Pisa für alle

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Nun ist es schon zwei Jahre her, dass uns am 4. Dezember 2001 die Ergebnisse

der PISA-Studie deutlich machten: So kann es im Bildungswesen nicht

weitergehen. Und tatsächlich: Deutschland hat sich seitdem verändert.

Zunächst bloß in der Stimmung. Aber der saure Zustand ist eine unvermeidbare

Phase im Gärungsprozess. PISA ist inzwischen das Wort für eine alte,

einst erfolgreiche Welt, in der wir verharren. Die Schulen liefern dafür Anschauung:

zu viel Belehrung, Missmut, Angestrengtheit und vor allem zu

viele Vorschriften. Zu wenig Freude an Leistung, an den anderen, an der Freiheit

und vor allem an sich selbst. Die Vorfreude von Menschen auf sich selbst

ist die Seele des Lernens, im Großen wie im Kleinen, im Lernen von Kollektiven

und Institutionen wie in dem von Individuen.

PISA ist mehr als irgendein Schultest. Das hatte der Volksmund gleich verstanden.

Leserbriefe etwa verlangten PISA für Manager, PISA für Politiker,

PISA für das ganze Land. Experten zogen nach und erwägen nun „PISA für die

Hochschulen.“ Eine internationale Lehreruntersuchung wird vorbereitet und

„PISA für Lehrer“ genannt. Die vier Buchstaben, Abkürzung für Programme for

International Student Assessment, sind längst eine Metapher für die anstehende

Inventur des Humanvermögens. Und nun steht tatsächlich PISA für alle

ins Haus. Weltweit sollen die Kompetenzen der Erwachsenen untersucht

werden. In 52 Punkten wird das noch namenlose OECD-Projekt auf 12 Seiten

skizziert. Am 29. Oktober wurde es in Paris den Vertretern der OECD-Länder

erstmals unterbreitet.

In der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sind

die 30 stärksten Industriestaaten zusammengeschlossen. Der Think Tank der

reichen Länder rückt das Humankapital ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit.

Schon PISA, der größte Schultest aller Zeiten, ist ja ein Kind der OECD. Sein Er-

PISA für alle

Die OECD setzt auf das Humankapital und Deutschland beginnt umzudenken

Reinhard Kahl

finder ist der Deutsche Andreas Schleicher. Er leitet in der Pariser Zentrale die

„Abteilung für Analysen und Bildungsindikatoren,“ in der auch der neue Plan

ausgeheckt wird. Die meisten ökonomischen und wirtschaftspolitischen Steuerungsmittel,

so Schleicher, seien bekannt. Instrumente, die Konjunktur zu beeinflussen

, beherrsche man annähernd so verlässlich wie Techniken um Erdöl

und andere Bodenschätze aufzuspüren. „Die Ressourcen mit denen die Zukunft

entschieden wird,“ da ist er sich sicher, „sind Wissen, Kultur und soziales

Kapital und darüber wissen wir noch wenig.“ Beginnt ein Zeitalter der lange

belächelten soft skills? Wird es auf die Art ankommen, wie Menschen mit Wissen

umgehen und zusammen arbeiten? Andreas Schleicher antwortet mit einem

knappen„Genau“ und fügt hinzu, dass die meisten Industrieländer schon

längst damit begonnen hätten. Nur was Deutschland betrifft, ist er sich da nicht

so sicher. Die Studie könnte Klarheit bringen.

Drei Altersgruppen sollen untersucht werden. Bei den 20- bis 35jährigen kann

das neue Projekt an PISA-Ergebnisse anknüpfen. Seit dem Jahr 2000 werden

die Kompetenzen des 15jährigen getestet. Bis zum Jahr 2009 sind diese Erhebungen

im Dreijahresabstand geplant. Das Herz des Chefs der Abteilung für

Bildungsindikatoren schlägt höher bei der Aussicht, die PISA-Jahrgänge beim

Übertritt von Schule und Hochschule in der Beruf weiter verfolgen zu können.

Zahlt sich Schulwissen aus? Prognostizieren Noten Erfolg und Misserfolg im

Beruf? Wo und wie wurde sonst noch gelernt? Die zweite Kohorte sind die 35-

bis 50jährigen. Über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen Menschen

mitten im Beruf? Welche Kompetenzen haben sich bei ihnen als wirksam erwiesen?

