Nach Pisa – die Zuknft der Schule (1)

Kein Platz für kluge Fragen?

Die deutsche Unterrichtskultur

Aus der Reihe: Nach PISA – Die Zukunft der Schule (1)

Autor: Reinhard Kahl

 

 

 

Atmo / Sprechchor:

„Neue Schulen braucht das Land. – Lernen ist einfach, wenn Schule Spaß macht….“ Sprechchor, etwas runter ziehen, bleibt im Hintergrund, darüber drei O-Töne:

O-Ton 1 (Baumert)

Man muss immer, vor allem wenn man nicht zur Topgruppe gehört, um den Klassenerhalt bangen und kämpfen.

O-Ton 2 (Piri)

Also, wir haben die Schulaufsicht, die Kontrolle, im Grunde genommen abgeschafft. Wir haben Zuversicht. Vertrauen, das ist unser Grundkonzept.

O-Ton 3 (kanadischer Lehrer)

We think, teacher as learner is the concept, children as learner is the benefit.Sprecherchor, kurz offen, darunter startet bereits der Musikakzent „…Stimmt das Klima, ist Schule prima….“ Musik (Instrumental Paraphrase aus Another Brick in the Wall, Pink Floyd), darüber: Musik (kurz offen, dann weg. Nicht verblenden. Eine Nanosekunde Ruhe.)

Sprecher:

Die PISA -Aufregung in Deutschland ist international ohne Beispiel. Die Studie erregt uns wie zuletzt nur der BSE Alarm. Aber die Aufregung über Bildung klingt nicht so leicht ab. Denn der Erreger sitzt nicht in den Hirnen einiger Rinder, die man schlachten und verbrennen kann. PISA ist der große Bildungs-Skandal-Erreger…

Sprecherin: .

..was sich ja auch mit BSE abkürzen lässt.

Sprecher:

Dieser Erreger sitzt im kulturellen Gedächtnis, wühlt es auf und irritiert es. Aber Irritation ist, wie der Soziologe Niklas Luhmann einmal bemerkte, die wichtigste Voraussetzung zum Lernen. Das gilt zumal für Institutionen und Kollektive. PISA hilft der Gesellschaft zu lernen.Bisher war man hier zu Lande zwar nicht davon überzeugt, dass unsere Schulen die freundlichsten wären, aber man glaubte doch, sie seien besonders leistungsfähig. Das kann nach den PISA-Ergebnissen niemand mehr behaupten. Unsere Schüler gehen mit wenig Lust in den Unterricht, und sie kommen häufig geschwächt wieder heraus. Die Diagnose auch anderer internationaler Tests zeigt:

Zitator:

Es mangelt deutschen Schülern an Basisfähigkeiten, und vor allem an selbständigem Denken.

Sprecher:

War Bildung „made in Germany“ vielleicht nur ein Erfolgsmodell der nun auslaufenden Industriegesellschaft?

Sprecherin:

PISA steht nicht allein. Schon bei TIMSS, der vorangegangenen internationalen Studie über Mathematik und Naturwissenschaften, zeigte sich, dass deutsche Schüler hinter den Spitzenreitern in Skandinavien und Ostasien um Schuljahre hinter hinken. Aber am stärksten irritiere der Befund:

Zitator:

„Je anspruchsvoller die Matheaufgaben werden, desto deutlicher treten die Schwächen der deutschen Schüler hervor.“

Sprecherin:

Und noch ein internationales Ergebnis, das allerdings bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde, muss verstören. Im Herbst 2001 wurde auch eine Studie über politische Bildung veröffentlicht. Sie heißt CIVIC. Danach sind unsere Schüler Weltmeister in der Xenophobie, in der Angst vor Fremden und in der Ablehnung von Fremdem.

Sprecher:

Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Befunden? Der Leistungsschwäche bei PISA; der Denkschwäche, die uns TIMSS, die Mathematikstudie attestierte; und schließlich der Demokratieschwäche und Fremdenangst, die CIVIC herausfand?

Regie: Musikakzent (Falco: Nie mehr Schule)

Cut 1:

(Deutsche Kinder in Finnland)(Mädchen)

Ich habe am Anfang auch gedacht, ich lerne hier vielleicht weniger, weil das hier viel einfacher war und viel netter und so.

Sprecherin:

Deutsche Kinder in Finnland.

