Macht bloss keine Fehler WDR

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Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder

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Ein Feature von Reinhard Kahl

MACHT BLOSS KEINE FEHLER !

Warum deutsche Schulen nur mittelmäßig sind

Eine Feature von Reinhard Kahl

1. Sprecherin

Ein Grundschullehrer in Ahrensburg bei Hamburg fällt über einen seiner

Schüler das Urteil:

1. Zitator

Andreas ist nicht für das Gymnasium geeignet.

2. Zitatorin

„Das ist kein Gym-Kind!“

1. Sprecherin

sagt man in Hamburg.

2. Sprecher

Darin war sich der Lehrer ganz sicher. Kein Gym Kind. Und diese

Geschichte wäre schon zu Ende, beziehungsweise eine von

Hunderttausenden ähnlicher Schulgeschichten, die vom frühen Versagen,

von Beschämung und Entmutigung erzählen, hätte der Schüler Andreas

nicht einen Professor zum Vater gehabt. Professorenkinder kommen in

Deutschland immer zum Gymnasium, fast immer – oder zur Waldorfschule.

So auch Andreas. In der Waldorfschule lernte er die Geige zu lieben,

begeisterte sich für Musik, spielte im Ahrensburger Jugendorchester. Die

Musik entzündete ihn. Der Funke sprang vom Leiter des Orchesters auf

ihn über. Aus dem schüchternen, zurückhaltenden Jungen wurde ein

1

WDR 3 DISKURS, 07.12.2004

Macht bloß keine Fehler!

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Ein Feature von Reinhard Kahl

neugieriger. Er nahm am Wettbewerb „Jugend forscht“ teil und wurde

Bundessieger. Dann machte er Abitur. Mit 1,0.

Er studierte Mathematik und Physik in Hamburg und setze das Studium in

Australien fort. Dort spezialisierte er sich auf ausgeklügelte Verfahren der

Statistik. Er kam mit Forschern in Kontakt, die an einer internationalen

Studie über Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften

arbeiteten, der so genannten TIMS-Studie und erwarb sich dabei erste

Meriten.

Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und

Entwicklung, ein Zusammenschluss der 30 stärksten Industrieländer, wurde auf

ihn aufmerksam und engagierte ihn für ihre Abteilung, die Bildungsindikatoren

errechnet. 1995, nach einer internationalen Bildungskonferenz, traf der neue junge

Mann für Statistik im Fahrstuhl der Pariser OECD Zentrale auf Tom Alexander,

damals Direktor des Education Department der Organisation.

1. Zitator

„Die reden viel, aber was passiert in Schulen eigentlich wirklich?“

1. Sprecherin

fragte der Direktor.

1. Zitator

„Kriegt man das denn irgendwie raus?“

2. Sprecher

Am Wochenende darauf setzte sich der neue Mitarbeiter an den Computer und

entwarf Grundzüge des „Programme for International Student Assessment“, kurz:

Pisa.

1. Sprecherin

2

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Ein Feature von Reinhard Kahl

Andreas heißt mit Nachnamen Schleicher. Mann nennt ihn auch Mister Pisa.

Heute ist er der internationale Koordinator dieses größten Schülertests aller

Zeiten.

2. Sprecher

Bei der ersten Pisa Studie hatte Schleicher im Jahr 2001 die deutschen Ergebnisse

noch einmal nachrechnen lassen. Ihn erstaunte nicht, dass in Deutschland die

schwächeren Schüler schlecht abschneiden. Das, so vermutete er, sei

unvermeidlich in einem gegliederten Schulsystem, das die besseren von den

schlechteren Schülern trennt. Aber er konnte zunächst nicht glauben, dass auch

die Leistungsspitze, so schlecht abschneidet, denn die hat in Deutschland ja

anders als anderswo ihre eigene Schule. Das Gymnasium. Jetzt bei der zweiten

Pisa Studie…

3. Sprecher

… die Studie kommt nun alle drei Jahre…

2. Sprecher

… jetzt also, beim zweiten Durchgang, wundert sich Schleicher nicht mehr. Im

Gegenteil. Je feiner die erhobenen Daten sind und je genauer sie untersucht

werden, desto deutlicher tritt für ihn das deutsche Bildungsproblem hervor

Cut 1 Andreas Schleicher:

Wenn sie sich die Leistungen im Bereich Naturwissenschaften ansehen, da

könnte man sagen: na ja, gut, mit dem Bereich können wir leben. Aber was ist,

wenn die Schüler am Ende ihrer Schulzeit sagen: ich habe jetzt

Naturwissenschaften gemacht und damit will ich nie wieder etwas zu tun haben

in meinem Leben? Ein großer Teil dieser Schüler ist total demotiviert, da haben

wir zwar das Wissen noch vermittelt, aber die Fähigkeit, die Motivation dieser

Menschen, weiter zu lernen, im Leben ihre Kompetenzen auszubauen, die

haben wir unzureichend gefördert.

