Hannah Arendt über Erziehung Download zum Bremer Vortrag

Hannah Arendt

Vortrag: Die Krise der  Erziehung

  

Am 13. Mai 1958  hielt Hannah Arendt in der Bremer Böttchergasse den Vortrag, „Krise der Erziehung“. Das war eine hellsichtige Rede.

Nach bald einem halben Jahrhundert  aus dem Archivkeller geholt, hat sie an Aktualität gewonnen, ja etwas Prophetisches bekommen.

 

Hannah Arendt kritisierte Erwachsene, die Kindern Probleme aufladen, die sie selbst zu lösen sich scheuen.

 

Der gesamte Vortrag steht als Mitschnitt in zwei Teilen zum Download zur Verfügung: Teil 1 | Teil 2 (mp3, je 17,4 mb, speichern mit Rechtsklick).

Nachzulesen ist er in dem Buch „Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (Serie Piper 1421)

 

Hier einige Passagen daraus:  

 

 

Die Autorität ist von den Erwachsenen abgeschafft worden, und dies kann nur eines besagen, nämlich dass die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hineingeboren haben.

 

 

Deutlicher auf der anderen Seite konnten moderne Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Welt, ihr Unbehagen in dem Bestehenden gar nicht äußern, als durch die Weigerung, ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für all das zu übernehmen. Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: in dieser Welt sind auch wir nicht sehr verlässlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muss, ist auch uns nicht sehr gut bekannt. Ihr müsst sehen, wie ihr durchkommt; uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortung ziehen können, wir waschen unsere Hände in Unschuld.

 

Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden, wie ihre Bewohner. Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden. Die Frage ist nur, dass wir so erziehen, dass ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich nie gesichert werden kann.

Unsere Hoffnung hängt immer an dem Neuen, das jede Generation bringt; aber gerade weil wir nur hierauf unsere Hoffnung setzen können, verderben wir alles, wenn wir versuchen, das Neue so in die Hand zu bekommen, dass wir, die Alten bestimmen können, wie es aussehen wird.

 

Gerade um des Neuen und des Revolutionären willen in jedem Kinde muss die Erziehung konservativ sein; dies Neue muss sie bewahren und als Neues in eine alte Welt einführen, die, wie revolutionär sie sich auch gebärden mag, doch im Sinne der nächsten Generation immer schon überaltert ist und nahe dem Verderben.

 

In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig  vor dem Ruin zu retten, der ohne  Erneuerung, ohne  die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben um ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung der Welt vorzubereiten.

 

Um Missverständnisse zu vermeiden, meine Damen und Herren: Das Konservative im Sinne des Konservierenden liegt im Wesen der erzieherischen Tätigkeit selbst, deren Aufgabe es immer ist, etwas zu hegen und zu schützen – das Kind gegen die Welt, die Welt gegen das Kind, das Neue gegen das Alte und das Alte gegen das Neue. Auch die Pauschalverantwortung, die dabei für die Welt übernommen wird, liegt natürlich im Sinne einer konservativen Haltung. Aber all dies scheint mir, gilt nur für den Bereich der Erziehung oder vielmehr für die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, und nicht für den Bereich des Politischen, wo wir uns mit und unter Erwachsenen und unseresgleichen bewegen.

Im Politischen kann die konservative Haltung, die die Welt, so wie sie ist, akzeptiert, und nur danach strebt, sie in ihrem Status quo zu erhalten, nur ins Verderben führen, weil die Welt im ganzen wie alle einzelnen Dinge in ihr unabänderlich dem Ruin der Zeit überantwortet ist, wenn die Menschen sich nicht entschließen, einzugreifen, zu ändern, Neues zu schaffen.