Cut 2:

(Deutsche Kinder in Finnland)(Mädchen)

Ich weiß nicht, vielleicht ist es in den deutschen Schulen ein bisschen schwerer, weil die Lehrer viel strenger sind, oder so.(Junge)Die Lehrer sind in der finnischen Schule viel gelassener.(Mädchen)Genau.(Junge)Und auch viel netter. In der deutschen Schule haben die sich wegen jeder Kleinigkeit sofort aufgeregt und sind sofort an die Decke geflogen. – (Alle Lachen) (Mädchen)Unsere Mathelehrerin hier sagt, wenn ich rede müsst ihr leise sein und zuhören, wenn ich nicht rede, dürft ihr sprechen.

Sprecher:

Wie diesen Schülern, die für ein paar Jahre im finnischen Jyväskylä leben, geht es vielen Deutschen. Wir glaubten bisher an die Kausalität, unsere Schulen seien, weil weniger freundlich und schwerer als die in anderen Ländern, auch die anspruchsvolleren und leistungsfähigeren.Lust und Leistung scheinen in unserer Vorstellung nicht recht zusammen zu passen. In deutscher Tradition wird Lernen häufig wie eine bittere Medizin empfunden. Nach diesem Glauben steigt mit dem Bittergeschmack sogar die Wirksamkeit. Es gibt allerdings noch eine Steigerungsstufe dieses Missverständnisses:

Sprecherin:

Statt Wermutstropfen zu verteilen, dünne Limonade auszuschenken: also das strenge, überdisziplinierte und häufig misanthropische Schulsystem durch Luschigkeit und folgenlose sozialpädagogische Freundlichkeit vermeiden zu wollen.

Sprecher:

Die Wirkung von Bittermedizin und anspruchslosem Billiggesöff ist ähnlich: Schüler sind mit der Schule und ihrem Lernen wenig identifiziert. Ihr Lernen scheint nicht ihre eigene Sache. Sie wirken wie Untermieter in ihrer Welt. Es fehlt an gegenseitigem Respekt zwischen Schülern und Lehrern.

[OC: Vor allem fehlt es an jener Vorfreude auf sich selbst, die doch die Seele des Lernens sei, wie der Philosoph Peter Sloterdijk meint. Stattdessen, so formuliert der Meister des philosophischen Aphorismus…

Zitator:

„… verlassen Schüler in Deutschland ihre Schulen wie Landsknechte eine aufgelöste Armee.“ Ende OC]

Sprecher:

Zwischen Pisa und Erfurt haben wir in Deutschland viele Gründe, Verwahrlosung zu konstatieren. Das betrifft die Leistungen ebenso wie das Verhalten. Wir waren die Weltmeister der Industriegesellschaft. Sie setzte auf Disziplin, Belehrung – und im Zweifelsfall auf Misstrauen.

Sprecherin:

Die Wissensgesellschaft, auf die wir zu steuern, ist auf Selbstorganisation, Lernen und im Zweifelsfall auf Vertrauen angewiesen. Darin sind wir noch schwach.

Zitator:

„Und welches Bild soll ich jetzt malen?“

Sprecher:

In Schülerfragen dieser Art entblößt sich unsere Lernkultur, die auf Vorgaben, Außensteuerung und detaillierte Pläne setzt. Schüler und Schulen hängen an Marionettenfäden. Diese Kultur reicht von Ministerien bis in den Alltag des Unterrichts. Ministerien schreiben – anders als in anderen Ländern – in umfangreichen Lehrplänen den Unterricht vor und halten für alle Eventualitäten Vorschriften bereit. Kein Wunder, dass die gegängelten Lehrer ihren Schülern zu wenig Selbständigkeit zubilligen. Diese Außensteuerung ist eine Grammatik des Systems.

Sprecherin:

Deutsche Lehrpläne, diese dicken Bände, sehen respekterheischend aus, zumal wenn man sie mit den Broschüren in Norwegen oder Schweden vergleicht, oder mit dem knapp 100 Seiten dünnen Heft aus Finnland, in dem alles steht, was der Staat an Ergebnissen von allen Schulstufen erwartet. Die deutschen Wälzer dokumentieren hohe und allerhöchste Ansprüche. Tatsächlich ist es so, dass die detaillierten Lehrpläne hier zu Lande von Lehrern kaum gelesen werden. So machen die dicken Pläne ein doppelt schlechtes Gewissen. Hingegen werden die verständlichen und knapp gefassten Schriften, in denen die erfolgreichen PISA-Staaten ihre Erwartungen an Schulen formulieren, sogar von Eltern gelesen.

