Nach Pisa – die Zukunft der Schule (2)

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Südwestrundfunk

SWR2 Wissen

Titel: Aus dir wird nichts!

Aus der Reihe: Nach PISA – Die Zukunft der Schule (2)

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Bildung

Sendung: 26.10.2002

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MANUSKRIPT

 

 

 

 

 

 

Sprecher:

In einer Fernsehdiskussion über die „Schule nach PISA“ fragte kürzlich der Moderator:

Zitator:

„Jetzt nennen sie bitte mal ganz schnell den Satz aus ihrer Schulzeit, der ihnen am stärksten in Erinnerung geblieben ist.“

Sprecher:

Vier von fünf Antworten waren Variationen auf: „Aus dir wird nie was.“ Und da saßen eine Kultusministerin und andere Gäste vor den Kameras, die es dennoch weit gebracht haben. Aber eine Wunde aus ihrer Schulzeit ist nie völlig verheilt.

Sprecherin:

Welche Wunde? Was macht die Schule für viele zu einem Trauma? Worin liegen die Erniedrigung und die Geringschätzung, die in vielen wieder aufsteigen, wenn sie an ihre Schule zurück denken?

Sprecher:

Manchmal sagt ein Eindruck mehr als große wissenschaftliche Studien. So berichtet Jürgen Baumert, der als Direktor des Max- Planck-Instituts für Bildungsforschung die deutsche PISA- Studie koordiniert, erstaunt davon, dass seine skandinavischen Kollegen durchweg gute Erinnerungen an ihre Schulzeit haben. Dem kann sich der deutsche „Mister Pisa“ selbst nicht unbedingt anschließen.

Sprecherin:

Und wenn in Finnland auf einen Studienplatz in der Lehrerausbildung sage und schreibe 10 Bewerber kommen – obgleich Lehrer dort ein Drittel weniger verdienen als ihre deutschen Kollegen – dann muss das wohl auch an guten Erinnerungen an die eigene Schule liegen.

Sprecher:

Aber bevor wir den PISA-Weltmeister Finnland besuchen . .

Sprecher:

…. werfen wir einen Blick in den Spiegel. PISA macht uns Deutschen keine Komplimente.

Cut 1 (Baumert) ca. 0´30

Das Ergebnis, was in der Öffentlichkeit für die meiste Aufregung gesorgt hat, hat mich selbst am wenigsten überrascht. Ich finde es im Grunde auch am langweiligsten. Das ist nämlich das Ergebnis, dass Deutschland sich mittlerweile in allen untersuchten Bereichen in einem unteren Mittelfeld bewegt, das konnte man prognostizieren, das ist das am wenigsten Spektakuläre. Die Ergebnisse, die dahinter stehen, die haben alle- und zwar nicht nur die Öffentlichkeit – sondern auch alle Sachkundigen ganz überraschend getroffen.

Sprecher:

Sagt Bildungsforscher Jürgen Baumert. Jenseits des internationalen Rankings zeigt der Röntgenblick von PISA die Anatomie unseres Schulsystems und lässt Rückschlüsse auf sein Nervensystem zu.

Cut 2: (Baumert) ca. 0´25

Das erste Ergebnis ist, der Befund, dass die Leistungsstreuung in Deutschland so groß ist wie in keinem OECD Staat, d.h. also die Abstände zwischen der Spitzenleistung und der schwächsten Leistung sind so groß, wie wir sie in keinem modernen Industriestaat haben. Und zwar nicht deshalb, weil wir eine exzellente Spitze haben, die das Niveau nach oben treibt, sondern weil wir eine ungewöhnlich große Gruppe von Risikokandidaten haben.

Sprecher:

Für viele Beobachter und vor allem Beteiligte der Schule ist das Kränkendste an diesem Befund, dass die von den Schulen produzierte Ungleichheit in Deutschland zu allem anderen als Elitebildung führt. Sie drückt eher Verwahrlosung aus.

Denn fast ein Viertel der deutschen Fünfzehnjährigen – PISA vergleicht ja in 32 Ländern die Fünfzehnjährigen – kann nur auf Grundschulniveau lesen – oder erreicht nicht mal diese Kompetenzstufe eins, die niedrigste von fünf Stufen, die PISA unterscheidet.