2. Sprecher

3

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Die von Andreas Schleicher konzipierte und geleitetet Studie erschöpft sich ja

keineswegs im Aufstellen einer Weltliga der Schulen, in der Deutschland der

Anschluss an die Spitze nicht gelingt. Die Pisa Studie gibt Einblicke in das, was

Bildung ausmacht. Getestet werden die 15jährigen. Sind sie vom Lernen

begeistert oder werden sie ausgerechnet durch die Schule gleichgültig gemacht?

Können sie Probleme lösen und mit ihrem Wissen etwas anfangen, oder bedienen

sie nur mehr oder weniger widerwillig den Schulbetrieb?

Cut 2 Andreas Schleicher:

Entscheidend ist, wie gut können junge Menschen, wenn sie in den Beruf kommen,

Wissen anwenden, / kreativ neues Wissen schaffen, / inwieweit können sie Probleme

lösen. /Inwieweit können wir miteinander arbeiten./ Heute kommen sie alleine nicht

weiter, heute kommt es sehr darauf an, wie gut wir miteinander lernen, miteinander

arbeiten können, also auf interpersonelle Kompetenzen, die wirklich viel weiter gehen

als einfache Kommunikation. / Es reicht heute nicht mehr, die Leute mit Lernen zu

füttern, wenn sie dann nicht weiter motiviert sind.

2. Sprecher

Deshalb untersucht Pisa nicht das Schulwissen. Die Studie ist nicht wie ein

Wissenstest oder wie eine Klassenarbeit konzipiert. Sie fragt nach den

Kompetenzen, nach dem Umgang mit Wissen.

1. Sprecherin

Nun bestätigt auch die zweite internationale Pisa Studie für Deutschland das

enttäuschende Bild. Diesmal nahmen 41 Nationen teil. Im internationalen Ranking

sind es allerdings nur 31 Industriestaaten.

3. Sprecher

Deutschland erreicht im Vergleich zu den Ergebnissen von vor drei Jahren geringe

Verbesserungen. Sie gehen offenbar auf das Konto erhöhter Anstrengungen bei

den Kindern aus den Mittelschichten. Deren Eltern wurden vom Pisa-Schock

besonders irritiert. In Deutschland investieren sie inzwischen mehr als zwei

Milliarden Euro jedes Jahr in Nachhilfe.

2. Sprecher

Aber die deutschen Schulen bleiben zweitklassig. Ein Maßstab ist, wie gut sie die

schwächeren Kinder fördern und wie sehr sie die leistungsstarken dazu

anspornen, so gut wie möglich zu werden. In beidem sind sie schwach. Vor allem

ein Versagen ist skandalös:

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WDR 3 DISKURS, 07.12.2004

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1. Sprecherin

Die deutschen Schulen entlassen fast ein Viertel der Schüler in eine neue

Unterschicht von Bildungsarmen. Das sind 15jährige Schüler, die allenfalls das

Niveau von Grundschülern erreichen. Sie haben Schwierigkeiten beim Lesen

einfacher Texte und mit den Grundrechenarten. Die Studie nennt sie eine

„Risikogruppe.“ Der Übergang zur Arbeitswelt ist bei diesen Schülern gefährdet.

Diese Gruppe, wie gesagt, fast ein Viertel der Jugendlichen, ist im internationalen

Vergleich besonders groß.

3. Sprecher

Auch die Schere zwischen Schulen mit besseren und mit schlechteren

Ergebnissen geht in Deutschland besonders weit auseinander, ohne dass die

besseren deutschen Schulen, also die Gymnasien, im internationalen Vergleich

hervorstechen würden.

1. Sprecherin

Die geringe Wirksamkeit deutscher Schulen zeigt sich auch in einem weiteren

Befund der Studie:

3. Sprecher

In keinem vergleichbaren Land hängt der Schulerfolg der Kinder so sehr von

Einkommen und Bildung der Eltern ab, wie in Deutschland. Bei gleichen

Testwerten hat in Deutschland ein Kind von Akademikern eine drei Mal größere

Chance das Abitur zu machen, als ein Kind von Facharbeitern.

2. Sprecher

Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das System ist sozial

ungerecht. Und die Schulen sind offenbar auch nicht sehr anspruchsvoll.

1. Sprecherin

In Mathematik sind die Leistungen deutscher Schüler bei Routineaufgaben

noch über dem internationalen Durchschnitt. Sie fallen allerdings ab, sobald die

Aufgaben anspruchsvoller werden.

3. Sprecher

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Den deutschen Schüler mangelt es an Selbständigkeit, Zusammenarbeit und

Freude am Lernen.

2. Sprecher

Andere Untersuchungen, etwa aus dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung,

zeigen allerdings, dass die Intelligenz der Schüler steigt. Aber auch dort wird in

Tests über längere Zeiträume festgestellt, dass ihre Schulleistungen sinken.