Sprecher:

So ist es häufig. Anderswo hängt die Latte niedriger als bei uns. Aber fast alle bemühen sich, drüber zu springen. In Deutschland wird die Latte häufig so hoch gehängt, dass es viele vorziehen, lieber unter ihr durch zu laufen. Übrigens gibt es in Skandinavien die Tradition eines vom Volk erkämpften Schulrechts, während uns noch die obrigkeitsstaatlich diktierte Schulpflicht in den Knochen steckt. Auch das ist Teil des kulturellen Gedächtnisses, das in jeder Schulstunde wirkt: ist es unsere Schule oder die von denen da oben?

[OC: Sprecherin: Es liegt auf der Hand: Mindestansprüche zu formulieren, die zudem von allen geteilt werden, macht weniger Druck und ist wirkungsvoller, als mit höchsten Ansprüchen zu imponieren und sich dabei zugleich über die eigenen Möglichkeiten zu täuschen. Ende OC]

Sprecher:

Wohin man blickt, in die Wirtschaft, in die Wissenschaft oder eben in die Bildungseinrichtungen: die Steuerungszentralen müssen Macht abgeben. Zentralen können nur wenige Züge vorausplanen, wie ein Schachspieler. Auch der beste Spieler übersieht kaum mehr als drei Züge. Hinter diesem Horizont entsteht Zukunft, das Neue und das Unbestimmte. Deshalb muss dauernd beobachtet, unterschieden und neu entschieden werden, und daran müssen alle mitwirken. Wie lernt man das? Wie wird eine Atmosphäre für Selbständigkeit und für Kooperation angesetzt?

Regie: Musikakzent (Kronos)

Sprecher:

Wenn sich nun die alte Grammatik der Außensteuerung auflöst, aber für eine Innensteuerung noch das Selbstvertrauen und die Übung fehlen, dann kommt Verwahrlosung auf.

Cut 3: (Jorma Ojala)

Die Kinder sind wie ein Spiegel…

Sprecherin: .

.. sagt der finnische Erziehungswissenschaftler Jorma Ojala.

Cut 4: (Jorma Ojala)

Wenn die Lehrer sie nicht achten, achten die Kinder die Lehrer nicht. Früher dachte man, dass die Kinder (uns Lehrer) zu verstehen haben. Es ist ganz umgekehrt: Lehrer haben die Kinder zu verstehen.

Zitator: „Im Grund geht es in aller Pädagogik um das Generationenverhältnis….

Sprecher:

… sagt der Nestor der deutschen Pädagogik, Hartmut von Hentig.

Cut 5 (Baumert)

Also ich unterrichte gelegentlich auch an zwei Schweizer Universitäten und ich habe auch unsere deutschen Videos mitgebracht und dann Schweizer Lehrern vorgeführt. Und die erste Reaktion, als sie unsere Stunden gesehen haben war: das ist ja unglaublich.

Sprecher:

Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, auch „Mister PISA“ genannt. Der Erziehungswissenschaftler ist der wissenschaftliche Chef der PISA-Studie in Deutschland.

Zuvor hatte er den internatonalen Mathematik- und Naturwissenschaftsvergleich, die TIMSS-Studie für Deutschland geleitet. Baumert berichtet von der Reaktion Schweizer Pädagogen auf deutsche Unterrichtsvideos.

Cut 6 (Jürgen Baumert)

Ich dachte: Was ist denn da unglaublich? Da sagen sie: Na, der Umgangston. Das sind ja permanent kränkende Bemerkungen seitens der Lehrkräfte. Für die war es so unglaublich, diese kleinen Abfertigungen: „schon wieder der Fehler“, „das habe ich doch schon viermal gesagt“, die Anmache, oder auch das Anbiedern: „ach komm schon, das weißt du doch,“ wenn man die richtige Antwort haben will. Das ist ein Umgang, der für die Schweizer einerseits wirklich abwertend ist und andererseits distanzlos ist. Man kommt den Schüler/innen zu nahe, indem man sich anbietet als Partner. Auf beides reagieren die hochsensibel, und so etwas sieht man in der Schweiz in der Tat nicht.

Sprecher:

Jürgen Baumert hat in Videostudien den Mathematikunterricht in Deutschland, Japan und den USA verglichen.

