Pisa gegen Pisa / Interview Prenzel & Schleicher DIE ZEIT

DIE ZEIT


08/2005 

Pisa gegen Pisa

Deutschland streitet wieder über die Gesamtschule. Gegner und Befürworter berufen sich auf die Pisa-Studie. Wer hat Recht? Ein Disput unter Kennern


DIE ZEIT: Reden Sie eigentlich noch miteinander?

Manfred Prenzel: Natürlich.

Andreas Schleicher: Warum nicht?

ZEIT: In der Öffentlichkeit werden Sie als Papst und Gegenpapst der Pisa-Studie wahrgenommen. Für die einen gelten Sie, Herr Schleicher, als der selbstherrliche Experte aus dem Ausland, der den Deutschen die Gesamtschule verordnen will. Andere sehen in Ihnen, Herr Prenzel, den Auftragsforscher der Kultusministerkonferenz, der im Gleichklang mit seinen Geldgebern die Debatte um die Schulstruktur meidet. Und beide berufen Sie sich auf die Ergebnisse der Pisa-Studie.

Schleicher: Ich will niemandem die Gesamtschule verordnen, schon gar nicht das Modell, das hierzulande gescheitert ist. Aber Deutschland kommt um die Strukturdebatte nicht herum. Das ist nicht nur meine persönliche Schlussfolgerung, sondern die der OECD. Erfolgreiche Bildungsnationen gehen mit der Unterschiedlichkeit der Schüler konstruktiver um. Das gegliederte deutsche Schulsystem lädt dazu ein, Schüler abzuschieben, anstatt sie zu fördern.

Prenzel: Als empirischer Bildungsforscher bin ich zurückhaltender mit Rezepten. Pisa beschreibt sehr gut die Schwächen unserer Schulen. Zum Beispiel mit dem dramatischen Befund, dass ein knappes Viertel der 15-Jährigen nur auf niedrigstem Niveau lesen und rechnen kann. Aber die Studie gelangt an Grenzen, wenn Unterschiede zwischen Staaten erklärt werden sollen. Aus der Schul- und Unterrichtsforschung wissen wir, dass zahlreiche Faktoren eine Rolle spielen. Das Schulsystem ist ein Faktor neben vielen. Und das Bild ist hier keineswegs einheitlich: Die Niederlande und das belgische Flandern sind mit gegliederten Schulsystemen erfolgreich. Aus den Pisa-Daten allein können wir keine Maßnahmen ableiten, die Deutschland im internationalen Vergleich noch vorn bringen.

Schleicher: Sicher kann man aus den Pisa-Daten allein keine Rezepte ableiten, ebenso wenig übrigens die von den Kultusministern ergriffenen Maßnahmen. Das Entscheidende ist doch aber, dass der internationale Vergleich bildungspolitische Alternativen aufzeigt, an denen sich Bildungspolitik und Bildungspraxis orientieren können. Dazu gehört, und die Niederlande sowie Flandern bieten dafür gute Beispiele, eine stärkere individuelle Förderung im Rahmen einer längeren gemeinsamen Schulzeit und eines wesentlich durchlässigeren Bildungsangebots.

Prenzel: In Deutschland zeigen Bundesländer mit sechsjähriger Grundschule, dass mit einer Strukturänderung allein noch nichts gewonnen ist. Zum Beispiel haben auch die USA und Italien, die bei Pisa nicht gut abschneiden, Gesamtschulen. Eine Debatte über die Gesamtschule drängt vielmehr die Themen in den Hintergrund, über die nach Pisa gesprochen werden muss: den Unterricht, die Lehrerbildung, die Leseförderung. Ich möchte die Diskussion öffnen und nicht verengen.

ZEIT: Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass das deutsche Bildungssystem besonders ungerecht ist. Fast nirgendwo sonst hängt die Schulleistung so stark von der sozialen Herkunft ab wie hier.