Wie kommt das?

Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt?

Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln,

Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten?

Was ist mit unseren Schulen los?

Atmo 1 Pausenhallengemurmel

1. Sprecherin

Ein deutsches Gymnasium. Der Tag beginnt wenig einladend. Die

Schüler warten im Foyer, sitzen auf dem Boden, spielen Karten,

stehen herum.

Die Klassenräume werden erst kurz vor Acht geöffnet

Atmo 2 Chemie Unterricht – Kreidegeräusche / Sprechertext in einen wechselnden Rhythmus mit

dieser Atmo bringen

2. Sprecher

Und dann wird der Stoff vermittelt. Schüler sollen aufnehmen, was

Lehrer mit ihnen durchnehmen. Was drankommt, steht im Lehrplan.

Und der verlangt zumeist mehr, als zu schaffen ist.

Alle haben wenig Zeit, manche haben nie Zeit, und dennoch herrscht

viel Langeweile.

Im Mittelpunkt der deutschen Tradition steht der sogenannte „fragendentwickelnde

Unterricht“. Lehrer haben dabei ihr Ergebnis fest im

Blick. Nach Vortrag und Tafelbild führen Lehrer mit ihren Fragen die

Schüler Schritt für Schritt ans Ziel. So das Konzept. Jeder soll im

gleichen Tempo den gleichen Weg in den gleichen kleinen Schritten

zurücklegen.

Die Lernenden werden als ideale Durchschnittsschüler auf durchaus

hohem Niveau angesprochen. Aber werden sie auch erreicht?

Cut 3a Elsbeth Stern:

Diesen fragend-entwickelnden Unterricht nennt man übrigens auch

„Osterhasenpädagogik“, wollen sie wissen warum?

1. Sprecherin

Fragt Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

Cut 3b Elsbeth Stern:

Der Lehrer versteckt das Wissen und die Schüler sollen es finden. So wird

Wissen ja häufig in der Schule erworben. Wenn der Lehrer mir die Aufgaben

vorgegeben hat und wenn dann genügend geübt wurde, dann kann man es.

Aber sobald die Aufgaben – das haben ja Pisa und Timms zutage gebracht –

von dem üblichen Format in der Schule abweichen, können viele deutsche

Schüler die Aufgabe nicht mehr lösen, weil das Wissen träge abgespeichert und

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unflexibel ist, denn es war immer nur auf eine bestimmte Anforderung

zugeschnitten.

2. Sprecher

Deutsche Lehrpläne sehen respektheischend aus. Dicke Bände. Man staunt,

wenn man sie mit Lehrplänen aus Norwegen oder Schweden vergleicht, das

sind Broschüren, oder das knapp 100 Seiten umfassende Heft aus Finnland, in

dem alles steht, was der Staat an Ergebnissen von allen Schulstufen erwartet.

Die deutschen Wälzer dokumentieren hohe und allerhöchste Ansprüche.

3. Sprecher

Tatsächlich ist es so, dass die detaillierten Lehrpläne hier zu Lande von Lehrern

kaum gelesen werden. Die Pläne machen vor allem ein schlechtes Gewissen.

Hingegen werden die verständlichen und knapp gefassten Schriften, in denen

die erfolgreichen PISA-Staaten ihre Erwartungen an Schulen formulieren, sogar

von den Eltern gelesen.

2. Sprecher

Anderswo hängt die Latte niedriger als bei uns. Aber fast alle bemühen sich,

drüber zu springen. In Deutschland wird die Latte häufig so hoch gehängt, dass

es viele vorziehen, lieber unter ihr durch zu kriechen. Und wenn man sich die

deutschen Debatten um Pisa ansieht, geht es immer noch mehr um die Position

der Latte, als um Springen der Schüler.

Das deutsche, dreigliedrige Schulsystem rühmt sich ja seiner Differenziertheit.

Zitatorin

Keine Einheitsschule!

2. Sprecher

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Ein Feature von Reinhard Kahl

Aber bei genauerem Hinsehen erweist es sich als starr in seinen Leitbildern.

Individuen haben in ihrer jeweiligen Einmaligkeit von Talenten und Fehlern in

deutschen Schulen schlechte Karten.

Denn die Lehrer fragen hier: passt der Schüler in die Schule? Sie fragen nicht:

passt der Unterricht zu den Schülern? Häufig unterrichten sie einfach ihre

Fächer, nicht aber die Schüler.

Jürgen Baumert, Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung, sieht

darin eine der Erbsünden deutscher Schulen

Cut 4: Baumert

Für mich ist diese Unterrichtsführung einer der Gründe, weshalb alle

Lehrer/innen – und zwar aller Schulformen – immer die falschen Schüler

haben. Also wenn sie das hören, ja woran liegt es, „ja ich habe zu viele

unbegabte Schüler“, das sagen Hauptschullehrer genauso: „ wir müssten viel

mehr auf die Sonderschule überweisen“. Im Gymnasium: „Ja es kommen zu

viele ungeeignete Schüler aufs Gymnasium“. Und dieses ist im internationalen

Vergleich wirklich verblüffend. Wir haben in der Sekundarstufe, in der

Mittelstufe die homogensten Lerngruppen der Welt. Wir haben eine

Dreigliedrigkeit. Die (Schüler) sind leistungshomogenisiert, und trotzdem ist

die Klage über zu große Heterogenität bei uns so groß wie in keinem anderen

Land.