Auch bei der kommenden zweiten Staffel der PISA-Studien, die im Frühsommer 2003 erhoben wird, steht Mathematik im Zentrum. Dabei geht es den PISA-Forschern nicht ums bloße Rechnen. Mathematik wird vielmehr als eine Sprache gesehen, die Verstehenshorizonte öffnet und zum Umgang mit Modellen befähigt. Schon bei seinen bisherigen Vergleichen des Mathematikunterrichts fiel Jürgen Baumert auf, wie starr und häufig hart der Matheunterricht in Deutschland ist. Das wird besonders am Verhältnis zum Fehler deutlich. Der Fehler ist eine Art Lackmustest auf den Geist der Schulen. In Deutschland, anders als in anderen Ländern, agieren viele Lehrer als eine Art „Fehlerinquisition“.Das ist in der Art, wie bei uns unterrichtet wird, tief verankert. Auch in anderen Fächern. Dieser Unterricht ist nicht bloß eine schulische Methode, er ist Teil der Kultur. Am Mathematikunterricht wird dieses Initiationsritual ins Denken am deutlichsten. Entnehmen wir eine Gewebeprobe:

Cut 7 (Jürgen Baumert)

Der deutsche Unterricht beginnt: die ersten fünf Minuten werden die Hausaufgaben kurz vorgestellt, noch mal kurz wiederholt, und dann wird ein neues Thema eingeführt, in einem sehr kurzschrittig, fragend entwickelnden Unterricht. Der Lehrer hat ein Ziel vor Augen. Und in einem sehr geschickten Verfahren bringt er die Schüler dazu, dass sie dem Beweis folgen und nach 20 Minuten beim Ergebnis sind. Das ist so wie ein Trichterverfahren, von einer sehr weiten Frage führt man es immer enger, konvergent, bis die Lösung, die Routine an der Tafel steht oder in den Heften der Schüler. Und dann folgt eine kurze Phase, wo noch eine Übungsaufgabe gemeinsam durchgerechnet wird und dann gibt’s die Stillarbeit, wo sehr ähnliche, häufig nicht abgestufte Aufgaben gelöst werden, das ist eine typische deutsche Stunde.

Sprecher:

Dieser Unterricht stimuliert Schüler nicht zum Denken, er ermuntert sie schon gar nicht, sich auf das unsichere Feld von Problemlösungen wagen. Es ist immer wieder dasselbe: Kluge Fragen stören den vorprogrammierten Unterrichtsablauf und müssen abgebügelt werden. Was wiederum zu Frustrationen bei den Schülern führt. Die Folge: Selber denken lohnt sich nicht. Schüler gewöhnen sich an, zu erahnen, manchmal auch nur zu raten, was der Lehrer wohl meint. Jürgen Baumert fasste diesen Habitus einmal auf einem Kongress in einer Anekdote zusammen:

Zitator:

Der Lehrer stellt mit dienstlich routinierter Stimme folgende Matheaufgabe: Ein Schafhirte hat 50 Schafe und vier Hunde! Wie alt ist der Schäfer? Die Antwort, die der Lehrer bekommt, heißt zumeist 54 oder 46. Wenn der Lehrer fragt, warum, sagen die Schüler, das hängt davon ab, ob man abzieht oder zuzählt.

Cut 8 (Baumert)

Es ist eine ganz bestimmte Auffassung von Mathematik, nämlich es gibt eine Lösung und es gibt einen Weg, der optimal ist, und den versucht man zu finden. Für Schüler gibt es wenig Ausfluchtmöglichkeiten in diesem Gespräch; es sind kurze Äußerungen, es gibt keine zusammenhängenden Sätze von Schülern, mehrere schon gar nicht, aber auch der Lehrer hat sehr knappe Fragen. Wir haben zum Beispiel in keiner der deutschen Stunden Lehreräußerungen gefunden, die länger als eine Minute waren. Also den Lehrervortrag, den man Lehrern immer unterstellt, den gibt es im Mathematikunterricht praktisch nicht. Es sind sehr knappe, gezielte Äußerungen. Wenn es gut gemacht ist, ist es ’ne ganz bestimmte hohe Kunst, die zu mittelmäßigen Mathematikergebnissen führt.

Sprecher:

Die Schüler spekulieren auf das fertige Ergebnis, oder auf die routinierte Operation. Sie wollen nachahmen. Wenn es hoch kommt, wollen sie anwenden. Das Gespräch im sogenannten „fragend entwickelnden Unterricht“ ist ein Pseudogespräch: Der Lehrer weiß ja alles immer schon. Es stellt Fragen zum Schein.

Auch Deutschlehrer fragen: Was meint der Dichter – und denken dabei häufig nur an ihre Interpretation.

