PS 3 HUMANKAPITAL ?

 

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Humankapital?

Wer dieses Wort in den pädagogischen Diskurs bringt, macht sich damit selten Freunde. Nun wurde Humankapital von einer Sprachjury sogar zum Unwort des Jahres erklärt. Abgesehen davon, dass »Unwort« selbst unmöglich ist, wurde hier ein Ressentiment bedient. Bildung, das weiß man ja, verhält sich zu Wirtschaft wie Feuer zu Wasser. Oder? Nein, der Gemeinplatz gehört ins Inventar der Philister. Genauer besehen erweist sich Humankapital als Wasserzeichen eines Denkens und Handelns, das am Ende der Bildung bekommt.

Wenn in Deutschland die Sonntagsreden mit hehren Präambelsätzen über »Bildung« verklungen sind, geht man werktags zur Sache. Argumentiert wird dann mit dem »Qualifikationsbedarf.« Aufschlussreich ist, dass in der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition an allen sieben Tagen der Woche das verdächtige Wort gebraucht wird. Gewiss, Humankapital hört sich nach kruder Ökonomie an. Tatsächlich steht das Wort eher für das Vertrauen in junge Menschen, dass sie aus ihren auf keinen Bedarf zugeschneiderten Fähigkeiten schon was machen werden. Aufs Humankapital wird gesetzt, weil niemand die Zukunft kennt. Weil sie offen ist, muss sich jeder so gut vorbereiten wie möglich. Diese Denkweise führt zu einem hohen Anteil von Studierenden. Alles nur, um sie für die Wirtschaft verwertbar zu machen?

Qualifikationsbedarf?

Die deutsche Konstruktion »Qualifikationsbedarf« ist international einmalig. Sie ist die Kehrseite des abgehobenen Bildungsbegriffs. Vorausgesetzt wird, dass die Zukunft im Groben bekannt ist. Die nächste Generation wird einem vermeintlich objektiven Bedarf unterworfen. Schlimmer noch, viele Jugendliche glauben selbst an diese Fiktion. Am deutlichsten wird die Vorstellung, dass ein Bedarf zu bedienen sei, an der verbreiteten Angst, zu viele Hochqualifizierte endeten als akademisches Proletariat, sei es als Revoluzzer oder als Taxifahrer. Alle Statistiken beweisen das Gegenteil, doch der Mythos hält sich. Er wird vom Argwohn getrieben, viele wollten zu hoch hinaus. Auch darin liegt eine Verwandtschaft mit dem idealisierenden Bildungsbegriff und seiner Kehrseite, der Neigung zur Herabsetzung und Selektion.

Humankapital!

Mit dem Denkmuster »Humankapital« werden Bildungssystem und Beschäftigungssystem entkoppelt. So entsteht Freiraum für Bildung. Die aktuelle OECD-Statistik verzeichnet sinkende Arbeitslosenquoten in Ländern, deren Anteil von Studierenden seit 1995 um mehr als fünf Prozent gestiegen ist. Jedes zusätzliche Jahr an Bildung, das eine Bevölkerung im Durchschnitt genießt, steigert das Bruttoinlandsprodukt um drei bis sechs Prozent. Gestärkt wird der »subjektive Faktor«. Ganz konkret: Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren hergestellt wurden, gefragt, für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer würde heute diese Firma kennen? »Kommunikationsgesellschaft« wurde als Staatsziel in die finnische Verfassung geschrieben. Definiert wird sie damit, dass zumindest 70 Prozent der jungen Leute studieren. Jawohl, 70 Prozent. Ein zumindest vierjähriges Studium! Inzwischen beginnen es in Finnland 71 Prozent. Wohin führt das, wenn jeder studiert, fragen sich immer noch viele Deutsche. Ja, wohin führt das?

Eine Quittung für die deutschen Bildungsphilister ist unsere im internationalen Vergleich niedrige Quote von Studienanfängern: 35 Prozent. Im OECD Schnitt sind es 45 Prozent. Wir sind allerdings Weltmeister bei den Abbrechern. Nur 19 Prozent verlassen eine Hochschule mit Examen.

Schüler und Studenten, die sich fragen, wie stärke ich mein Potential, und sich nicht darauf beschränken, vorauseilend zu erfüllen, was angeblich gebraucht wird, werden auch in der Schule oder Hochschule seltener fragen, was von ihnen verlangt wird. Sie müssen herausfinden, was sie wollen. Etwas zu wollen und eigene Ideen zu haben, das wird zum Kern von Humankapital und von Bildung. Eine Bildung, die sich allerdings eher im Handeln als im Genuss von »Bildungsgütern« erweist.

Wer heute ein Architekturbüro, einen Verlag oder eine automatisierte Produktion betritt, findet dort gewöhnlich ein höheres Zivilisationsniveau als in Schulen. Als Erstes fällt der Unterschied an den Räumen auf. Dann am Umgang. Wie kommt das? Ihre Arbeit sehen die meisten Mitarbeiter in diesen Untenehmen eher als ihre eigene Sache an, als das gewöhnlich bei Schülern der Fall ist. Wäre das nicht ein Maß, den Grad an Entfremdung zu beurteilen?

Wie kommt es, dass in einer der besten Schulen, die ich kenne, bei einer Befragung der Schüler, was ihnen gefällt, Praktika in Betrieben an erster Stelle stehen? Wie kommt es, dass Kinder nach einem mehrtägigen Spiel »Leben im Mittelalter« davon schwärmen, dass Kinder damals arbeiten durften? Sie sehnen sich danach, nicht nur gefragt zu werden, sondern auch gefragt zu sein, mit anderen etwas auf die Beine zu stellen und dabei ihre Wirksamkeit zu erleben.

P. S.

»Ökonomie ist Kunst«, sagte Joseph Beuys, »und Kunst ist Ökonomie.« Der gemeinsame Nenner beider Gleichungen ist die Verwandlung von Knappheit in Form. Ist das nicht auch Bildung? Und erkennt man Dummheit und Ressentiment nicht an deren Formlosigkeit? Bis wir die Wirksamkeit des Humankapitals an seiner Schönheit erkennen, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Aber das wär´s natürlich.

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de