2. Sprecher:

Deutsche Lehrer wurden für die erste Pisa Studie gefragt, welche Schüler in

ihrer Klasse wohl zu der sogenannten Risikogruppe gehörten, also zu denen,

die nur die niedrigste Kompetenzstufe erreichten – oder nicht mal die. Das

erschütternde Ergebnis:

1. Zitator:

Neun von 10 Schülern mit diesen eklatanten Lücken wurden von ihren Lehrern

nicht als solche erkannt.

2. Sprecher:

Man muss sich fragen: kennen die Lehrer ihre Schüler nicht? Sind Lehrer so sehr

von ihren Bildern überzeugt, die sie sich von ihrem Unterricht machen, dass sie die

vor ihnen sitzenden Schüler übersehen?

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3. Sprecher

Jürgen Baumert und seine Kollegen haben Lehrer gefragt – und zwar die

vermeintliche Elite, Lehrer die an Lehrplänen mitarbeiten oder Schulbücher

schreiben, ob und in welchem Alter Schüler schwierige Aufgaben lösen können

oder schwierige Texte verstehen:

Cut 5: Baumert

Das verblüffende war: alle Lehrplanexperten bis auf eine ganz kleine Minderheit

sind der Meinung, dass die wesentlichen Anforderungen unabhängig von der

Schwierigkeit bis zum Ende der achten Jahrgangsstufe erledigt sind. Sie sind

der Meinung, dass die schwierigsten Aufgaben in der Hauptschule von etwa

60% gelöst werden, in der Realschule von 75 % und im Gymnasium von etwa

80 % gelöst werden und wenn man jetzt fragt, wie hoch sind denn die

Lösungswahrscheinlichkeiten wirklich, dann sieht man, dass sie die leichtesten

Aufgaben etwas zu schwer einschätzen, aber die schwierigsten Aufgaben

grotesk unterschätzen, also von den 60 % Hauptschülern, die die schwierigen

Aufgaben lösen sollen, ist die Lösungswahrscheinlichkeit 0.3 %, d.h. es gibt gar

keinen Hauptschüler, der diese Aufgaben lösen kann. Und ähnlich grotesk ist

die Verschätzung für die Realschüler, und von den Gymnasiasten sollen etwa

80 % die Aufgaben lösen, also sie sollen wirklich Expertenleser sein, 29 % sind

es, d.h. also auch im Gymnasium gibt es eine groteske Unterschätzung der

Schwierigkeiten von anspruchsvollen Leseaufgaben und unsere Frage ist: wie

kommt denn das eigentlich?

2. Sprecher:

Man wundert sich. Wir würden wohl auf die Barrikaden gehen, wenn das

Gesundheitssystem Patienten, die gesund sind, für krank hält und Kranke für

gesund.

3. Sprecher:

Jedenfalls haben deutsche Lehrer ein generalisiertes Bild von Schülern, das mit

ihrer Wirklichkeit nicht übereinstimmt.

Der einzelne Schüler, der dem Bild nicht entspricht, wird als Abweichender oder

gar als Versager gesehen und – das weiß man aus der Psychologie: so wie

man gesehen wird, so wird man dann auch. Dieser systematische

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Verkennungsvorgang an den deutschen Schulen lässt sich auch in nüchternen

Zahlen ausdrücken.

1. Zitator

12 Prozent der Schüler werden am Anfang der Schulzeit zurück gestellt, weil

sie nicht zur Schule passen. 24 Prozent bleiben wenigstens einmal sitzen. In

keinem anderen Land, außer in Portugal ist diese Quote so hoch.

2. Sprecher:

Die Hauptschwäche unseres dreigliedrigen Schulsystems ist nicht so sehr die

Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist

auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach

Talenten. Die Hauptschwäche des deutschen Schulsystems ist , dass es die

Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu

kümmern. Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen – und Lernen macht immer

auch Schwierigkeiten – werden zu schwierigen, störenden und schließlich

gestörten Kinder, werden zu Schulversagern gemacht. Das ist in dem Ausmaß

beispiellos im Vergleich zu allen anderen von PISA untersuchten Ländern.

In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in

ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen, und ihnen die Möglichkeit zu

geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden – so dass

gewissermaßen die Intelligenz der Schule selbst steigt. Selektion vergiftet die

Atmosphäre in Deutschland, auch an den Gesamtschulen.

So klingt es wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die

Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene

Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliederige System.