Sprecherin:

Zum Vergleich: In Deutschland gehören exakt 23,5 % zu dieser sogenannten Risikogruppe – in Finnland lediglich 7%.

Cut 3: (Baumert) 0´25

Der zweite überraschende Befund, der viele noch stärker getroffen hat, ist das Ergebnis, dass in Deutschland der Zusammenhang zwischen Merkmalen der familiären und sozialen Herkunft und die Leistungsentwicklung so eng verbunden ist wie ebenfalls in keinem OECD Staat, also in keinem anderen Land kann man die Leistungsentwicklung so gut vorhersagen, wenn man weiß, aus welcher Familie jemand kommt, und das ist überraschend.

Sprecherin:

Die Chancen eines Kindes aus der Oberschicht, das Gymnasium zu besuchen, sind in Deutschland drei mal so hoch wie für ein Arbeiterkind, das die gleichen schulischen Fähigkeiten hat.

Sprecher:

Das alles irritiert. Man fragt sich: wie kommt es, dass in Deutschland aus schlechten Leistungen…

Sprecherin:

…die es natürlich überall auf der Welt gibt…

Sprecher:

… dauerhaft schlechte Schüler werden?

Dazu gibt es nicht erst seit dem 4. Dezember 2001, als die PISA- Ergebnisse veröffentlicht wurden, profunde Theorien. Bisher konnte man diese Erkenntnisse und triftigen Befunde übersehen. Wir glaubten, die besten Schule der Welt zu haben. Vielleicht nicht Schulen, die am meisten Spaß machen. Aber doch Schulen, die zu den besten Leistungen führen.

Seit PISA hat diese deutsche Krähwinkelei ein Ende. Wir sind nicht gut. Dem Vergleich mit anderen Ländern kann niemand mehr ausweichen. Auch das ist Globalisierung.

Cut 4 ATMO Doo doo – boogi singen / Ende Klavier 0´28 (ende total 0´31)

Die Atmo bleibt kurz offen. Dann gut hörbar unter Sprecher.

 

Sprecher:

Jyväskylä in Mittelfinnland. Eine fünfte Klasse. Noten gab es für diese Kinder bisher noch nicht. In fast jedem Klassenzimmer sieht man ein Klavier. Und der Unterricht beginnt morgens nach einer Begrüßung mit Singen. Es ist, als würden Lehrer und Schüler sich stimmen – so wie man ein Musikinstrument stimmt. Dann wechseln in der Stunde klassischer Unterricht des Lehrers, häufig an der Tafel, mit langen Phasen von Gruppenarbeit der Kinder. Bei Hauptfächern wie Muttersprache oder Mathematik ist zumeist ein Assistenzlehrer dabei, der sich um Kinder, die langsamer sind oder Schwierigkeiten haben, kümmert. Sind die Schwierigkeiten größer oder ständig, verabreden sich Lehrer und Schüler, um zu Zweit oder auch mit einem sogenannten Sonderlehrer die Sache noch mal zu erklären, zu üben oder heraus zu bekommen, woran es liegt.

Sprecherin:

Die finnische Gesellschaft investiert mehr Geld in die Schulen als Deutschland. Aber der Unterschied ist nicht so erheblich, als dass er den großen Leistungsunterschied erklären könnte.

Sprecher:

Die Finnen investieren viel Vertrauen in die Kinder. Kinder niemals zu beschämen und nicht zu gängeln, das ist die finnische Grundidee. Respekt ist die Basis von Bildung in Finnland. Dieses Schulklima ist nicht bloß Ausdruck des finnischen Nationalcharakters. Auch das. Aber die hohe Wertschätzung der Kinder ist vor allem Ergebnis von vierzig Jahren Bildungspolitik.

Sprecherin:

Auf mehr als vierzig Jahre Schule in Finnland blickt Riita Piri (gesprochen wie Rriehta) zurück. Sie war Lehrerin, arbeitete in der nationalen Schulbehörde und schließlich im Bildungsministerium. Seit Anfang 2002 ist Riita Piri pensioniert.