An welches Wissen knüpfen sie an? Vor allem, wie produzieren sie

selbst neues Wissen? Die dritte Gruppe schließlich sind die über 50jährigen. Sie

fahren die Ernte ihrer Arbeits- und Lernbiografien ein. Die nächste Generation

könnte von ihrem Metawissen über Lernen profitieren.

Schon dieser Ansatz macht deutlich, dass die Studie in zwei Richtungen verlaufen

soll. Das Humankapital soll getestet und die Länder werden wohl auch

in Rangfolgen gebracht werden. Anderseits soll erforscht werden, wie erfolgreiche

Strategien lebenslangen Lernens aussehen. Dem verborgenen Wissen

der Menschen soll Ausdruck verschafft werden. Gelernt wird ja nicht nur in

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Schulen und Hochschulen. „Lernen in Kontexten“ ist ein Schlagwort für das

Projekt.

Die Studie ist kühn als ein Lernmittel für die globale Wissensgesellschaft entworfen.

Wissensgesellschaft? Ist das nicht eine Worthülse? „Nein“ antwortet

Schleicher. „Klassisch zog man aus Wissen den meisten Nutzen, wenn man es

für sich behielt,“ erläutert er. „In Zukunft wird jeder einzelne und die Gesellschaft

den größten Nutzen daraus ziehen, wenn sie Wissen gemeinsam nutzen.“

Das sei der große Paradigmenwechsel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft.

Die Kompetenzen für diesen Übergang sollen untersucht werden. Dabei wird

zunächst an den Fragestellungen und Methoden der PISA-Studie für die Fünfzehnjährigen

angeknüpft: Literacy und selbständiges Problemlösen.Für Schleicher

ist Literacy mehr als nur Lesen und Inhalte wieder geben. Es sei „der

Schlüssel zur Welt.“ Die Fähigkeit sich Informationen zu beschaffen und zu verstehen,

sei allerdings nur das Minimum. Bisher reichte es für die meisten Konsumenten

und Anwender von Informationen. Nur wenige mussten schöpferisch

sein. Künftig hingegen müssten viele Menschen vorhandenes Wissen in neues

verwandeln.

Daraus ergibt sich die Fähigkeit selbständig Probleme zu lösen, das ist eine der

zu untersuchenden Basiskompetenzen. Schleicher erinnert daran, dass PISA

und andere Studien hier ein enormes deutsches Handicap entblößen. Beim Lösen

von Routineaufgaben sind die deutschen Eleven noch ganz passabel. Sie

versagen, sobald sie ihr Wissen nicht wie bei einer Klassenarbeit in bekannte

Schemata einsetzen, sondern auf unbekannte Situationen anwenden sollen.

Den Fokus legt die Studie auf die Frage: Was brauchen Menschen, deren Arbeit

sich immer weniger in Routinen abspielen wird? Können sie auf die Hilfe anderer

vertrauen oder müssen sie fürchten beim ersten Einbruch vorgeführt zu

werden? Solche Fragen führen in ein Feld, mit der die OECD-Studie selbst Neuland

betritt. Schleicher spricht von interpersonellen und intrapersonalen Kompetenzen.

„Es geht nicht mehr nur darum, wie der Einzelne sein Wissen absorbiert

und abschottet,“ insistiert er. Gewiss, wer lernt, werde sich sein Wissen

letztlich individuell aneignen. Das sei aber nur die eine Seite, der auf der ande-

Kahl mit Leitg. 02.02.2004 11:49 Uhr Seite 4

ren Seite Kooperation gegenüber stehe. Zusammenarbeit und Kommu-nikation

wurden lange vernachlässigt. Das Ergebnis seien Einzelkämpfer. Sie waren

eine erfolgreiche Anpassung an die Industriegesellschaft. Doch an

Fließbändern, im Bergbau und bei mancher Bürorarbeit habe diese Haltung ihr

Optimum längst hinter sich. Der Wissensmonopolist sei der Erfolgstyp einer

verschwindenden Zeit. Die OECD setzt auf Austausch und Zusammenarbeit.

Das seien die Trümpfe einer „Netzwerkgesellschaft“, wie sie etwa der spanische

Soziologe Manuel Castells beschreibt. Auch eine empirische Studie

kommt nicht ohne Theorie aus. Aber die neue Studie soll so angelegt sein, dass

ihre Ergebnisse ihre eigenen Grundannahmen widerlegen können.