3. Sprecher

Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres dreigliedrigen Schulsystems zu

Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese

deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen anderer zum Thema

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gemacht und tatsächlich zivilisiert würde. Die PISA- Spitzenreiter Japan und

Finnland kennen diesen deutschen Sortier- und Selektionswahn nicht. In Japan

wie in Finnland werden alle Schüler bis zum 9. Jahrgang gemeinsam

unterrichtet. In Schweden ist jede Differenzierung bis Klasse neun vom Gesetz

ausdrücklich verboten. Auch die USA und Kanada kennen nur Schulen, in die

bis zur 10. Klasse alle Kinder und Jugendliche gehen. Die deutsche

Schulneurose…

Zitatorin

… bin ich denn hier richtig?

Gehöre ich Dazu?

Bin ich nicht vielleicht doch auf der falschen Schule?

Und was muss ich tun, damit niemand merkt, was ich nicht kann…

2. Sprecher

Diese deutsche Schulneurose ist in anderen Ländern weniger oder gar nicht

ausgeprägt.

Aber bevor wir uns in Ländern, die bei Pisa gut abschneiden umsehen,

untersuchen wir diese deutsche Schulneurose noch etwas genauer.

3. Zitator / jugendlich, männlich:

Ich erzähle dem Lehrer, was er erwartet, auch wenn ich es nicht verstehe. Mein

Lehrer ist fest davon überzeugt, dass ich Mathematik verstehe und nur etwas

faul bin. Jedenfalls gebe ich mir von Tag zu Tag Mühe, ihm diesen Eindruck zu

vermitteln. Ich melde mich in der Stunde ein- bis zweimal, um etwas zu sagen.

1. Sprecherin

Johann Kegler, inzwischen Student, hat als Schüler eines Berliner

Gymnasiums unter der Bank seinen Alltag protokolliert. Eine ganz normale

Mathematik Stunde zum Beispiel.

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Was ich dann sage, habe ich mir vorher aus meinem Ordner raus geholt.

Ansonsten verhalte ich mich still, höre ein bisschen Musik, lese in meinem Buch

und schaue meinem Lehrer zustimmend in die Augen, wenn er mich beim

Erklären seiner Aufgaben ansieht. Es ist die reine Strategiefähigkeit, mit der ich

durch den Matheunterricht komme. Diesen Instinkt, zwei- bis dreimal in der

Stunde fit zu sein, eignet man sich im Laufe der Jahre an.

1. Sprecherin

Und die gleiche Art Unterricht sieht aus der Gegenperspektive so aus:

Zitatorin

Viele Jugendliche wollen überhaupt nichts lernen. Das hat mich jeden Tag neu

entsetzt. Sie wollen verwertbare Abschlüsse, um „einen guten Beruf“ zu

bekommen, sie wollen das Abitur als zentralen Endzweck von Schule.

1. Sprecherin

Das schreibt die Lehrerin Anne Fliegenhenn aus Münster:

Zitatorin

Dementsprechend lernen sie, was sie müssen. Neugier und Offenheit für die

Anstrengung des eigenen Denkens sind ganz und gar nicht vorauszusetzen, noch

nicht einmal Respekt vor Bildung überhaupt. Viele Eltern interessieren sich für

die Schule nur und ausschließlich nur dann, wenn es um schlechte Noten ihrer

Kinder geht. Wie soll man als junger Mensch allen Ernstes 13 Jahre Schule

aushalten, wenn darin nichts Beglückendes, Befreiendes, Kräftigendes zu

erwarten ist, sondern nur Mühsal auf dem Weg zum einzig erhofften und

ersehnten Zertifikat, nach dem das Leben erst anfangen soll?“

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1. Sprecherin

Vermutlich werden viele Schüler der Diagnose der Lehrerin zustimmen, so wie

sie vermutlich der Beschreibung von Johann Kegler, als er noch Schüler eines

Berliner Gymnasiums war, zustimmt.

Aber warum finden in unseren Schulen darüber kaum Gespräche zwischen

Schülern und Lehrern statt?

Der Schüler Johann Kegler, hatte ohne Pisa und erziehungswissenschaftliche

Forschung den Kern des Problems verstanden.

3. Zitator / jugendlich, männlich:

„Die beiden großen Fehler der Schule sind folgende: Erstens die Zeiteinteilung:

Niemand kann sich in einer Dreiviertelstunde wirklich effektiv mit einer Sache

auseinandersetzen. Wenn man sich gerade eingearbeitet hat und zu verstehen

beginnt, klingelt es schon. Während diese erste Sache eigentlich einfach zu ändern

wäre, ist der zweite Fehler weitaus schwerer zu beheben. Die Art und Weise, wie

einem der Stoff vermittelt wird. Auf schmutzigen Tafeln, in kahlen Räumen mit

kreischender Kreide. In Räumen, die schlecht belüftet sind und in denen man in Reih

und Glied sitzt. Von Lehrern, die verkrampft oder schlaff sind und sich hinter ihren

Notenbüchern verstecken.