 

Cut 5: ( Piri) 0´44

Also ich hatte sogenannte schwierige Fächer unterrichtet in der Schule: Fremdsprachen und zweite Landessprache und ich habe sehr viel schlechte Noten gegeben und die Schüler sind sitzen geblieben und haben auch die Schule verlassen müssen. Besseres wusste ich damals nicht. Dann mit der Gesamtschule wurde es anders, die Lehrer bekamen entsprechende Ausbildung, auch Grundbildung der Lehrer wurde anders und die älteren Lehrer bekamen Weiterbildung. Allmählich haben wir unsere Ausbildung, unsere Gesamtschule besser gemacht, so dass wir jetzt zu diesen PISA- Ergebnissen gekommen sind.

Sprecher:

Heute bleibt in Finnland kein Kind mehr sitzen, außer es ist in einer Ausnahmesituationen, etwa nach langer Krankheit. Und im Land mit etwas mehr als 5 Millionen Einwohnern blieben in den vergangenen Jahren nie mehr als 50 Jugendliche nach der 9. Klasse ohne Schulabschluss. In Deutschland sind es jährlich über 100 000, die ohne Abschluss, als zertifizierte Versager entlassen werden.

Dieser finnische Erfolg hat seine Geschichte:

Cut 6: (Riita Piri) 0´26

Anfang der sechziger Jahre waren alle politischen Parteien einig, dass wir Gesamtschule(n) haben( wollen), das dauerte. Die Vorbereitung (war) lange. Aber Anfang der sechziger machte man einen Prinzipbeschluss und Ende der sechziger hat man das Gesetz gemacht und dann in den Siebzigern hatten wir den Übergang, der sieben Jahre dauerte.

Sprecherin:

Nun arbeitet die finnische Schule seit mehr als 30 Jahren von Klasse eins bis neun als Gesamtschule. Darin gibt es auch keine nach Leistungsgruppen eingeteilte Kurse. Immer wieder hört man von Lehrerinnen und Lehrern die finnische Konfession:

 

Zitator:

Jeder gehört dazu. Niemand ist überflüssig. Alle werden gebraucht im Land von 5 Millionen Einwohnern. Alle müssen etwas können, denn sie sollen ja etwas beitragen zum Wohl des kleinen Landes.

Sprecher:

Und immer wieder betonen die Finnen uns Deutschen gegenüber ihre beiden Generalformeln: Erstens Vertrauen und zweitens die Unterschiede der Kinder achten.

Zur Respektierung der Unterschiedlichkeit von Kindern habe die Gesamtschule einen Schub gebracht, das kann Pirjo Linnakylä, Professorin an der Universität von Jyväskylä und eine der finnischen PISA-Wissenschaftlerinnen nachweisen:

Cut 7: (Linnakylä)

If you are teaching in a comprehensive school you have to take care of every student. You can not put the student to another school. If he doesn’t well, but you have to change your own teaching, so that it fits into every student’s interests and abilities.

Sprecherin (overvoice):

Wenn man an einer Gesamtschule unterrichtet, muss man sich um jeden Schüler kümmern. Man kann Schüler ja nicht auf eine andere Schulen abschieben, wenn sie nicht gut sind. Man muss seinen Unterricht so ändern, dass er zu den Interessen und Fähigkeiten der Kinder passt.

Sprecher:

Diesen Prozess haben die finnischen Lehrer anfangs als schmerzhaft, aber bald als bereichernd erlebt.

In der wissenschaftlichen und bildungspolitischen Debatte seit PISA diskutiert man nun auch in Deutschland über Homogenität und Heterogenität in den Klassen.

 

Sprecherin:

Dürfen ganz verschiedene Kinder in einer Klasse sein? Ist im Unterricht Raum für verschiedene Lernwege – und Lernwege sind ja fast immer Umwege. Oder sollen diese Wege möglichst gleich sein, also standardisierten Plänen entsprechen?

Sprecher:

Das deutsche, dreigliedrige Schulsystem rühmt sich ja seiner Differenziertheit. Keine Einheitsschule! Aber bei genauerem Hinsehen erweist es sich als starr in seinen drei Leitbildern. Individuen haben in ihrer jeweiligen Einmaligkeit von Talenten und Fehlern in deutschen Schulen schlechte Karten.

Denn die Lehrer fragen hier: passt der Schüler in die Schule? Sie fragen nicht: passt der Unterricht zu den Schülern? Häufig unterrichten sie einfach ihre Fächer, nicht aber die Schüler.