Hinter den Kompetenzen stehen Leitbilder. Schleicher formuliert das wichtigste,

auf seine deutsche Heimat blickend, in der Verneinung: „Wer es schafft,

dass am Ende der Schulzeit niemand mehr gern lernt, hat versagt.“ Kern der

intrapersonalen Kompetenz ist der Antrieb weiter lernen zu wollen. Er betont

das Wort „wollen“. Es gehe weniger um die Bereitschaft sich anzupassen. Die

passive Seite will er nicht völlig ausschließen, er setzt aber auf die Vita activa,

die Fähigkeit zur Selbstorganisation, die Bereitschaft zu gestalten und neues

Wissen hervor zu bringen.

Wenn Literacy und Problemlösen Schlüssel zur Welt sind, dann geht es bei den

interpersonellen und intrapersonalen Kompetenzen um Hunger und Lust auf

die Welt. Sind das nicht reichlich poetische Bilder für eine OECD-Studie? Schleicher

lässt sich nicht irritieren. Er besteht auf Bildung als Steigerung von Selbstständigkeit,

ja als Emanzipation. Er verweist auf Japan. Dort wird die Erneuerung

von Bildung als „Würze fürs Leben“ diskutiert. Die Finnen setzen auf

Vertrauen und Selbstständigkeit. Diese Maximen gelten gleichermaßen für

Schulen, wie für Schüler. In Deutschland hingegen klängen Appelle zu mehr

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Wissenswelten – Bildung – Reinhard Kahl

Die neue Studie will nicht in erster Linie Defizite herausfinden.

Vor allem von den Stärken der anderen sollen die teilnehmenden

Länder lernen. Erfolgsmodelle sollen beschrieben werden

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Anstrengung in der Bildung immer noch nach der Erhöhung von Lasten im

Jammertal.

Aber die neue Studie will nicht in erster Linie Defizite herausfinden. Vor allem

von den Stärken der anderen sollen die teilnehmenden Länder lernen. Erfolgsmodelle

sollen beschrieben werden. Die Philosophie der Studie ist durch

und durch auf Koevolution eingestellt, nicht auf Verdrängungskonkurrenz. Kein

PISA in der Art, wie die Studie in Deutschland häufig aufgefasst wird: prüfen,

abkanzeln und beschämen, ganz im Stil der alten Schule. „Viel interessanter als

die lange Mängelliste in Deutschland war doch bei PISA der Erflog Finnlands,“

sagt Andreas Schleicher.

Aber lassen sich denn diese Kompetenzen und Metakompetenzen auf messbare

Skalen bringen und zu einem internationalen Test operationalisieren?

Schleicher scheut sich nicht einzugestehen, dass er diese Frage noch nicht

schlüssig beantworten kann. Bis Ende 2004 soll das Expertennetzwerk, das die

OECD seit den ersten Plänen für PISA aufgebaut hat, über die neue Studie diskutieren.

Er ist sich sicher, dass sein Konzept dabei modifiziert wird. Das sei

ganz normal im Lernprozess. Ja, die Studie reizt ihn als Selbstversuch dessen,

was ihm vorschwebt.

Auch bei PISA, dem Test der Fünfzehnjährigen, gab es anfangs mehr Fragen

als Antworten. Am unversöhnlichen Expertenstreit drohte alles zu scheitern.

Schleicher erinnert sich an die erste Vorbereitungskonferenz 1996 in Australien.

Die Amerikaner kamen gut vorbereitet mit Kriterienlisten für Lesekompetenz.

Dazu gehörte auch, dass Jugendliche Handbücher für Kopiergeräte verstehen.

Dafür ernteten sie bei den Franzosen Hohn. Das sei Trivialwissen. Es

ginge doch um Literatur. Am zweiten Tag dachte Schleicher, „vergiss es, die

einigen sich nie.“ Am dritten Tag kamen Gemeinsamkeiten auf. Am fünften und

letzten Tag der Gründungskonferenz entschloss man sich weiter zu machen.

Vier Jahre später lief der Test in 32 Ländern. Schleicher will an den guten PISA-

Erfahrungen anknüpfen. Zum Beispiel an diese: „Wenn sich im nationalen

Rahmen ein Physiker und ein Biologe über die Anforderungen ihres Fach unterhalten,

werden sie sich nie einigen.“ Überraschendes passiert wenn Menschen

aus der Arbeitswelt, Mathematiker und Sozialarbeiter möglichst aus ver-

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schiedenen Ländern miteinander reden. „Dann bringt es keinem mehr was,

nur in seinen eigenen Kategorien zu denken.“ So entsteht Neues.

