Staunen

Ausgerechnet McKinsey, denkt nun manch ein Leser. Wundern Sie sich weiter! Im Frühjahr 2005 bereiten vier Werkstattgespräche den zweiten Kongress »McKinsey bildet« vor. Diesmal stehen nur die Kinder auf dem Programm. Thema sind Krippen, Vorschulen und Kindergärten. Es geht um Spracherwerb, Science und Musik, darum, wie Kinder lernen und wie Erzieher(innen) ausgebildet werden. In einem der Werkstattgespräche plädierte die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard für den Matsch, das Kochen und das Zusammenspiel mit anderen Kindern. Das zieht sie einem Kindergartencurriculum vor. Gestandene Naturwissenschaftler schickte McKinsey in Kitas, damit sie erklären, warum zum Beispiel der Himmel blau ist. Faszinierend, wie sich Staunen und Intelligenz, ja Poesie und Erkenntnis verbinden. Selten wird das Lernen des Homo ludens so intensiv, wie wenn Kinder etwa mit Naturwissenschaftlern oder Künstlern Entdeckungen machen und sich gegenseitig Fragen stellen. Nun ist die Koevolution von staunenden Kindern und erfahrungsklugen Erwachsenen keine brandneue Idee. Aber kann es sein, dass man sie beim organisierten Lehren fast vergessen hat?

Homo ludens

Einsteins ewiges Kind war ein Gegenspieler im Erwachsenen, der es ihm ermöglicht hat, Anfänger auf immer höherem Niveau zu werden. Staunen und Phantasie bringen sicheres Wissen wieder durcheinander und helfen, es neu zu ordnen. Aber das geht nicht ohne blinde Flecken und Leerstellen. Der Mangel hält unsere Konstruktionen beweglich. Viele Erwachsene verleugnen oder bekämpfen ihn. Er passt nicht zur Perfektibilität der Verwachsenen. Mit ihren lückenlosen Selbst- und Weltbildern verstopfen sie sich diesen Ur-Sprung, der das Individuum zum Individuum macht und das endlose Spiel der Differenzen eröffnet: Dialoge, Fragen, Fehler, Missverständnisse und schließlich das Spiel selbst und die Erfolge beim Lernen und im Forschen. Es wird Zeit, dass wir uns überlegen, wie in Kitas und Schulen nicht nur die Kinder von Erwachsenen lernen, sondern wie sich auch Erwachsene von ihnen kräftig irritieren lassen.

P. S.

»Die Welt entstand, als Atome von ihrer geraden Bahn abwichen.« (Epikur)

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de