PISA- Chef Jürgen Baumert, Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung, sieht darin eine der Erbsünden deutscher Schulen:

Cut 8: (Baumert) 0´42

Für mich ist diese Unterrichtsführung einer der Gründe, weshalb alle Lehrer/innen – und zwar aller Schulformen – immer die falschen Schüler haben. Also wenn sie das hören, ja woran liegt es, „ja ich habe zu viele unbegabte Schüler“, das sagen Hauptschullehrer genauso: „ wir müssten viel mehr auf die Sonderschule überweisen“. Im Gymnasium: „Ja es kommen zu viele ungeeignete Schüler aufs Gymnasium“. Und dieses ist im internationalen Vergleich wirklich verblüffend. Wir haben in der Sekundarstufe, in der Mittelstufe die homogensten Lerngruppen der Welt. Wir haben eine Dreigliedrigkeit. Die (Schüler) sind leistungshomogenisiert, und trotzdem ist die Klage über zu große Heterogenität bei uns so groß wie in keinem anderen Land.

Sprecherin:

Deutsche Lehrer wurden im nationalen Teil der PISA-Studie gefragt, welche Schüler in ihrer Klasse wohl zu der sogenannten Risikogruppe gehörten, also zu denen, die nur die niedrigste Kompetenzstufe erreichten – oder nicht mal die. Das erschütternde Ergebnis:

Zitator:

Neun von 10 Schülern mit diesen eklatanten Lücken wurden von ihren Lehrern nicht als solche erkannt.

Sprecher:

Man muss sich fragen: kennen die Lehrer ihre Schüler nicht? Sind Lehrer so sehr von ihren Bildern überzeugt, die sie sich von den Lernprozessen und ihren Abläufen machen, dass sich ihre Wahrnehmung der wirklichen, vor ihnen sitzenden Schüler trübt?

Die Ansprüche vieler Lehrer gegenüber ihren Schülern sind nicht etwa zu hoch – sie sind von der Wirklichkeit abgekoppelt.

Auch das zeigt der genauere Blick in die PISA-Studie.

Jürgen Baumert und seine Kollegen haben Lehrplanexperten, zumeist aktive Lehrer gefragt, in welchem Alter Schüler wohl was können, zum Beispiel wann sie perfekt lesen können, und wer auch sehr schwierige Texte versteht:

Cut 9: (Baumert) 0´42

Das verblüffende war: alle Lehrplanexperten bis auf eine ganz kleine Minderheit sind der Meinung, dass die wesentlichen Anforderungen unabhängig von der Schwierigkeit bis zum Ende der achten Jahrgangsstufe erledigt sind. Sie sind der Meinung, dass die schwierigsten Aufgaben in der Hauptschule von etwa 60% gelöst werden, in der Realschule von 75 % und im Gymnasium von etwa 80 % gelöst werden und wenn man jetzt fragt, wie hoch sind denn die Lösungswahrscheinlichkeiten wirklich, dann sieht man, dass sie die leichtesten Aufgaben etwas zu schwer einschätzen, aber die schwierigsten Aufgaben grotesk unterschätzen, also von den 60 % Hauptschülern, die die schwierigen Aufgaben lösen sollen, ist die Lösungswahrscheinlichkeit 0.3 %, d.h. es gibt gar keinen Hauptschüler, der diese Aufgaben lösen kann. Und ähnlich grotesk ist die Verschätzung für die Realschüler, und von den Gymnasiasten sollen etwa 80 % die Aufgaben lösen, also sie sollen wirklich Expertenleser sein, 29 % sind es, d.h. also auch im Gymnasium gibt es eine groteske Unterschätzung der Schwierigkeiten von anspruchsvollen Leseaufgaben und unsere Frage ist: wie kommt denn das eigentlich?

Sprecher:

Fraglich ist also die diagnostische Kompetenz unseres Schulsystems. Wir würden uns ja wundern und auf die Barrikaden gehen, wenn das Gesundheitssystem Patienten, die gesund sind, für krank hält und Kranke für gesund.

Sprecherin:

Jedenfalls haben deutsche Lehrer ein generalisiertes Bild von Schülern, das mit der Wirklichkeit der Schüler nicht übereinstimmt.

Der einzelne Schüler, der dem Bild nicht entspricht, wird als Abweichender oder gar als Versager gesehen und – das weiß man aus der Psychologie: so wie man gesehen wird, so wird man auch. Dieser systematische Verkennungsvorgang an den deutschen Schulen lässt sich auch in nüchternen Zahlen ausdrücken.

