Hannah Arendt Rundfunkfeature NDR & WDR

 

Hannah Arendt

 

NDR Kultur  Kulturforum   10. Oktober 2006

Die gesamte Sendung steht als mp3-Datei zur Verfügung (55 min, 25mb, speichern mit Rechtsklick).

 

Liebe zur Welt

 

Zur Aktualität von Hannah

 

Arendt, die vor 100 Jahren

 

geboren wurde

 

Von Reinhard Kahl

 

 

Sie hat das Denken – und den Irrtum – gewagt. Sie hat kein System entwickelt. „Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand,“ schrieb Hannah Arendt in ihrem Buch „Vita activa“, das sie ursprünglich „Amor Mundi,“ Liebe zur Welt, nennen wollte. Weil jeder Mensch anders ist, braucht er eine Welt, die ihm „ein Heimatsgefühl“ gibt. In der Verlassenheit moderner Menschen sah sie eine Ursache für totalitäre Bewegungen. Das Gegengift zu dieser fortbestehenden Gefahr war für sie Politik. Darunter verstand sie vor allem die Chance, zusammen zu handeln und Neues anzufangen.

 

 

Sprecherin 1    Hannah Arendt

Sprecherin 2     Zitate, weiblich / Ansagen/  Informationen

Sprecher 1        Autorenposition, essayistisch

Sprecher 2        Chronist / Zitate

Sprecher 3         Ansagen, Informationen etc 

O-Ton:  immer Originalton von Hannah Arendt

MANUSKRIPT VOR EINIGEN KÜRZUNGEN, DIE WEGEN DER LÄNGE NÖTIG WURDEN


Intro; Montage aus O-Ton, Sprecher und Musik.

Klaviermusik, klassisch, eigenwillig, temperamentvoll,  z.B. Bachs Goldberg-Variationen von Glenn Gould 

 

Klaviermusik erst kurz offen, bleibt unter den Textelementen
– zwischen der Sprache nicht zu kurze Abstände

 

Sprecherin 1

Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand.

 

O-Ton   1   ´´5

Philosophie stand fest, seit meinem 14. Lebensjahr

 

Sprecherin 1 [[Hinweis für die Regie: Das „sie“ im Zitat bezieht sich nicht auf H.A., sondern auf Rahel Varnhagen über die H.A. schreibt; (aber irgendwie meint sie auch sich selbst) – die Sache löst sich später auf;  es ist also kein Verssehen, dass der Satz von der H.A. Stimme gesprochen wird!!]]

Worauf es ihr ankam war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte, wie Wetter ohne Schirm.

 

O-Ton  2    ´15

Für mich war das eine Frage, entweder kann ich Philosophie studieren oder ich gehe ins Wasser, sozusagen. Aber nicht weil ich das Leben nicht liebte, sondern dieses Verstehenmüssen, das war sehr früh schon da.

 

Musik etwas länger offen

 

Sprecherin 2

Sie war eine schöne Frau. Bezaubernd. Verführerisch feminin. Das Auffälligste an ihr waren die Augen: leuchtend und funkelnd, verträumt, wenn sie glücklich oder erregt war, aber zugleich tief, dunkel entrückt. Teiche der Innerlichkeit. Es war etwas Unergründliches an Hannah, das in den Tiefen dieser Augen zu liegen schien.

 

Sprecher 3

Die Schriftstellerin Mary McCarthy, ihre Freundin

 

Musik etwas länger offen

 

Sprecher 2

Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles

 

Sprecher 3

Platon

 

Sprecher 3

Eines ihrer Lieblingszitate

 

Ende der Anfangsmontage

 Musik kurz offen, harte Blende, Ansage trocken

 

Ansage  (SPrecherin 2 / Sprecher 3)                  Bitte nur für

Liebe zur Welt                                                        DIE WDR-

Die Aktualität von Hannah Arendt                     FASSUNG

Eine Sendung von Reinhard Kahl                           PRODUZIEREN!

 

O-Ton   3    ´30

Ich habe von Hause aus nicht gewusst, dass ich Jüdin bin. Meine Mutter war gänzlich areligiös, mein Vater ist früh gestorben. Mein Großvater war Präsident der liberalen Gemeinde und Stadtverordneter von Königsberg. Ich komme aus einer alten Königsberger Familie. Das Wort [Jude] ist bei uns nie gefallen als ich ein kleines Kind war. Es wurde mir zuerst entgegengebracht durch antisemitische Bemerkungen von Kindern auf der Straße. Daraufhin wurde ich sozusagen aufgeklärt. 

 

Sprecher 2   

Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren. In Königsberg wuchs sie auf. Sie war eine überragende Schülerin. Doch gegen Ende wurde es ihr in der Schule langweilig. Die zeitweilige Schwänzerin flog in der 12. Klasse, machte aber in einer Externenprüfung ihr Abitur und hatte so ein Jahr gewonnen. 1922  ging die nicht mal 18jährige Hannah nach Marburg zum Studium der Philosophie, der evangelischen Theologie und des Altgriechischen.

 

Sprecher 1

Aber genau genommen ging sie nicht wegen dieser Fächer nach Marburg, sondern wegen Martin Heidegger. In Deutschland hatte sich das Gerücht von ihm als dem Philosophenkönig verbreitet.

 

O-Ton  4   0´32

Es lag in diesem Fall nichts vor, worauf der Ruhm sich hätte stützen können, nichts Schriftliches, es seien denn Kollegnachschriften, die von Hand zu Hand gingen; und die Kollegs handelten von Texten, die allgemein bekannt waren, sie enthielten keine Lehre, die man hätte wieder- und weitergeben können. Da war kaum mehr als ein Name, aber der Name reiste durch ganz Deutschland wie das Gerücht vom heimlichen König.