So wenig Schleicher auf PISA kommen lassen will, von ähnlichen Studien über

Studenten, Berufs- und Oberstufenschüler, nach denen aus den Reihen der

OECD-Länder verlangt wird, hält er wenig. Vielmehr müsse die „Evaluation

eine externe Perspektive auf die Bildung schaffen.“ Wie lernen Menschen und

was kommt für sie dabei heraus? Was macht sie handlungsfähig? Woher beziehen

sie dafür ihr Wissen? Und wie bringen sie selbst welches hervor? Lehrplanerfüllung

zu kontrollieren sei uninteressant. Spannende Thesen. Aufregende

Fragen. Wann dürfen wir denn mit ersten empirisch gesicherten

Antworten rechnen? „Kaum vor 2010,“ prognostiziert Schleicher, der die Sache

so schnell wie möglich vorantreiben will, aber nicht schneller. Tröstend fügt er

hinzu, die Ergebnisse seien nur die eine Hälfte des erhofften Ertrags. „Die andere

Hälfte,“ nun stockt er und murmelt, „das darf ich eigentlich als OECDMann

gar nicht laut sagen“, und dann sagt er es doch: „Die andere Hälfte ist der

Prozess selbst.“ Die Vorbereitung der Studie und die öffentliche Debatte darüber

soll eine Bühne „für den Lernprozess der Wissensgesellschaft sein.“

Die OECD liefert dafür laufend Stoff. Am 16. September 2003 wurde „Bildung

auf einen Blick“, die jährliche Gesamtauswertung vieler Statistiken und Studien

zum Humankapital vorgestellt. Dabei zeigt sich: Die Deutschen geben im i

internationalen Vergleich zu wenig für Bildung aus. Wir sparen vor allem an den

Jüngsten. Pro Kopf sind die Ausgaben für Grundschüler weit unter dem internationalen

Schnitt. Bei den Schülern in der Oberstufe liegen sie weit darüber.

Deutschland missachtet den Anfang und die Anfänger. Man setzt eher auf die

Perfektionierung derer, die schon gut da stehen. Aber, das ist die Konsequenz

aus der Geringschätzung des Anfangs und der zu geringen Talentförderung in

der Breite: Auch in der Spitze sind wir in der Bildungsbilanz schwach.

Wo sind wir stark? In der Berufsausbildung. Das Dumme nur ist, dass die Lehre

im Handwerk und die Ausbildung zum Facharbeiter in der Industrie, so wertvoll

sie sind, alles in allem zur traditionellen Industriegesellschaft gehören. Da

war Bildung made in Germany weltmeisterlich. Heute fällt das Land zurück.

Dabei zeigen die Zahlen, Deutschland ist nicht schlechter geworden, nur die

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Dynamik, mit der das Bildungssystem aus- und umgebaut wird, ist wesentlich

geringer ausgeprägt als in anderen Ländern. So belegte Deutschland im Bereich

der Sekundarstufe II, also der gymnasialen Oberstufe und der Berufsausbildung,

vor einer Generation international Platz vier. Inzwischen ist in unserem

Land, vergleicht man es mit sich selbst, die Bildungsbeteiligung

gestiegen, aber geringer als anderswo, so dass Deutschland auf Platz 13, ins

obere Mittelfeld zurück gefallen ist. Bei den Hochschulen ist dieser Trend noch

stärker. Dort belegte Deutschland vor einer Generation Platz 12 und ist inzwischen

auf Platz 24 gefallen.

Erstmals können die OECD-Analysen enge Zusammenhänge von Produktivitätszuwachs

und Wirtschaftswachstum mit der Bildung nachweisen. Andreas

Schleicher meint: „Eine Erklärung, warum der Produktivitätszuwachs in

Deutschland so gering ausfällt ist, dass es im Bildungsbereich über 20 Jahre

hinweg praktisch Stillstand gegeben hat.“ Aber nicht nur die Investitionen von

Geld stagnieren. Stärker ins Gewicht fällt der mentale Stillstand. Das macht

eine Studie von Gero Lehnhard vom Max Planck Institut für Bildungsforschung

deutlich. Er hat untersucht, in welchen Denkmustern – jenseits aller Bildungsrhetorik

– in verschiedenen Kulturen über Bildung und Wirtschaft nachgedacht

wird.

In Skandinavien und in den angelsächsischen Ländern spricht man vom Humankapital.

In der deutschen Tradition hingegen geht es um den Qualifikationsbedarf.

