Lernen in den Treibhäusern der Zukunft“

 

NÜRNBERGER NACHRICHTEN  15. 12. 2004

Lernen in den Treibhäusern der Zukunft“

Vielleicht schafft es ja die Macht der Bilder, die aufgeheizte Bildungsdebatte in eine konstruktivere Richtung zu bringen. Am Sonntag durfte man sich dieser Hoffnung zumindest kurzfristig hingeben: In 28 deutschen Städten, darunter auch in Nürnberg, lief in den Kinos der Dokumentarfilm »Treibhäuser der Zukunft – Wie in Deutschland Schulen gelingen« von Reinhard Kahl. Der Streifen bekam mancherorts großen Applaus – und die Zuschauer vielleicht ein paar wichtige Inspirationen.

HAMBURG – Na bitte, wir können auch anders, mögen sich einige der bundesweit mehreren Tausend Zuschauer gedacht haben, die am Sonntag den Streifen ansahen. Denn der Dokumentarfilm berichtet über Schulen mit neuen Ansätzen und anregendem Lernklima. Er stellt Schulen vor, die den elenden 45-Minuten-Takt der Schulstunden außer Kraft gesetzt haben. Er zeigt Kinder und Jugendliche, die hingebungsvoll allein oder gemeinsam mit Lernmaterial beschäftigt sind. Er lässt Lehrer zu Wort kommen, die bewusst ihr Einzelkämpfertum aufgegeben haben. Und er trifft genau den Nerv der Nation, die nach der zweiten Pisa-Studie nicht mehr weiß, wie und ob Bildung in Deutschland funktionieren kann.

Individuelles Tempo
Jenseits von Ideologie und Grundsatzstreit zeichnet Kahl das Porträt verschiedener Lernorte, die einiges gemeinsam haben: Die Schüler arbeiten in Lerngruppen, die aus mehreren Altersstufen bestehen. Sie lernen mit individuellem Tempo und unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. »Ich arbeite mehr in Mathe als in Deutsch. Und diese Woche habe ich mir vorgenommen, dass ich das Deutsch schaffe, auch da bin ich kurz davor«, sagt ein Junge von der Bremer Schule Borchshöhe.
Die Lehrkraft entwickelt einen Arbeitsplan mit jedem und für jedes einzelne Kind. Die Grundhaltung ist Respekt. »Jedes Kind ist für sich einmalig und existiert nicht noch mal auf der Welt. Da kann ich doch nicht morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen«, betont Alfred Hinz, Rektor der katholischen Bodensee-Schule in Friedrichshafen, eine der ältesten Ganztagsschulen in Deutschland.
Die Leiterin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam, Ulrike Kegler, sagt: »Die Kinder dürfen nicht beschämt werden.« Lehrer müssten mit ihrer Macht verantwortungsbewusst umgehen. Das in den »Treibhäusern« gepflegte pädagogische Konzept geht von der Freude der Kinder am Lernen und am Begreifen ihrer Umwelt aus.
Dazu gehören ein hohes Maß an selbstständiger Arbeit und Entscheidung sowie Projektunterricht. Auch lernen die Schüler den so angeeigneten Stoff angemessen zu präsentieren, sei es als Referat am Projektor oder als ein Essen nach mittelalterlichen Rezepten. Damit üben sie zugleich Anforderungen aus ihrer späteren Berufswelt ein.
Dass Freude am Lernen und Leistung sich nicht ausschließen, ja sich vielmehr bedingen, betont Hinz ausdrücklich. Die zentral vom baden-württembergischen Kultusministerium gestellten Arbeiten in der neunten und zehnten Klasse »schaffen wir mit einer Hand«, sagt er.
Der Film hat selbst die DaimlerChrysler University für Führungskräfte beeindruckt. Dort sieht man die neue Rolle des Lehrers, der stärker beobachte, als Anweisungen zu geben, als Vorbild – für die eigenen Manager.

Weitere Informationen: Der Filmtext ist als Buch zusammen mit drei DVDs im Beltz Verlag erschienen, ISBN 3-407- 85830-2, und kostet 29 Euro.

Zusammen lernen macht viel mehr Spaß, als alleine zu büffeln: eine Schulklasse, die auch in Kahls Dokumentarfilm vorkommt, im Englischunterricht. Foto: dpa