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2. Sprecher

Mitsommernacht in Berlin. Am kleinen Wannsee feiern Jugendliche aus fast

allen Kontinenten. Für die internationalen Gäste ist es Abschied und für einige

Deutsche schon wieder die Rückkehr. Ein Jahr Schüleraustausch ist vorbei.

„Stellt Euch vor,“ schwärmt eine Schülerin, „am ersten Tag nach den Ferien

haben die Lehrer ihre Handynummern an uns verteilt!“ Seit wenigen Tagen ist

sie aus Stockholm zurück. Dort ging sie ein Jahr zur Schule. Auf dem Rasen

um sie herum stehen ihre staunenden Berliner Mitschüler und etwas

gelangweilt dreinschauende Amerikaner, Kanadier und Neuseeländer. „Was ist

denn daran so aufregend?“ fragt eine Stimme mit englischem Akzent. „Na, die

Lehrer waren jederzeit für uns da,“ antwortet die Rückkehrerin, „auch

nachmittags und sie waren irgendwie…“ „Freunde,“ ergänzt eine amerikanische

oder kanadische Stimme. „Ja, man konnte mit ihnen über alles reden.“

Der Himmel wird schon türkis, da fragt ein junger Amerikaner die Deutschen:

„Warum sind die Lehrer eigentlich eure Feinde?“ Jetzt wird es still. Die Berliner,

eben noch so eloquent, suchen nach Worten. Diese Frage haben sie sich noch

nie gestellt. Den Kleinkrieg in der Schule fanden sie bisher ganz normal. Nun

aber bricht es aus ihnen heraus, wie bei einem Tribunal: „Ihr seid wie der Rotz

an meinem Ärmel, hat unser Deutschlehrer mindestens einmal die Woche

gesagt,“ erzürnt sich ein Abiturient von einem der vornehmsten Gymnasien der

Stadt. „So ein arroganter Scheißkerl,“ kommentiert angewidert das Mädchen,

das in Schweden war. „Uhr seid eben die blödesten Schüler auf der ganzen

Welt, habe ich es euch nicht schon immer gesagt?“ zitiert jemand seine nach

Pisa derart auftrumpfende Mathelehrerin.

2. Sprecher

Woher kommen der Kleinkrieg, das Misstrauten, diese latente Feindlichkeit in

unseren Schulen?

Cut 5: (Wolfgang Edelstein

Ich bin immer wieder entsetzt, wirklich grundlegend entsetzt, über diese

pausenlose Demütigung, der die Kinder ausgesetzt werden.

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1. Sprecherin

…sagt ein Vater, leidgeprüft..

Cut 6: Edelstein

Meine Tochter kommt aus der Schule gestern, sie ist in der zwölften Klasse.

Sie kriegt ihre Geschichtsklausur zurück. Und was sagt ihr der Lehrer: Du

kannst nur labern. Sie hat Stunden gesessen und diese Aufsätze

geschrieben, viel Mühe und sie kriegt Vieren und er sagt: Du kannst halt nur

labern. Und ich sage: soll ich ihm mal einen Brief schreiben? Und sie sagt:

mach das bitte nicht, vielleicht hat er ja sogar recht. Aber ich meine, die

braucht Tage um sich zu erholen

1. Sprecherin

Der Vater ist vom Fach: Wolfgang Edelstein, inzwischen emeritierter Direktor

am Max Planck – Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Er hat die Dramen der Schule, hinter denen sich immer individuelle Tragödien

verbergen, untersucht. Sie reimen sich immer wieder auf den gleichen

misanthropischen Ton.

1. Zitator und Zitatorin (2):

Du gehörst nicht hierher.

Du kannst nichts.

Du störst.

2. Sprecher:

Viele Schüler und Eltern halten diesen vergifteten Urteilen nicht Stand.

Schüler übernehmen sie in ihr Selbstbild. Eltern tragen es an ihre Kinder mit

Strafpredigten weiter. Sie drohen und ermahnen:

1 Zitator und Zitatorin (2) im Wechsel

Streng dich endlich mehr an!

Mach bloß nicht so viele Fehler.

Stell dich nicht so an!

Aus dir wird nie was!

Dann musst du eben vom Gymnasium abgehen.

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1. Sprecherin:

Wolfgang Edelstein, geht gegen den Wunsch seiner Tochter in die Schule und

spricht mit den Lehrern.

Cut 7 Edelstein

Ich rede mit der Mathematiklehrerin von Anna letztes Jahr. Also eine Studienrätin

mit den Fächern Mathematik und Physik. Anna hat bei dieser Studienrätin

konsistent immer Sechsen. Und ich meine, Sechs ist eine Unverschämtheit, weil

es jede Entwicklungschance raubt, es ist nicht kompensierbar, d.h. es ist

intentional so gesetzt und ich rede mit ihr und frage sie, ob sie wirklich auf der

Sechs beharrt. Und sie sagt: es ist meine Aufgabe unfähige Schüler auszulesen.

