Hannah Arendt

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Pluralität

Die Welt zwischen den Menschen

„Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand“ – Hannah Arendt nannte die Menschen Neuankömmlinge. Aus ihrer ursprünglichen Verschiedenheit und Fremdheit ergibt sich allerdings die Chance, dass sie sich miteinander befreunden. Die Tyrannei der einen Wahrheit hingegen mache aus Menschen schwache Epigonen, die sich als missglückte Kopien verstehen und als arme Untermieter die Welt auszehren.

Das Übel begann für Arendt damit, wenn pathetisch von dem Menschen gesprochen wurde. Nein, sagte sie: die Menschen, sprach von ihrer Pluralität und plädierte für „das Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten“. Dafür allerdings sei „Aufschluss zu geben, wer er ist“, und auf die „ursprüngliche Fremdheit zu verzichten“. Ein großer, aber auch gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Auf seine Fremdheit verzichten! Im Gegensatz zu unserer Tradition war am Anfang kein Paradies, auf das der Sündenfall folgte. Und kein Paradies wird am Ende die Geschichte glücklich beenden.

Hannah Arendt dreht die Konstruktion von ursprünglicher Harmonie und Wahrheit und selbstverschuldeter Entfremdung um. Die ursprüngliche Fremdheit lässt sich nur durch den Aufbau einer gemeinsamen Welt überwinden. So entsteht eigentlich erst die Welt, die immer fragil ist, aber in der für Menschen immer Anfänge möglich sind.

Hannah Arendt sprach vom „Wunder des Neuanfangs“, was zu ihrem radikal diesseitigen Denken kein Widerspruch war, denn „die Welt liegt zwischen den Menschen … und jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so dass aus Vielen Einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände“.

REINHARD KAHL