Cut 10: ( Baumert) 0´58

Wir haben eine extrem hohe Sitzenbleiberquote und wir haben Rückstellungsquoten, also 12 % der Schüler werden am Anfang der Schulzeit zurück gestellt, und wir haben zusätzlich noch mal 24 % von Personen, die wenigstens einmal eine Klassenehrenrunde drehen, insgesamt ein Drittel der Alterskohorte, die eine verzögerte Schullaufbahn haben. In kaum einem anderen Land – nur in Portugal – verteilen sich die fünfzehnjährigen auf so viele Klassenstufen wie in Deutschland. Also mit der Stichtagsregelung sollten wir 50 % in der Neunten und 50 % in der zehnten (Klasse) erwarten. Wir haben 23 % in der Zehnten, 64 % in der Neunten noch mal 20 % in der Achten, 10 % in der Siebten, den letzten fünfzehnjährigen in der fünften Klasse angetroffen, einen haben wir in der elften Klasse angetroffen. In Neuseeland sind 98 % der fünfzehnjährigen in der elften Klasse und machen ein Jahr später Abitur. Da ist irgendwie eine andere Philosophie im Umgang mit Lebenszeit.

Sprecher:

Die Hauptschwäche unseres dreigliedrigen Schulsystems ist nicht so sehr die Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach Talenten. Das sind große Schwächen. Aber sein noch viele größerer Nachteil ist, dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu kümmern. Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen – und Lernen macht immer auch Schwierigkeiten – werden zu schwierigen, störenden und schließlich gestörten Kinder, zu Schulversagern gemacht. Das ist in dem Ausmaß beispiellos im Vergleich mit allen anderen 32 PISA-Ländern.

In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen, und ihnen die Möglichkeit zu geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden – so dass gewissermaßen die Intelligenz der Schule selbst steigt. Selektion vergiftet die Atmosphäre in Deutschland, auch an den Gesamtschulen.

So klingt es wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliederige System. Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres dreigliedrigen Schulsystems zu Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen anderer zum Thema gemacht und tatsächlich zivilisiert würde. Die PISA- Spitzenreiter Japan und Finnland kennen diesen deutschen Sortier- und Selektionswahn nicht. In Japan wie in Finnland werden alle Schüler bis zum 9. Jahrgang gemeinsam unterrichtet. In Schweden ist jede Differenzierung bis Klasse neun vom Gesetz ausdrücklich verboten. Auch in den USA und Kanada sind die Schulen bis zur 10. Klasse für alle.

Das immerhin wusste man. Der Schock, den die internationale PISA-Studie auslöste, war neben dem schlechten Abschneiden eine Erkenntnis, die nicht so recht in die deutschen Denkkoordinaten passt:

 

Sprecherin:

Die atmosphärischen Gewinne bringen in anderen Ländern am Ende reiche kognitive Ernte.

Man muss nicht unbedingt mehr Lehrer einstellen, sondern seine Einstellung ändern, was viel schwieriger ist. Dass es möglich ist, beweisen andere Länder, zum Beispiel eben Finnland, das sein Schulsystem ursprünglich am dreigliedrigen deutschen Vorbild ausgerichtet hatte.

Sprecher:

Riita Piri, die pensionierte Lehrerin und spätere Ministerialrätin aus Helsinki, hat an einem Projekt mitgearbeitet, vom dem wir alle in Deutschland noch vor einem Jahr nicht geglaubt hätten, dass es leistungssteigernd wirkt.

Cut 11 (Piri) 1´31

Wir haben die Schulaufsicht, die Kontrolle im Grunde genommen abgeschafft. Wir haben Zuversicht, Vertrauen, das ist unser Grundkonzept, und wir haben unsere Lehrerschaft so gut ausgebildet, dass wir auf sie vertrauen können, z.B. bei uns spricht man nicht mehr Sanktionen. Wir haben im Gesetz Möglichkeiten zu Sanktionen, aber die sind nur, wir haben sie noch nicht für die Schule gebraucht.

Wir haben innerhalb von zwanzig Jahren immer weniger Kontrollen gemacht und am meisten dann vor fünf Jahren und das läuft sehr gut. Also wenn man Zuversicht gibt, dann benimmt sich der Mensch auf gleiche Weise. Also das Vertrauen ist sehr wichtig.