Ich sage, wie bitte? Ich dachte, es ist ihre Aufgabe den Kindern etwas

beizubringen. Darauf hat sie nicht reagiert. Ich sagte, haben sie die Ergebnisse

von Timms, …

3. Sprecher:

….TIMMS, eine internationale Studie über die Kenntnisse der Schüler in

Mathematik- und Naturwissenschaften…

Cut 8 Edelstein

…darauf sagte sie: ist alles Nonsens. In Timss steht nämlich, dass die

Mathematikleistungen schlechter sind, gerade bei den guten

Mathematiklehrern, diesen hochprofessionellen, als bei den anderen. Ist alles

Nonsens sagt sie. Und jetzt hat sie, die nicht mehr, jetzt ist sie ja in der Klasse

zu einem anderen Lehrer gekommen und da hat sie eine Vier. Sie lebt seit

letztem Jahr in dem Terror, dass sie diese Lehrerin in der dreizehnten Klasse

noch mal kriegt.

1. Sprecherin:

Wolfgang Edelstein fragt in seinen Studien danach, unter welchen Bedingungen

sich das Wissen und das Erlernen von Wissen mit der eigenen Wahrnehmung

verknüpft und schließlich zu einer Erfahrung sinnerfüllten Lernens führt?

Cut 9 Edelstein

Das heißt, ganz primitiv gesprochen, was macht mir Sinn? Und wenn sie Kinder fragen, ob das Lernen interessant

ist, kriegen sie in der Regel bei ganz kleinen Kindern ganz klare Indikatoren dafür, dass sie das interessant finden,

dass sie mehr lernen wollen. Und je mehr Erfahrung sie mit der Schule haben, desto mehr nimmt das ab. Ich habe

mal eine Untersuchung gemacht über Lernfreude. Die Kleinen, also Erstklässler und Zweitklässler sind extrem

hoch auf dieser Variable und schon in der dritten Klasse nimmt es ab, und von da an nimmt es kontinuierlich ab

und es nimmt immer sprunghaft zu, wenn ein neues Fach kommt und im Laufe des ersten Jahres, in dem das Fach

erfahren wird, nimmt es wieder ab.

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Macht bloß keine Fehler!

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Ein Feature von Reinhard Kahl

2. Sprecher

Um die deutschen Schulprobleme zu verstehen, lohnt es sich den Unterricht

genauer anzusehen. Nicht wie ein Pädagoge, eher wie ein Ethnologe.

Jürgen Baumert, der die Federführung der ersten Pisa-Studie hatte, ging ein

Licht auf, als er Unterrichtsvideos aus Deutschland und Japan aus der schon

mehrfach zitierten Timms-Studie verglich, die sich vor allem mit Mathematik

befasste. In Japan, das Europäer häufig für so gleichförmig halten, heißt in

Mathematik die Maxime:

Cut 10 Baumert

Findet so viele Lösungen wie möglich. Nicht eine Lösung, sondern das

Problem hat viele Lösungen, die unterschiedlich sind, jede Lösung hat

Vorteile, hat Nachteile, wir wollen versuchen so viele Lösungen wie möglich

zu finden. In dieser Zeit geht dann der Lehrer durch die Reihen und guckt den

Schülern über die Schulter. Also viele Lösungen, die üblicherweise kommen,

hat er in seiner Unterrichtsvorbereitung stehen. Und er spricht dann mit

Schülern, gibt nie Lösungen oder Ergebnisse vor, sondern regt Denken an;

wenn einer nicht weiter kommt, stellt er `ne Frage, die zu der einen oder

anderen Lösung führen kann, aber er formuliert das Problem eher neu, als

dass er das Ergebnis mitteilt.

3. Sprecher

Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten in Japans Klassen als interessant,

manchmal sogar als interessanter als der routinierte, erfolgreiche Weg.

2. Sprecher

Mathematikunterricht ist keine neutrale, rein kognitive Übung. Mathe-Unterricht

ist eine Einführung in Denkweisen. Mathematik ist ein geistiges Initiationsritual.

Wichtiger als der Stoff, wichtiger als Lehrpläne ist wie unterrichtet wird.

Cut 11 Jürgen Baumert

Der deutsche Unterricht beginnt: die ersten fünf Minuten werden die Hausaufgaben

kurz vorgestellt, noch mal kurz wiederholt, und dann wird ein neues Thema

eingeführt, in einem sehr kurzschrittig, fragend entwickelnden Unterricht. Der

Lehrer hat ein Ziel vor Augen. Und in einem sehr geschickten Verfahren bringt er

die Schüler dazu, dass sie dem Beweis folgen und nach 20 Minuten beim Ergebnis

sind. Das ist so wie ein Trichterverfahren, von einer sehr weiten Frage führt man

es immer enger, konvergent, bis die Lösung, die Routine an der Tafel steht oder in

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Ein Feature von Reinhard Kahl

den Heften der Schüler. Und dann folgt eine kurze Phase, wo noch eine

Übungsaufgabe gemeinsam durchgerechnet wird und dann gibt’s die Stillarbeit, wo

sehr ähnliche, häufig nicht abgestufte Aufgaben gelöst werden, das ist eine

typische deutsche Stunde.