[OC: Im naturwissenschaftlichen Unterricht, auch das zeigen Studien, sind Experimente in deutschen Klassen selten. Das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel hat deshalb für Jugendliche, die am Wettbewerb „Jugend forscht“ teilnehmen, Trainingskurse angeboten, damit sie die im Unterricht eingeübte, wenig forschende Haltung wieder verlernen. Ende OC]

Die Schüler glauben, funktionieren zu sollen, und spielen dieses Spiel mit – im Laufe der Schulzeit mit nachlassender Beteiligung. Zum Schluss würden sie sogar das Telephonbuch auswendig lernen, wenn man das von ihnen fürs Abitur verlangte – und dieses Wissen natürlich nach dem Abitur sofort wieder vergessen. Ganz anders läuft der Unterricht in japanischen Schulen, die in der Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie TIMSS, wie auch jetzt bei PISA, sehr gut abschnitten.

Sprecherin:

Videos aus dem Mathematikunterricht in Japan zeigen eine Unterrichtskultur, die auch Jürgen Baumert zunächst nicht erwartet hatte. Der Lehrer fordert die Schüler auf:

Cut 9: (Baumert)

Findet so viele Lösungen wie möglich. Nicht eine Lösung, sondern das Problem hat viele Lösungen, die unterschiedlich sind, jede Lösung hat Vorteile, hat Nachteile, wir wollen versuchen so viele Lösungen wie möglich zu finden. In dieser Zeit geht dann der Lehrer durch die Reihen und guckt den Schülern über die Schulter. Also viele Lösungen, die üblicherweise kommen, hat er in seiner Unterrichtsvorbereitung stehen. Und er spricht dann mit Schülern, gibt nie Lösungen oder Ergebnisse vor, sondern regt Denken an; wenn einer nicht weiter kommt, stellt er `ne Frage, die zu der einen oder anderen Lösung führen kann, aber er formuliert das Problem eher neu, als dass er das Ergebnis mitteilt.

Sprecher:

Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten in Japans Klassen als interessant, manchmal sogar als interessanter als der routinierte, erfolgreiche Weg. Es wird deutlich: Mathematikunterricht an Schulen ist keine rein neutrale, kognitive Übung. Mathe-Unterricht ist die Einführung in eine Denkweise, ja, er ist ein geistiges Initiationsritual. Hier werden nicht nur die Synapsen jedes einzelnen Schülers geformt, hier werden auch die Muster des kulturellen Gedächtnisses immer wieder neu gewoben.

Sprecherin:

Herbert Pietschmann, Professor für theoretische Physik in Wien, ist bei einer kleinen Rechenaufgabe in Japan an die Grenzen abendländischer Schulweisheit geraten. Sein Gesprächspartner zählte auf, welche Religionsgruppen es in Japan gibt:

Cut 10: (Pietschmann)

Da hat er gesagt: `In Japan gibt es Christen, das ist ein kleinerer Teil von ungefähr 10% und dann ungefähr zwei Drittel Buddhisten und zwei Drittel Schintoisten.‘ Da hab ich gesagt: `Ein Drittel!‘ Da hat er gesagt: `Nein, zwei Drittel!‘ Dann sagte ich, `dann war das vielleicht vorher ein Drittel.` Dann hat er gesagt, `nein zwei Drittel.‘ Dann hab ich gesagt, `dann geht es aber nicht auf‘, da sagt er: `eben‘. Diese Geschichte soll das verschiedene Denken demonstrieren.Bei jedem Japanaufenthalt hab ich bisher ein ähnliches Erlebnis gehabt. Dass Japaner irgendwann sagen, das ist das, was Abendländer so schwer verstehen, dass ein Japaner, der sagt, ich bin Schintoist, damit nicht sagt, ich bin kein Buddhist, weil dieses Entweder-Oder eben nicht gilt.

Sprecherin:

Ein Japaner kann sagen, ich bin erstens Buddhist, zweitens Schintoist, drittens Christ, viertens Liberaler, fünftens…

Sprecher (fällt ins Wort):

Da würde man in Deutschland längst sagen, für solche Leute haben wir ganz bestimmte Häuser – Irrenhäuser.Unsere monotheistische Tradition, der Glaube an den einen Gott, scheint in der Schule eine triviale Radikalisierung finden: habe keine andere Lösung neben mir.