Sprecher:

Deutsche Besucher in finnischen Schulen wundern sich darüber, dass die Schüler auch Prüfungsarbeiten mit Bleistiften schreiben. Dem deutschen Betrachter kommt gleich der Gedanke: Radiergummi, Schummeln, gerichtsfeste Prüfungen.

 

Sprecherin:

Der Bleistift in Finnland hat eine profane Tradition. Im Winter, bei Temperaturen häufig unter 20 Grad, platzen Füllfederhalter. Also schreibt man auch im Zeitalter von Filz- oder anderen Stiften weiter mit dem Bleistift.

Sprecher:

Der finnische Bleistift ist auch ein Beispiel dafür, wie man von anderen Ländern nicht lernen sollte. Denn natürlich kann man nicht einfach kopieren. Der Vorschlag, in deutschen Schulen künftig mit Bleistiften zu schreiben…

Sprecherin:

…und viele Schnelltherapien nach PISA haben genau diese Logik…

Sprecher:

… ändert natürlich nichts, das ist klar. Aber vielleicht könnten wir uns von den Strategien und vom Geist anderer Länder wie von einer ansteckenden Gesundheit infizieren lassen?

Sprecherin:

Diese andere Strategie verlangt zunächst die Kluft zwischen den idealisierten hohen Ansprüchen, wie Schüler eigentlich sein müssten, und der oft nicht wahrgenommenen Wirklichkeit dieser Schüler zu schließen. Man sollte sie als Individuen und nicht als Gymnasiasten, Hauptschüler, Sonderschüler oder Realschüler ansehen.

Und vor allem sollte man aus Fehlern und Schwierigkeiten, die man nicht länger leugnet, Kapital fürs Lernen schlagen.

Cut 12 (Piri) 1´00

Wenn man Diagnose gemacht hat, zuerst kann man vielleicht feststellen, die Schwierigkeit ist nicht beständig, nur vorübergehend. Dann gibt man Förderunterricht. Aber wenn es so aussieht, dass die Schwierigkeit noch da bleibt, dann beginnt man irgendwie länger vielleicht mit Sonderschullehrer in der Klasse, oder nach der Klasse, oder während der Klasse, wie es immer am Besten geht. Sehr flexibel wird das Kind gefördert. Wir haben festgestellt, wenn man früh anfängt, z.B. in den untersten Klassen der Gesamtschule haben ein Viertel der Kinder irgendwelche Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben, aber dann, wenn sie in die höheren Klassen kommen, sind sie schon verschwunden.

Sprecher:

In jeder finnischen Gesamtschule gibt es neben den Lehrern ein zweites Kollegium. Dazu gehören Kuratoren, das sind Sozialarbeiter, die, wenn nötig, den Kontakt zur Familie suchen und sich um Hilfen für die Familie und Kinder kümmern. Sonderlehrer, die von Anfang an Lernschwierigkeiten diagnostizieren und zu beheben versuchen. Eine Schulkrankenschwester ist eine Art Vertrauensperson, zu der die Kinder nicht nur mit körperlichen Wehwehchen gehen. Ein Schulpsychologe, bzw. eine Schulpsychologin gibt es jeder städtischen Schule. Auf dem Land sind Schulen im dünn besiedelten Finnland manchmal sehr klein. Dann ist dieses zweite Kollegium für mehrere Schulen zuständig.

Cut 13 Atmo „lautmalerisch sonderlehrer 0´17 die ersten „Laute“ offen, dann unter Sprecherin weiter gut hörbar

Sprecherin:

Kinder, die Schwierigkeiten beim Hören und beim Artikulieren von Lauten haben, bekommen auch Probleme beim Lesen. Also üben die Sonderlehrer Hören und Artikulation, damit es gar nicht erst zum Versagen beim Lesen kommt.

Sprecher:

Und noch etwas fällt auf: Lehrer und die Mitglieder des zweiten Kollegiums überlegen gemeinsam: was können wir tun? Sie fragen nicht: wer hat Schuld?

 

Sprecher:

Sonderschulen wurden in Finnland abgeschafft.

