Lauter letzte Menschen

Deutschlands kinderlose Elite: Lauter letzte Menschen

Nehmen wir Abschied vom Mythos der Familie – oder von der Zukunft

von Reinhard Kahl

Vierzig Prozent der deutschen Akademikerinnen bleiben kinderlos. Die Zahl ist nicht neu. Aber jetzt sind wir reif, uns von ihr irritieren zu lassen. Und Irritation, sagte der verstorbene Soziologe Niklas Luhmann, ist die beste Voraussetzung für Lernprozesse.

Was bedeutet es, wenn sich ausgerechnet ein großer Teil der Bildungselite aus dem generativen Prozess verabschiedet? Es ist ja nicht nur die demografische Verfinsterung, die nun zu all den anderen Deutschland-Krisen noch hinzukommt. Und es ist nicht nur diese zusätzliche Bildungskatastrophe, wenn ausgerechnet die Familien streiken, die am meisten Wissen und Kultur weitergeben könnten. Der Schatten liegt nicht erst auf der Zukunft. Was ist mit unserer Gegenwart los, dass viele nicht weitermachen, nichts weitergeben, keine Zukunft produzieren wollen? Man denkt unwillkürlich an Nietzsches Schmähwort von den letzten Menschen. Was bedeutet ein Leben unter dem Vorzeichen, nach uns kommt nichts mehr?

Gewiss, Kinder allein sind nicht die Welt, und Kinderlose können im ganz emphatischen Sinne in der Welt sein. Zumal als Lehrer, Künstler oder als „“Führungskraft““. Die zölibatäre Tradition von Hingabe ist ehrenwert. Doch sie ist eine Ausnahme. Jeder, der Kinder hat, weiß, wie sie uns Grenzen setzen und zugleich Horizonte eröffnen. Diese Erfahrung fehlt den letzten Menschen. Sie neigen dazu, alles zu sein und alles haben zu wollen. Dann erleben sie, dass alles und nichts zwei Wörter für das Gleiche sind.

Die Neigung zu „“Alles oder nichts““ gehört zu den deutschen Erbsünden. Wir finden sie auch im weiten Feld von Bildung und Erziehung. Mütter sollen ganz und gar für die Kinder da sein. Sonst sind sie Rabenmütter. Sie bekommen an jedem Missgeschick die Schuld. Und häufig geben sie sich selbst die Schuld. Natürlich gibt es keine Erziehung ohne Missgeschick. Aber es gibt ein besseres Vorzeichen für Elternschaft als Perfektion und Idealisierung. Der nach Amerika ausgewanderte Kinderpsychiater Bruno Bettelheim brachte es auf die Formel: „“good enough parents““. Einigermaßen gute Eltern – die besten, die man sich wünschen kann – können auch Familie und Beruf vereinbaren. Und hier liegt denn auch ein Ansatzpunkt für den Hebel zur Veränderung. Nur setzt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mehr voraus als Kinderbetreuung. Die ist in Deutschland häufig nur Verwahrung. Ein Teufelskreis. Weil wir dazu neigen, die Familie zu idealisieren, verweigern wir der öffentlichen Erziehung Ressourcen, vor allem die wichtigste: Wertschätzung. Das gilt besonders für Krippen, Kindergärten und die Vorschule. Ein Beispiel: Schulabgängerinnen, die ein Berufsberater glaubt, im Büro nicht unterbringen zu können, empfiehlt er die Ausbildung als Erzieherin.

Aber auch viele Eltern finden, mit der Schule beginne der bittere Ernst des Lebens. Davor wollen sie ihre Kinder möglichst lange mit einer verspielten Kindheit schützen. Aus dieser Mentalität wird dem Lernen in der Schule die Seele, nämlich Vorfreude des Kindes auf sich selbst zu sein, geraubt. Die Vorschulzeit wird vom eng gedachten Lernen frei gehalten. Verhängnisvolle Aufspaltungen!

Unsere Schule wurde nie als Lebensort konzipiert. Sie setzt auf Belehrung. Sie geizt mit Raum und Zeit für die Eigenständigkeit und Zusammenarbeit der Schüler – und auch der Lehrer. Der Familienmythos flüstert: Zu Hause spielt sich das wahre Leben ab. Dann sind um 13.30 Uhr die Lehrer schneller im Golf als die Schüler auf dem Fahrrad. Diese Fehlkonstruktion bringt viele Frauen, zumal solche mit guter Bildung und hohen Ansprüchen, dazu, dieser Falle entgehen zu wollen und die Karriere zu ihrer einzigen Welt zu machen.

Wir müssen also deutsche Reinheitsgebote aufgeben und uns mit neuen Mischungen anfreunden. Die öffentliche Kindererziehung ist keineswegs bloß die zweitbeste Lösung neben der Hundertprozentfamilie. Für Kinder sind gute Krippen, Vorschulen und Ganztagsschulen ein abgestufter Raum zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Hier treffen sie andere Kinder und hoffentlich professionelle Erzieher, die in der Lage sind, ästhetisch, emotional und kognitiv Welten zu öffnen. Zu Hause, das müssen wir endlich zugeben, wird nicht das duftende, selbst gebackene Biobrot auf den Tisch getragen und anschließend am Flügel Mozart gespielt. Dort gibt es viel zu häufig Fast Food, Schokoriegel und als endlosen Nachtisch Fernsehen.

In der Forschung herrscht Konsens: Das Zusammensein mit anderen Kindern wirkt sich positiv aus. Bei IGLU, der internationalen Grundschulstudie, haben Kinder, die zum Kindergarten gegangen sind, noch Ende der vierten Klasse im Lesen einen Vorsprung von mehr als einem halben Jahr.

Und es kommt manches in Bewegung. In München beim europäischen Patentamt hat die Familienforscherin Gisela Erler mit ihrer Firma „“Familienservice““ eine anspruchsvolle Kinderbetreuung aufgebaut. Die meisten Akademikerinnen, die aus vielen Ländern kommen, kehren gemäß europäischem Recht nach zwölf Wochen Mutterschaft gelassen in den Beruf zurück. Seit es dort diese gute Kinderbetreuung gibt, „“bekommen die Frauen Kinder wie die Hasen““, weiß Gisela Erler. Viele haben zwei oder drei Kinder, und sie fügt hinzu: „“Das sind tolle Familien, die viel mit ihren Kindern machen.““

Der Autor ist Journalist mit dem Schwerpunkt Schule und Erziehung und moderiert im Hamburger Literaturhaus das „“Philosophische Café““

Artikel erschienen am 25. April 2004