[OC: Cut 11: (Pietschmann)

Ich habe einmal mit einem japanischen Kollegen darüber gesprochen und der hat gesagt, ein japanischer Lehrer würde nicht auf die Idee kommen, Hausaufgaben zu stellen, bei denen es nur eine einzige Lösung gibt.Ende OC]

Sprecher:

Wenn japanischer Unterricht auch sehr gleichförmige Seiten hat – so ruht er doch auf kulturellem Urgestein, das in sich vielfältiger ist als der Fels, auf den unsere Kultur gebaut ist.

Cut 12: (Koji Suda)

Japanische Kollegen machen erst mal Kontakt mit dem Schüler. Fachkenntnisse und so weiter kommt später. Erst mal muss man Kontakt haben, gut Freund oder Bekannte: macht besser lernen kann.

Sprecher:

Koji Suda ist Mathematiklehrer an einer japanischen Schule in Deutschland. Wer ihn hier besucht, ist erstaunt über die Disziplin und verwechselt sie zunächst mit Drill, vielleicht weil wir uns Disziplin zunächst als Außensteuerung und nicht als eine Haltung gegenseitiger Achtung vorstellen. Und dann wundert sich der Besucher, wie häufig er in der japanischen Schule das Wort „vielleicht“ hört.

Cut 13 (Koji Suda)

Die Europäer – es muss man immer ja oder nein sein. Japaner sind manchmal „ja“, aber „nein Tendenz inklusive“, plus minus irgendwie, läuft (Lachen)

Sprecher:

Dieser japanische Möglichkeitssinn erinnert die Schüler daran, dass wir es immer mit Modellen zu tun haben, die nie so ganz aufgehen. Die Modelle werden nicht als die eine und einzige Möglichkeit indoktriniert, sondern als ein Modus von mehreren geübt.Jürgen Baumert und andere Japanreisende sind von der Kultur dieses Übens überrascht.

Cut 14 a (Baumert)

Also eine außergewöhnlich kultivierte Form intelligenten Übens im japanischen Unterricht. Beides, eine Kultur der Aufgabenstellung, in 50% des Unterrichts, den wir gesehen haben, gab es immer mehrere Lösungen. Die sind bewusst ausgewählt, die Aufgaben. Das Unterrichtstempo ist zügig, es wird keine Zeit verschwendet, aber das Interaktionstempo ist viele langsamer als bei uns. Die Schüler haben mehr Zeit.

Cut 14 b (Koji Suda) (verblendet mit oben)

Das geht nicht in europäische Methode, immer so kreisen und das finden Schüler gut. Sie können ohnehin nicht mehr als 3 Minuten intensiv denken. Deswegen immer lockern und dann wieder stärker.

Sprecherin: Das gute Abschneiden japanischer Schüler in den harten Leistungstests….

Sprecher: … sie sind, wie gesagt, den deutschen Schülern um mehrere Schuljahre voraus …

Sprecherin: .

.. wird für unsere Ohren noch rätselhafter, wenn wir von Jürgen Baumert hören:

Cut 15 (Baumert)

Die Japaner kennen Differenzierung nicht, sie haben die ganze Jahrgangsgruppe undifferenziert bis Ende der 9. Klasse in einem Klassenraum beieinander. Es ist eine radikale Gesamtschule, mit einem ganz geringen Sonderschüleranteil, der liegt bei 1,5% oder 1,9%.

Sprecherin:

In Deutschland gehen fast 5 Prozent der Kinder in Sonderschulen.Und noch etwas irritiert: oftmals sitzen in Japan mehr als 40 Kinder in einer Klasse.

Sprecher:

Internationale Studien und auch Untersuchungen in Deutschland haben gezeigt:

Zitator:

Weder auf die Klassengröße noch auf die Menge des erteilten Unterrichts kommt es an.

Sprecher:

So konnte die Rheinland Pfalz durchgeführte Studie MARKUS über den Matheunterricht keinen Einfluss des Unterrichtsausfalls auf die Schülerleistungen feststellen. Die im Unterricht eingeübte Denkweise ist wichtig. Es kommt mehr auf das Wie des Unterrichts an als auf die Menge der Stunden.

[OC: Sprecherin:

Weshalb vor Jahren, als nach dem schlechten deutschen Abschneiden bei TIMSS Politiker sofort mehr Mathematikunterricht forderten, Jürgen Baumert antwortete:

Zitator:

Weniger schlechter Matheunterricht ist besser als mehr schlechter Matheunterricht. Ende OC]

Cut 16 (Baumert)

Die Vorstellung, dass wir Denkgebäude aufbauen, auch die Wirklichkeit konstruieren, je nachdem, welches Vorverständnis wir wählen, das ist immer noch wenig verbreitet, vor allem auch in den Naturwissenschaften. Es geht um die richtige Formel, die eine Lösung, die man dann anwenden kann. Dass es viele Wahrheiten geben kann, auch in den Naturwissenschaften, je nachdem sich Sichtweisen ändern, in den Genuss kommen eigentlich nur Schüler in sehr gutem Physikunterricht der Oberstufe.

