Laufen, sprechen, tanzen

Laufen, sprechen, tanzen

Gastkommentar – Menschenfreundliche Bildung

von Reinhard Kahl

Die deutsche Pädagogik hat einen Star. Er könnte in diesem Land der Bildungskriege sogar mehrheitsfähig werden. Kein Zufall allerdings, daß er weder Pädagoge noch Deutscher ist. Es ist der britische Choreograph Royston Maldoom. Nach dem Film „Rhythm Is It“, in dem die Tanzproben zu Strawinskys „Sacre du Printemps“ mit Berliner Schülern dokumentiert werden, kann er sich vor Einladungen aus Schulen, zu Workshop oder Diskussionen im Kino kaum retten. Anschließend stehen Menschentrauben um ihn und wollen ihm das Geheimnis seines Erfolgs bei den jungen Leuten entlocken. Seine Formel: Vertrauen und Herausforderung. Das wichtigste Wort in diesem Satz ist das Wörtchen „und“. Das wird von den Heroen des Entweder-Oder leicht übersehen.

Seit 30 Jahren arbeitet Maldoom mit Straßenkindern in Äthiopien, traumatisierten Jugendlichen aus Bosnien oder behüteten Schülern in Mitteleuropa. „Noch nie habe ich jemanden getroffen, der nicht tanzen kann.“ Wenn der Choreograph eine neue Gruppe trifft, ist er sich ganz sicher: „Sie werden gemeinsam mit mir großartiges Theater schaffen.“ So war es jetzt auch wieder in Berlin, wo er im Rahmen des Education Project der Berliner Philharmoniker mit Kindern, Jugendlichen und Alten den Tanz für „Carmina Burana“ einstudierte. Die Karten für die Aufführungen waren innerhalb von zwei Stunden ausverkauft.

Ein Zauberer? Ein Originalgenie? Gar ein Verführer? Nein. Wir erleben etwas Selbstverständliches, woran allerdings viele Erwachsene, leider auch Lehrer, nicht so recht glauben: daß jedes Individuum ein einmaliges Potential hat. Daß jeder, so wie er laufen und sprechen gelernt hat, auch tanzen kann. Und zwar auf seine besondere Weise. „Sie tanzen graziös“, sagt Maldoom, „wenn es gelungen ist, die Blockaden zu beseitigen.“ Diejenigen, die bei solch schönen Worten den Kopf schütteln, finden in ihrem Alltag ständig ihre Gegenbeweise. Schwärmereien, meinen sie, vielleicht etwas für aufwendige Vorzeigeprojekte, aber nichts für den Alltag. Nach Aufführungen mit ihren Schülern kommen diese skeptischen Pädagogen und Eltern häufig zu Maldoom und können gar nicht fassen, was ihre Kinder alles können. „Das hätten wir nie geglaubt“, sagen sie ihm. Sein lakonischer Kommentar: „Jetzt wissen Sie ja, wo die eigentliche Ursache liegt.“

Im Film „Rhythm Is It“ gibt es eine Schlüsselszene. Maldoom empfiehlt einigen der Hauptschüler, mit denen er arbeitet, auf einer Ballettschule weiterzumachen. Sie hätten das Zeug dazu. Da mischt sich deren freundliche, aber grundbesorgte Lehrerin ein. Abends im Dunklen, fragt sie im Klageton, alleine mit der S-Bahn noch nach Wilmersdorf? Senden Pädagogen solch kleinherzige Botschaften oder sagen sie wie Maldoom, kommt her, ihr seid gut, in euch steckt viel mehr, als ihr selbst glaubt, das wollen wir herausholen? Ob Lehrer die Potentiale ihrer Schüler zynisch in Abrede stellen oder ob sie ihnen eine verquaste Opfergemeinschaft gegen die Zumutungen der Welt anbieten, macht letztlich keinen Unterschied. Eigentlich ist es einfach. Man kann aus Menschen, zumal jungen, nur das herausfordern, von dem man glaubt, daß sie es in sich tragen.

„Sobald man den Raum betritt, wissen die jungen Leute, ob sie einem vertrauen können oder nicht“, sagt Maldoom. Vertrauen verwandelt. Er erlebt es an sich selbst, „wie diszipliniert und konzentriert ich dann sein kann und wie die Kids mir darin folgen“. Für Vertrauen haben sie feinste Sensoren. „Aber fühlen sie nur einen Augenblick, daß man nicht an ihr Potential glaubt, so wird man ein Teil der Welt, die sie nicht respektiert, und sie fallen sofort auf ihre Meinung zurück, Versager zu sein.“

„Ich bin sehr streng.“ Auch dieser Satz gehört zur Begrüßung, mit der Maldoom einen Kurs beginnt. Es gelten klare Regeln. Disziplin muß sein. Aber niemals ohne Leidenschaft. Deshalb spricht er ungern von Bildung, sondern von Erwachsenen, die ihre Leidenschaft und ihre Erfahrung mit Kindern teilen. Er schlägt vor, Künstler an Schulen zu holen, und fügt gleich hinzu, auch Tischler oder Geschäftsleute, „egal, ob es um Mathematik oder Geographie geht, Kommunikation läuft über Leidenschaft“.

Kinder und Jugendliche erleben Maldoom als Botschafter aus der tätigen Welt. Nach der haben sie die allergrößte Sehnsucht.

Der Autor, Journalist und Filmemacher („Treibhäuser der Zukunft“) lebt in Hamburg. In der kommenden Woche erscheint seine Doppel-DVD „Die Entdeckung der frühen Jahre“, auf der auch Royston Maldoom zu sehen ist. www.archiv-der-zukunft.de

Artikel erschienen am Fr, 12. Mai 2006

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