Schleicher: Das ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem. Wenn begabte Einwandererkinder auf einer deutschen Hauptschule ihr Potenzial nicht ausschöpfen, dann vergeudet unsere Gesellschaft wertvolle Ressourcen für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt.

ZEIT: Herr Prenzel, können Sie sich vorstellen, das Gerechtigkeitsproblem im Rahmen des gegliederten Systems zu lösen?

Prenzel: Die Schule kann, unabhängig vom Schulsystem, an der Aufgabe, soziale Gerechtigkeit herzustellen, nur scheitern. Freilich muss die Schule gerecht sein, und sie darf die sozialen Unterschiede nicht vergrößern. Wir sollten erst einmal versuchen, intelligenter mit dem System umzugehen, das wir vorfinden.

ZEIT: Wo fehlt es denn an Intelligenz?

Prenzel: Zum Beispiel müssen wir die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen erhöhen. De facto, und nicht nur auf dem Papier. Guten Haupt- und Realschülern muss der Weg zum Abitur eröffnet werden. Oder nehmen Sie die Entscheidung für eine Schulform am Ende der vierten Klasse. Sie darf nicht schon das Lernklima in der ersten und zweiten Klasse bestimmen. Kurzfristig können wir am meisten über einen besseren Unterricht bewegen, einen Unterricht, der sich stärker am individuellen Lerntempo der Schüler orientiert. So zu unterrichten, müssen wir erst einmal im derzeitigen System lernen. Auch eine bessere Lehrerbildung ist keine Systemfrage. Da müssen die Universitäten ihrer Bringschuld nachkommen.

ZEIT: Wie lange wollen Sie dem Versuch geben, das bestehende System zu optimieren?

Prenzel: In sechs Jahren sind wir schlauer. Bis dahin sollten wir spürbar vorangekommen sein.

Schleicher: Sicher ist die Qualität des Unterrichts der Schlüssel zu besseren Lernergebnissen. Aber es wäre naiv, zu glauben, dass sich die Qualität des Unterrichts allein oder auch nur maßgeblich mit neuen didaktischen Konzepten oder Lehrerbildungsmaßnahmen beeinflussen ließe. Den Unterricht nachhaltig verbessern werden nur wirksame Motivations- und Unterstützungssysteme in den Schulen, die Lehrern und Schülern helfen, voneinander und miteinander zu lernen, und die Perspektiven für professionelle Entwicklung bieten und Kreativität, Innovation und Verantwortung einfordern. Das lässt sich in gegliederten Systemen wie dem deutschen nur schwer realisieren. Wie motiviere ich denn einen Hauptschullehrer, seine besten Schüler so fit zu machen, dass sie auf die Realschule kommen? Der ist dann seine Leistungsträger los. Und der Gymnasiallehrer kann weiter nach der typisch deutschen Devise verfahren: »Mein Unterricht ist gut, ich habe nur die falschen Schüler.« Ich glaube nicht, dass es reicht, auf eine Binnenoptimierung des bestehenden Systems zu setzen und abzuwarten. Das erinnert mich an Leute, die sagen, okay, die bisherigen Versuche des Kommunismus sind zwar gescheitert, aber vielleicht finden wir noch ein Erfolgsmodell.

Prenzel: Für ein anderes Anreizsystem sprechen viele Gründe und auch einige Befunde. Aber dafür müssen wir nicht die Schulstruktur ändern. Mir fehlen einfach die Belege dafür, dass nur ein anderes Schulsystem Besserung und mehr Gerechtigkeit bringt. Deswegen suche ich nach Lösungen, die näher am Lernprozess dran sind. Wie etwa guter Unterricht aussieht und wie er sich auf die Leistungen auswirkt, darüber wissen wir eine ganze Menge.

Schleicher: Ja, Deutschland ist Weltmeister im Entwickeln didaktischer Konzepte. Leider werden sie hierzulande nicht eingesetzt.

Prenzel: Das ändert sich. Im Mathematik- und Naturwissenschaftsunterricht hat sich einiges getan.