2. Sprecher:

Dieser Unterricht stimuliert Schüler nicht zum Denken. Er ermuntert sie schon gar

nicht, sich auf das unsichere Feld von Problemlösungen zu wagen. Im typischen

deutschen Unterricht, stören immer zwei Dinge.

1. Zitator

Die intelligente Frage und der Fehler.

2. Sprecher:

Dabei sind beide so verwand. Man kann nicht denken, ohne sich zu irren. Man

kann nichts Neues heraus finden, ohne Fehler zu machen. Fehlerverbote laufen

auf Denkverbot hinaus. Aber Fehlervermeidung ist das Charakteristische der

deutschen Schulkultur.

Die Pisa-Studie macht den Verdacht zum Befund:

3. Sprecher

Deutsche Schüler schneiden bei Aufgaben, die eigenständiges Denken verlangen

schlecht ab.

Cut 12: Baumert

Wenn ein Individuum Fehler macht, da ist immer noch was Richtiges dran, und der

versucht, seinen besten Beitrag zu geben. Das ist die eine Seite, sozusagen die

Seite der Akzeptanz. Sie nutzen Fehler teilweise, um sie bis zum Ende

durchzuspielen, um dann zu gucken, was sind denn die Folgen, wenn wir dich mal

ernst nehmen, kann das richtig sein und dann gibts ’nen neuen Ansatz. Bei uns

geht’s eher: schnelle Korrektur durch den Lehrer oder, was noch schlimmer ist,

der nächste Schüler wird gefragt, dann kommt die richtige Lösung, sieht man in

Japan seltener.

Cut 13a Stern

Unsere Schule ist sehr leistungsorientiert, aber nicht lernorientiert;

1. Sprecherin:

Elsbeth Stern, Forschungsgruppenleiterin am Max Planck Institut für

Bildungsforschung.

Cut 13b Stern

Man unterscheidet in der Lehr- Lernforschung zwischen einer

Leistungsorientierung, das ist: krieg ich meinen Abschluss mit guten Noten, damit

ich damit Zugang zu weiteren Ausbildungsgängen habe. Lernorientiert heißt: habe

ich die Mathematik wirklich verstanden. Habe ich verstanden, wie Phänomene zu

erklären sind.

Die Leistungsorientierung ist enorm bei uns, jeder Schüler tut gut daran, möglichst

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Ein Feature von Reinhard Kahl

früh zu überlegen, wie er mit wenig Aufwand bestimmte Abschlüsse und Noten

bekommt. Aber es interessiert nicht, bis zum Pisa Schock, was können die

Schüler, nur stimmen die Noten.

3. Sprecher:

Das ist das große und wohl verheerende Missverständnis der deutschen Schule.

2. Sprecher:

Man spricht von Leistung, ja man beschwört sie, und verhindert durch eine

verengte Leistungsvorstellung das Lernen. Denn Leistungen zu erbringen, heißt ja

effektiv sein, fertig werden, auf das Produkt fixiert sein …

3. Sprecher:

… die Zeit der Leistung beginnt, wenn das Lernen und Forschen vorbei ist. Wird

die Leistung zu früh verlangt, geht das auf Kosten der Zeit zum Lernen …

2. Sprecher:

…dann verführt man die Schüler so zu tun als ob sie schon verstanden hätten,

was ihnen noch unklar ist. Das Dümmste und Schädlichste, was beim Lernen

passieren kann. Wenn der Faden reißt, weil man aufgehört hat Fragen zu stellen

und stattdessen intelligent klingende Antworten gibt oder lieber schweigt, was

dann?

3. Sprecher:

Dann müsste man eigentlich das Tempo verlangsamen. Tatsächlich wird dann der

Druck erhöht und man verlangt von den Schülern:

1. Zitator

Lernt schneller. Nutzt die Zeit.

2. Sprecher:

Ganz falsch sagt Deutschlands renommierteste Lernforscherin Elsbeth Stern:

Cut 14 Stern

Zeit haben ist ein wichtiger Faktor. Und zwar stressfreie Zeit, wo ich mich mit

einem Problem auseinandersetzen muss. Diese Zeit sollte nicht im

Klassenkontext sein, sondern unter kontrollierten Bedingungen nachmittags, in

einer Ganztagsschule, wo man selber bestimmen kann, wo man noch etwas

nachzuholen hat.

2. Sprecher

Und noch ein anderer Zeitfaktor ist wichtig. Man nennt ihn neuerdings