Sprecher:

Seit PISA weiß in Deutschland jedermann, wie schlecht unsere Schüler im internationalen Vergleich stehen. Aber wir sind geneigt, zu sehr auf die Ergebnisse zu blicken und dabei aus den Augen zu verlieren, was zu den schlechten Ergebnissen führt. Manchmal erinnern die Deutschen an einen Kapitän, über den sich Mark Twain lustig machte. Der handelte nach dem Motto:

Zitator:

„Wenn wir das Ziel aus den Augen verloren haben, verdoppeln wir unsere Anstrengungen.“

Sprecher:

An Angestrengtheit fehlt es uns nicht. Eher an der Gelassenheit, die wir von Finnen und Japanern lernen können. Aber dieser Lektion trauen die Deutschen nicht. Der Mathematikdidaktiker Michael Neubrand – er ist der Mathematik-Chef im PISA-Konsortium – erlebt nach PISA vor allem Reaktionen der Mark Twain’schen Art.

Cut 17: (Neubrandt)

Eine Reaktion, stand in einer Zeitung, jetzt ist es aus mit der Spielpädagogik und es muss eine ernsthafte Pädagogik kommen. Im Hintergrund schwingt mit, jetzt muss wieder richtig gepaukt werden. Das ist gerade kontraproduktiv. Gerade der spielerische Zugang kann intellektuell hoch anregend und hoch wichtig sein. Der Gegensatz ist nicht hier spielerische Pädagogik und da Leistungspädagogik, der Unterschied ist Leistungspädagogik eingeschränkt, versus Leistungspädagogik mit offenen Augen und offenen Sinnen und mit allen Sinnen, das ist die eigentliche Polarität, in der sich das abspielen muss.

Sprecherin:

Fehler machen dürfen, das wären für die PISA-Wissenschaftler Neubrandt und Baumert die Lehre aus der Studie.

[OC: Deswegen kommt in jedem Vortag von Jürgen Baumert, den er seit der Veröffentlichung der PISA- Studie hält, dieser Satz vor:

Zitator:

„Im Deutschen Unterricht stören immer zwei Sorten von Antworten, die intelligente Antwort, die vorgreift und beiseite geschoben werden muss, und der Fehler.“

Sprecher:

Von Japan lässt sich nicht nur Fehlerkultur lernen. In den vergangenen Jahren wurde dort in den Schulen gegen großen Wiederstand besorgter Eltern die Pflichtstundenzahl reduziert, um mehr Freiräume zum selbständigen Lernen zu schaffen. Das neue Bildungsprogramm in Japan heißt „Würze fürs Leben.“ Und das Salz des Lebens und des Lernens ist der Fehler. Ende OC]

Cut 18: (Baumert)

Wenn ein Individuum Fehler macht, da ist immer noch was Richtiges dran, und der versucht, seinen besten Beitrag zu geben. Das ist die eine Seite, sozusagen die Seite der Akzeptanz. Sie nutzen Fehler teilweise, um sie bis zum Ende durchzuspielen, um dann zu gucken, was sind denn die Folgen, wenn wir dich mal ernst nehmen, kann das richtig sein und dann gibts ’nen neuen Ansatz. Bei uns geht’s eher: schelle Korrektur durch den Lehrer oder, was noch schlimmer ist, der nächste Schüler wird gefragt, dann kommt die richtige Lösung, sieht man in Japan seltener.

Sprecher:

Der Mathematiker Michael Neubrandt und seine Kollegen bereiten in diesen Wochen den nächsten PISA-Test vor, in dessen Zentrum die Mathematik stehen wird. Der erste PISA-Durchgang, dessen schlechte Ergebnisse uns immer noch beschäftigen, hatte ja auf das Lesen fokussiert.