Schleicher: Was ich in der deutschen Bildungspolitik vermisse, ist ein strategisches Ziel, etwa die bestmögliche Förderung jedes einzelnen Schülers – und dann das Einordnen der Maßnahmen darunter. So machen das doch auch erfolgreiche Unternehmen, die etwas ändern wollen. Die nutzen die Struktur als Instrument der Veränderung.

Prenzel: In der Frage der Strategie bin ich Ihrer Meinung. Wobei ich gern konkrete Ziele für die einzelnen Ebenen, vom Unterricht bis zur Lehrerbildung, hätte. Der Vergleich mit einem Konzern hinkt aber. Da wird dann auch ein Werk gekauft, geschlossen oder weiterverkauft. So können wir mit den Schulen nicht umgehen. Da hängt das Schicksal von Kindern und Jugendlichen dran.

ZEIT: Die leiden aber auch unter dem Status quo.

Prenzel: Sicher, deswegen brauchen wir Veränderungen. Sie müssen aber gut begründet sein.

ZEIT: Sie beide sehen das Abschieben von Verantwortung als zentrales Problem der deutschen Schule. Wäre da nicht eine Strukturveränderung sinnvoll, die quer zur Gesamtschuldebatte liegt: den Schulen mehr Selbstständigkeit zu geben?

Schleicher: Auf jeden Fall. Viele der erfolgreichen Staaten setzen heute weniger auf von oben verordnete Maßnahmen, sondern bieten den Schulen Maßstäbe für den Erfolg von Bildungsleistungen an, gekoppelt mit größeren Freiräumen und wirksamen Unterstützungsinstrumenten. Sie erwarten von den Schulen dann aber auch wesentlich mehr Verantwortung für den Bildungserfolg.

Prenzel: Das sehe ich ganz genauso.

ZEIT: Herr Schleicher, bei den deutschen Kultusministern sind Sie denkbar unbeliebt. Wegen ihres Vorpreschens in der Gesamtschulfrage und weil Sie regelmäßig mäkeln, dass Deutschland in der Bildungspolitik zu langsam agiere. Verhindern Sie durch ihre undiplomatische Art nicht jene Bewegung in der Politik, die Sie einfordern?

Schleicher: Die OECD bewegt sehr viel. Viele unserer Vorschläge werden zunächst stark kritisiert – und ein paar Jahre später aufgegriffen. 1996 etwa haben wir thematisiert, dass es sozialer sei, Studiengebühren zu verlangen statt Kindergartengebühren. 1999 haben wir die Ablösung detaillierter Lehrpläne zugunsten kompetenzbezogener Bildungsziele diskutiert. In beiden Fällen gab es einen parteiübergreifenden Aufschrei. Heute sind solche Ideen salonfähig. Die OECD wird von den Mitgliedsländern als Denkfabrik bezahlt. Wir machen Analysen und geben Ratschläge. Ob die befolgt werden, ist eine andere Geschichte.

ZEIT: Herr Prenzel, bei der Präsentation der Pisa-Studie haben Sie viel von den Fortschritten seit der letzten Studie gesprochen und wenig Kritik geübt. Die Kultusminister werden sich gefreut haben.

Prenzel: Die Minister waren über die Ergebnisse keineswegs erfreut, und ich habe sehr deutlich alle kritischen Punkte benannt. Nur musste auch auf die Fortschritte seit der letzten Pisa-Studie deutlich hingewiesen werden, weil tagelang die falsche Vorabmeldung durch die Presse geisterte, in Deutschland habe sich gar nichts bewegt.

ZEIT: Aber Sie halten sich mit Ratschlägen an die Kultusminister stärker zurück als Herr Schleicher.

Prenzel: Man sollte als Forscher seine Grenzen kennen und nicht mehr einfordern, als man wissenschaftlich belegen kann. Schlussfolgerungen und Maßnahmen müssen politisch diskutiert und entschieden werden. Pisa sagt uns nicht, was jetzt konkret zu tun ist.

Moderation: Reinhard Kahl, Thomas Kerstan und Martin Spiewak