Der Unterschied ist folgenreich. Mit Humankapital, auch wenn es

so wirtschaftlich klingt, wird auf den subjektiven Faktor und auf eine offene Zukunft

gesetzt. Auch auf Vertrauen. Man weiß nicht, was kommt. Es ist, als sagte

die Gesellschaft der nächsten Generation: Je besser ihr gerüstet seid, desto

mehr werdet ihr für euch und uns draus machen. In der deutschen Tradition,

Pro Kopf sind die Ausgaben für Grundschüler weit unter dem

internationalen Schnitt. Bei den Schülern in der Oberstufe

liegen sie weit darüber. Deutschland missachtet den Anfang

und die Anfänger.

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die im Bild des Qualifikationsbedarfs denkt, glaubt man viel über die Zukunft zu

wissen, verengt damit den Horizont und sagt vielen, für eine bessere Ausbildung

gäbe es keinen Bedarf. Waren in unserem Land in den 70er und 80er Jahren

nicht die meisten davon überzeugt, wir hätten zu viele Studenten? Man sah sie

als Taxifahrer und fürchtete ein akademisches Proletariat. Dieses Bilder waren

stärker als alle Arbeitsmarkstatistiken, die beweisen, dass die Arbeitslosigkeit

mit steigender Qualifikation fällt.

Anders gesagt: Das Denken im Muster von Humankapital führt zu Studierendenquoten

von 70 Prozent wie in Finnland, Schweden und Australien. Das Denken

in den Muster von Bedarf führt zu einem System, wie in Deutschland, das

nur bei der hohen Dropout-Quote führt, das vielen Schülern und Studenten

immer wieder zuflüstert, so richtig geeignet seid ihr nicht.

Aber zwei Jahre nach PISA und ein Jahr vor der Veröffentlichung der im Mai

2003 erhobenen neuen Daten der Fünfzehnjährigen, verändert sich in Deutschland

der Blick auf Bildung.

Zwei Beispiele:

25. Oktober 2003, Samstag Abend 20.15 ARD, „PISA, der Ländertest.“ Die Sendung

wird Quotensieger. Wer hätte das gedacht. 7,9 Millionen Zuschauer sehen

Ende Oktober die Premiere der neuen Unterhaltungsshow. Dabei graust es die

Manager der Emotionen in den Sendern gewöhnlich vor nichts mehr als vor Bildungsthemen.

Was nach Belehrung riecht, sagen sie, verdirbt uns die Quoten.

Die meisten Deutschen schalten beim Thema Schule ab. Ihnen stellt sich, sobald

sie an die Schule denken, ein schlechter Nachgeschmack ein. Kein Nachsitzen,

verlangt der deutsche Michel. Aber da ändert sich heute was. Die 164

Minuten dieser Sendung konnte man wie eine Gewebeprobe dieses Wandels

beobachten.

„Wie dumm ist Deutschland wirklich?“ hieß es noch in der Ankündigung. „In

welchem Bundesland leben die klügsten Deutschen,“ droht gleich zu Anfang die

Stimme aus dem Off. Da zucken die Kandidaten und johlen erst mal TV-gerecht.

Klingt alles noch nach Paukschule, Sitzenbleiben und Noten von Anfang an.

Aber wir schalten nicht ab. Tatsächlich gelingt es den Deutschen an diesem

Abend nach und nach mit PISA zu spielen. Die Fragen haben was von der neu-

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en PISAintelligenz. „PISA heißt um die Ecke denken, nicht bloß rechnen,“ sagt

Jörg Pilawa, der artige und immer gut gelaunte Moderator. Also denken: Sinkt

oder steigt der Wasserstand, wenn ein Goldbarren, der auf einer Luftmatratze

liegt, ins Wasser fällt? Da muss man was über den Unterschied von Volumen

und Dichte wissen und eben ein bisschen denken. Manfred Prenzel, der neue

deutsche PISA-Koordinator kommt zwar kaum zu Wort, aber dennoch beglaubigt

er, dass Lernen ein freudiges Ereignis von Entdeckungen sein kann und

nicht das Abtreiben des Eigenen. Im Laufe der Sendung lässt der Moderator sogar

seine Lehrerspielchen „Alexandra pass auf!“ und das Kokettieren „Ich war

in Mathe grottenschlecht.“ Manche Fragen waren so gut, dass das Knobeln und

Denken richtig spannend wurde.