Für Kinder mit besonders schweren Behinderungen gibt es an machen Kliniken angegliederte Lerngruppen. Aber generell gilt:

Zitator:

Jeder gehört dazu –

je früher desto besser –

ein Problem zu haben, ist keine Schande.

Sprecher:

Man könnte auf die Idee kommen, die finnische Schule konzentriere sich auf Sozialpädagogik und vernachlässige vielleicht die Lehrinhalte. Ein Besuch im Unterricht zeigt, dass sich die sozialen und atmosphärischen Investitionen auszahlen.

Cut 15 atmo

erst Unterricht dann englisch üben und singen, Flur Atmo ´46

Atmo so starten, dass unter der Sprecherin das allg. Unterrichtsgeräusch beginnt und das „Englisch Üben“, dann einen Moment offen

Sprecher:

Nach Schwedisch, der zweiten Landessprache, und nach Englisch ab der dritten Klasse, geht es in der fünften Klasse bereits mit der dritten Fremdsprache los. Langsam starten und dann Gas geben, dass ist ein Geheimnis des finnischen Erfolgs.

Mit Schülern aus der fünften Klasse kann man sich auf Englisch verständigen. Und einige Sätze Deutsch können viele auch schon. In der finnischen Schule übrigens ist der Anteil musischen Unterrichts sehr hoch, mehr Stunden für Kunst und Musik als für Mathematik. Aber eigentlich wissen wir das in Deutschland aus Studien auch: Schüler, die Musikinstrumente spielen, sind in Mathematik besser als andere Schüler. Der Unterschied : die Finnen ziehen daraus Konsequenzen. Und weil sie wissen, dass mit der Lust auch die Leistung ansteigt, erweist sich der Weg über Lust und Interesse als der direkteste zur Leistung.

Cut 15 Pirjo Linnakylä, 0´27

If your compare the results of Finnish and German students, how engaged they are, how often they go to the library, how many books and newspapers they read and how they feel about reading. Is reading enjoyable, or is it a waste of time. If you compare these results, you see that the Finnish students are much more and much more deeply engaged than the German students.

Sprecherin (overvoice):

Wenn man die Pisa Ergebnisse deutscher und finnischer Schüler vergleicht, hinsichtlich ihres Interesses, wie oft sie in Bibliotheken gehen, wie viele Bücher und Zeitungen sie lesen, und wie sie das Lesen empfinden, macht es ihnen Freude oder ist es für sie Zeitvergeudung, wenn man das vergleicht, sieht man, dass die finnischen Schüler mehr lesen und tiefer mit dem Lesen verbunden sind.

Sprecher:

Die Ergebnisse, an die Pirjo Linnakylä, die finnische PISA- Wissenschaftlerin erinnert, bestätigen, dass sich Lust und Leistung ergänzen und keineswegs – wie viele hier zu Lande immer noch glauben – so unvereinbar sind wie Feuer und Wasser. Andere PISA- Zahlen beweisen, dass sich die Förderung der Breite und eine starke Leistungsspitze keineswegs ausschließen, im Gegenteil.

Die finnische Doppelstrategie, Lernen zu individualisieren und zugleich die Gemeinschaft zu stärken, geht offensichtlich auf. Vertrauen wird belohnt. Dem Land gelingt der Übergang von einer bindungsstarken Agrargesellschaft in eine erfindungsreiche Wissensgesellschaft.

Sprecherin:

Die Schulpflicht endet in Finnland mit dem 16. Lebensjahr. 60% der Jugendlichen gehen dann weiter zum Gymnasium, der Oberstufe mit den Klassen 10 bis 12. In Deutschland sind es etwas halb so viele. Auch an Berufsschulen können die Finnen die Berechtigung zum Studium erwerben. An Gymnasien müssen sie sich bewerben, und die Schulen sind nicht verpflichtet jeden aufzunehmen, egal mit welchen Noten er kommt. Gymnasien stehen untereinander im Wettbewerb. Sie haben unterschiedliche Profile. Nicht alle genießen den gleichen Ruf.

Sprecher:

Finnland ist dabei, eine Lerngesellschaft zu werden. Dieses Ziel wurde 1995 sogar in die Verfassung aufgenommen. Eine dafür vom Parlament gesetzte Marke, 70% eines Jahrgangs soll studieren, wurde im Winter des Jahres 2002 fast schon erreicht.