Sprecherin:

Aber so wenig es beim Lesen ums Buchstabieren von Texten ging, wird es bei PISA 2003 nicht bloß um die Beherrschung der Grundrechenarten oder die Beherrschung von Sinus-Kurven gehen. PISA – und das ist neu – testet eben nicht den Stoff von Lehrplänen, sondern überprüft erstmals, was Schüler fürs Leben brauchen: Literacy. Das Wort steht für das Konzept einer modernen Schule, in der es um die Lesbarkeit der Welt geht. PISA kommt es auf Verständnis an, auf die Fähigkeit, sich im Alltag zu orientieren und vor allem handeln zu können. Das zeigt sich am deutlichsten an einem modernen Mathematikverständnis, dem es eher um die Bildung von Modellen und Lösungsstrategien geht, als um das Verfolgen eingespurter Wege.

Sprecher:

Aber wenn Professor Neubrandt diese Tage durch deutsche Klassen geht, findet er von diesem modernen Mathematikverständnis, das sich in vielen Ländern bereits durchgesetzt hat, noch wenig.

Cut 19: (Neubrandt)

Die meisten Schulbesuche, die ich mache, zeichnen sich dadurch aus, dass es schlicht und ergreifend langweilig ist, unterfordernd, nicht herausfordernd. Und dann wird’s auch nicht mehr lustig und es wird auch nicht mehr freudig und der Spaß ist weg, ja.

Die Tatsache, dass eine Aufgabe vielfältig lösbar, erhöht die Schwierigkeit ganz gewaltig. Allein de Tatsache, dass vielfältige Lösungen möglich sind, und der Ansatz nicht von vornherein fest steht. Also all das sind Gedanken, die in diese Richtung laufen, wir müssen einfach in den Unterricht anspruchsvollere Aufgaben hinein bringen, und die in einer Form hinein bringen, die die Selbsttätigkeit der Schüler stärkt. Nicht vormachen, es gibt drei Lösungen, sondern selber finden lassen: der hat dieses gefunden, er hat das gefunden, wie hängt das zusammen, ist das unterschiedlich, ist das gleich? Auf der Basis von Selbsttätigkeit kann das nur entstehen.

Das bildet Strukturdenken aus, jedenfalls für die Mathematik gilt das, ohne Strukturdenken gibt’s keine Mathematik

 

Sprecher:

Deutsche Schüler versagen in Mathematik, sobald sie in Alternativen denken sollen. Im maschinenhaften Ausführen sind sie noch ganz gut. Wenn es aber darum geht, sich mehrere Lösungsmöglichkeiten vorzustellen – man könnte auch sagen, wenn Freiheit, Selbständigkeit und Phantasie gefragt sind – dann brechen sie ein.

Lernen ist ein geistiger Vorgang. Das hört sich vielleicht banal und etwas vorgestrig an, und dass dies alles eine Frage von Mentalität und Kultur ist, klingt erneut nach Ausrede. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass das Nervensystem der Bildung, vom einfachen Lernen bis hin zum komplexen Verständnis, zwischen den Menschen verläuft und nicht im Versorgungsschacht der Institutionen. Diese Nerven werden aus drei Grundstoffen gebildet: Vertrauen, Stolz und gegenseitiger Anerkennung. Sie ermöglichen den Dialog, also den dauernden Wechsel im Status: mal Sender, mal Empfänger sein. Die Frequenz dieses Wechsels ist ein Maß für die Intelligenz von Organisationen. Und diese dialogische Frequenz ist im System Deutschland bisher schwach.

Sprecherin:

Aber, so möchte man einwenden, wenn diese Diagnose stimmt, dann müssten bei uns die Wirtschaft und auch das geistige Leben noch mehr am Boden liegen als ohnehin. Nein. So schlecht könne unsere Schulen und die Jugendlichen, die sie verlassen doch nicht sein?!

Sprecher:

Ja und nein.

Seit vielen Jahrzehnten beobachtet die Psychologie einen kontinuierlichen Anstieg der Intelligenz bei Jugendlichen, den sogenannten Flynn-Effekt. Er wird auch in Deutschland gemessen. Das Ergebnis könnte beruhigen, wenn es nicht noch einen zweiten Wert gäbe, auf den Jürgen Baumert hinweist.

Cut 20: (Baumert)

Die Kinder, von der intellektuellen Kapazität her legen sie zu. Das hat viele Ursachen, unter anderem die anregungsreichen Umwelten, auch in sozial schwächeren Familien. Wenn wir die Leistungsentwickelung angucken, wir haben für das Gymnasium Vergleiche von 1968 an aus unserem Institut, dann haben wir einen Abfall der Leistung bei gleichzeitig ansteigender Intelligenz. Das ist das eigentliche Problem.