Drei Tage später, am 28. Oktober, Schwäbisch Gmünd. Ein Vortag über Lernen

füllt die Stadthalle ist bis zum letzten Platz. Der beherzte Leiter des staatlichen

Schulamtes, Wolfgang Schiele, hatte vor einem Jahr einen Vortrag des Hirnforschers

und Psychiaters Manfred Spitzer gehört und sagte sich, „den lad ich

ein“. Dass er dafür die Stadthalle mietet, finden viele übertrieben. Schiele macht

Werbung für den Abend und erhält 7000, in Worten, siebentausend Anmeldungen.

Als Spitzer im Herbst zum vierten Mal nach Schwäbisch Gmünd kommt,

werden immer noch 3000 Karten bestellt. Aber die Halle hat nur 1200 Plätze.

Ein Phänomen! Es gibt einen Heißhunger auf die Botschaft der Hirnforschung,

dass Lernen in Entspannung und mit Vertrauen am besten gelingt. Ihr glaubt

man, wogegen sich das kollektive Imaginäre der Deutschen noch sträubt. Immer

noch glauben viele, ein Maß für den Erfolg des Lernen sei, wie sehr es den

Lernenden gegen den Strich gehe. Als wäre es eine bittere Medizin. Spitzer widerspricht

diesen Vorurteilen und verkündet ein neues pädagogisches Testament:

„Das Gehirn kann nichts anderes als lernen“, sagt Spitzer „und das macht

ihm die allergrößte Freude – außer man zwingt es.“ Sein Bestes gibt es in einer

wohlwollenden Atmosphäre. Am produktivsten wird es in einer anregungsreichen

Welt. Das Gehirn ist das Organ der Selbstorganisation, ja „ein demokratisches

Organ“, in dem verschiedene Stimmen ins Gespräch kommen und sich

abstimmen. Natürlich kann man sagen, alles nichts Neues. Aber für die 7000

Menschen in Schwäbisch Gmünd ist es eine neue, sogar aufrüttelnde und

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durchaus frohe Botschaft. Da mäandert was in den Köpfen. Vor allem: nach

dem 30jährigen Bildungskrieg öffnet sich ein nicht vermintes Diskursfeld. Was

als Kuschelpädagogik diffamiert wurde und Kettenreaktionen deutscher Bildungskriegs-

Reflexe herausfordert, kann im Zeichen der Hirnforschung ganz

entspannt diskutiert werden. Endlich ein Gemeinschaftsfeld deutscher Bildungspolitik!

Annette Schavan, Kultusministerin in Baden-Württemberg spendiert

2,3 Millionen in das von Manfred Spitzer just gegründete „Transferzentrum

für Neurowissenschaft und Lernen“ an der Uni Ulm.

Einen Tag später schließlich, am 29. Oktober, erhält in Paris der Vorschlag von

Andreas Schleicher in einer Studie die Kompetenzen der Erwachsenen weltweit

zu untersuchen große Zustimmung von den Vertretern der 30 OECD-Länder.

Der Plan ein Werk- und Lernzeug für die Globalisierung in der Bildung zu

entwerfen wird mit Begeisterung aufgenommen. Einzig aus Deutschland wurden

Vorbehalte laut. „Völlig abwegig,“ sagt Bayerns Kultusministerin Monika

Hohlmeier, „ein solches Projekt kostet viel Geld und führt zu keinem Ergebnis.“

Edelgard Bulmahn, die Bundesministerin für Bildung und Forschung kontert:

Notfalls wird sich der Bund auch allein, ohne die Länder beteiligen. Da haben

wir ihn schon wieder, den deutschen Bildungskrieg. Dass darin alle mit Informationen

gut gerüstet sind, kann man nicht sagen. Der Generalsekretär der

Kultusministerkonferenz (KMK), Erich Thies, findet es „aberwitzig, ein Volk auf

seine Intelligenz zu testen“. Aber nun wissen wir, um einen Intelligenztest geht

es nicht. Es geht um die Erkenntnis, dass künftig die weichen Kompetenzen wie

Problemlösen, Zusammenarbeit und Lernlust die allerhärtesten sein werden.

Reinhard Kahl, geb. 1948 in Göttingen, Studium der Erziehungswissenschaften,

Philosophie, Soziologie und Psychologie in

Frankfurt und Hamburg. Seit 1975 Journalismus als Beruf,

zunächst frei, zwischenzeitlich als Realisator und Moderator im

NDR-Fernsehen, dann wieder frei. Zahlreiche Auszeichnungen,

u. a. 1987 (mit anderen) den Grimme-Preis für die NDR-Serie

„Kindsein ist kein Kinderspiel“.

Kontakt

Eppendorfer Landstraße 46, 20249 Hamburg

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