Nachlese HH Bildungsdiskurs mit Hartmut von hentig

Mo 2. April 2007 | Gespräch

Hamburger Bildungsdiskurs:
Von der nützlichen Erfahrung,
nützlich zu sein

Bewährung statt Belehrung

Reinhard Kahl sprach im KörberForum mit Hartmut von Hentig über das Abenteuer einer entschulten Schule.

»Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.« Hartmut von Hentig hat in seiner Kritik am traditionellen Schulsystem nie ein Blatt vor den Mund genommen. Vermittlung von Wissen durch die Schule ist ihm zwar wichtig, aber noch wichtiger ist ihm die Vermittlung des Denkens. Schule hat er früh in unterschiedlichen Formen kennen gelernt. Als Sohn eines Diplomaten wechselte er dreizehn mal die Schule, in fünf Ländern. Vielleicht half dem inzwischen emeritierten Starprofessor der Pädagogik auch die Tatsache, dass er selbst nie Pädagogik studiert hat, um seine eigene Pädagogik zu erfinden. Seine erste Kritik für eine »Erneuerung der Schule« formulierte er Anfang der sechziger Jahre. Im KörberForum stellte er noch einmal seine Ideen für das noch immer vom ihm geforderte pädagogische Umdenken vor.

Was Hentig an der Schule nicht passt? Zwar entlasse sie ihre Schüler kenntnisreich, aber auch erfahrungsarm und orientierungslos in die Gesellschaft. In seinen Ausführungen im KörberForum skizzierte er ein »Lebensexperiment« für 13- bis 15Jährige. Es sei viel, was Jugendliche in dieser durch die Pubertät geprägten Zeit erfahren würden: Von Gewalt, Mobbing und Ranking bis zur schlechten Ernährung. Handy, Walkman ein exzessiver Hang zu Computerspielen gingen mit einer Verdrängung der Realität einher. Und diese Realität sei ja auch durch viele Konflikte geprägt: Kämpferischer Islamismus, hoher Energieverbrauch, älter werdende Gesellschaft und Nahrungsmangel. Aber angesichts unseres Reichtums und unserer gelebten Gleichgültigkeit kämen Jugendliche mit diesem Verhalten nicht zurecht. Deshalb sei es notwendig, dass sie Wege finden, um sich in dieser schwieriger gewordenen Gesellschaft selbst zu bewähren.

Von Hentig weiß, dass er durch seine Begrifflichkeit auch leicht missverstanden wird. Deshalb nahm er sich Zeit, seinen Sprachgebrauch zu erklären. Wenn er von »Ehrendienst« spricht, meint er damit ein Pflichtjahr für die Gemeinschaft. Für ihn stehe außer Frage, dass der, der keine Gemeinschaft erfahren habe, auch Gesellschaft nicht richtig denken könne. Es sei die »abhanden gekommene Erfahrung« der Jugendlichen, gebraucht zu werden, weshalb der Pädagoge für diesen Dienst an der Gemeinschaft plädiert. Denn: Die nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein, tue dem Dienenden in erster Linie selber gut.

Reinhard Kahl (r.) und Hartmut von
Hentig im Gespräch mit Zuhörern

Wenn er von »Entschulung der Mittelstufe« spricht, möchte er ein Gegengewicht zur Verschulung bilden. Das natürliche Lernbedürfnis der Jugendlichen müsse wieder hergestellt werden. Er schlägt vor, dafür den Unterricht der Mittelstufe für zwei Jahre außerhalb der Schule zu organisieren. Dann könnten sich Projektgruppen bilden und Jugendliche durch konkrete Bewährung in ihren Lebenszusammenhängen ihre Apathie und Entfremdung in der Gesellschaft überwinden. Die Aufgaben seien schier unerschöpflich: ein verlassenes Bauernhaus für sich bewohnbar machen, Senioren im Gebrauch von Computern unterrichten, Patenschaften für Parks übernehmen, Theater spielen, Projekte mit Ausländern initiieren, eine Pension für Haustiere eröffnen oder ein eigenes Auto bauen. Selbst das Schreiben von Bettelbriefen zur Finanzierung derartiger Projekte gehöre zu den Aufgaben, und »diese Briefe müssten besonders gut geschrieben werden«. Natürlich sei dabei die Anleitung von besonders einfühlsamen Erwachsenen notwendig, aber die Jugendlichen machten letztlich alles selbstverantwortlich. Zudem schlägt von Hentig vor, die Sommerferien auf drei Monate zu verlängern und in diesem gewonnenen Zeitraum Jugendlichen längere Studienfahrten zu ermöglichen.

Mindestens vier Schulen in einer Stadt seien notwendig, um diese Vision eines sozialen Lernens in einem Pilotprojekt umzusetzen, so von Hentig. Bislang komme in der Erziehung die Erfahrung im Umgang miteinander zu kurz. Jugendliche würden darauf getrimmt, in einer ökonomisierten Gesellschaft »zu funktionieren«. Stattdessen reagierten sie angesichts einer Reizüberflutung und der Lebensunsicherheit der Erwachsenen mit nachlassender Aufmerksamkeit. »Warum erreichen so viele Schüler nicht einmal den Hauptschulabschluss?« fragte von Hentig. »Weil sie nicht erfahren, warum sie das sollen.«

Seine Vision klinge wie der Neuaufbau nach einer Katastrophe, fragte Reinhard Kahl seinen ehemaligen Lehrer. Zwar laufe es nicht gut, aber es funktioniere ja dennoch, fügte er hinzu. »Es geht uns vermutlich noch nicht schlecht genug«, entgegnete von Hentig. »Ist die Lust zu handeln bei uns einfach zu gering?« wollte Kahl wissen. »Es ist Angst und Bequemlichkeit«; meinte von Hentig. »Der Hafen der Sicherheit ist doch der schönste Hafen, da kommt ganz Hamburg nicht mit.«