 

Sprecher 1   

Hannah Arendt lebte und dachte zunächst in großer Distanz zur Politik. Das Politische stand für sie, wie für ihre Lehrer und Kommilitonen, im Schatten der geistigen Welt. Zu der suchten sie Zugang. Die geistige Welt wollten sie von der mit sich verhedderten akademischen Selbstbezüglichkeit befreien. Vom frischen Fragen und Denken erwarteten sie die Erneuerung des ganzen Lebens. Ort des Geistigen, zumindest Ort der Sehsucht danach, war die Universität.

 

O-Ton   5   1´00

Es gab damals, nach dem ersten Weltkrieg, an den deutschen Universitäten zwar keine Rebellen, aber ein weit verbreitetes Unbehagen an dem akademischen Lehr- und Lernbetrieb in all den Fakultäten, die mehr waren als bloße Berufsschulen, und bei all den Studenten, für die das Studium mehr bedeutete als die Vorbereitung auf den Beruf. Philosophie war kein Brotstudium, schon eher das Studium entschlossener Hungerleider, die gerade darum recht anspruchsvoll waren.

Ihnen stand der Sinn keineswegs nach Welt- oder Lebensweisheit, und wem an der Lösung aller Rätsel gelegen war, dem stand eine reichliche Auswahl in den Angeboten der Weltanschauungen und Weltanschauungsparteien zur Verfügung; um da zu wählen bedurfte es keines Philosophiestudiums. Was sie nun aber wollten, das wussten sie auch nicht.

 

Sprecher 1

Sie waren hungrig. Sie hatten Fragen. Sie wollten, wie es Heideggers Lehrer, der Freiburger Philosoph Husserl proklamierte…

 

O-Ton  6  ´´6

…zu den Sachen selbst, das hieß weg von den Theorien, weg von den Büchern…

 

Sprecher 1

An den Universitäten war die Stimmung ambivalent. Sie konnte in verschiedene Richtungen ausschlagen. Jedenfalls sollte es so nicht weitergehen. Einen neuen Anfang machen. Aber welchen?

 

Musikakzent eher kurz

 

Sprecher 2  

In Marburg verliebte sich die 18jährige Hannah in ihren 35jährigen Philosophieprofessor Martin Heidegger. Und er verliebte sich in sie. Er nannte sie „die Passion seines Lebens“, wollte sich aber von seiner Frau Elfriede nicht trennen. Heidegger fuhr, von der Liebe inspiriert, auf seine Hütte im Schwarzwald und schrieb „Sein und Zeit,“ sein einflussreichstes Werk. Die Liebe in Distanz, die seine Gedanken aufs Höchste beflügelte, bedrückte ihre Liebe und sie gab auf, setze das Studium in Freiburg bei Husserl und dann bei Jaspers in Heidelberg fort. In Karl Jaspers fand sie einen väterlichen Lehrer und später einen Freund.

 

Sprecher 1

Zu Heidegger riss bald der Faden. Anfang der 50iger Jahre traf sie ihn wieder. Über seine Feigheit und notorische Neigung zum Lügen ließ sie sich später in Briefen aus. Dennoch, Heidegger blieb für sie ihr Leben lang ein Genie des philosophischen Fragens und Denkens. Und zugleich wurde er für sie zum Antihelden, zur Warnung vor den Philosophen, denen zu allem etwas einfällt, die sich selbst auf den Leim gehen, denen der Rahmen ihrer Weltbilder wichtiger wird als die Welt selbst.

 

Das Denken blieb für Hannah Arendt immer etwas Großes, aber sie entdeckte etwas noch Größeres, all das, was nicht in einem Menschen ist, sondern was zwischen den Menschen entsteht: die Welt. Sie wird in diesem Zwischen, also im Sprechen und im gemeinsamen Handeln, überhaupt erst hervorgebracht.

 

Die Philosophie war ihre erste Liebe. Aus ihr schöpfte sie Wörter und Ideen. Wie ein Perlentaucher, mit dem sie später ihren Freund Walter Benjamin und wohl auch sich selbst verglich, baute sie die besten Funde der in Auflösung befindlichen Tradition in ihre Theorie des Zwischen ein, die sie eine „politische Theorie“ nennen wird.

 

Sprecher 2

22 Jahre alt, hatte Hannah 1928 ihre Doktorarbeit über den Liebesbegriff bei Augustinus vorgelegt. Ein Jahr später heiratete sie Günther Stern, der später als Philosoph und Schriftsteller unter dem Namen Günther Anders bekannt wurde. Sie zogen nach Berlin. Dort begann sie mit ihrer Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen, eine Berliner Jüdin zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

 

Sprecherin 1

Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.

 

Sprecher 1

So schrieb Hannah Arendt über Rahel Varnhagen – und wiederum zugleich über sich selbst. Diese Arbeit reflektierte ihre Befindlichkeit: Die Wunde, die die abgebrochene Liebe zu Heidegger hinterlassen hatte. Den Schwindel, den die immer stärker erfahrene Fremdheit und Entwurzelung als Jüdin auslöste. Hinter all dem tauchte die menschliche Kondition auf, ein Individuum zu sein, das darauf angewiesen ist, in der Welt zu Hause sein zu können. Die Monographie über Rahel Varnhagen reflektierte aber auch den Horizont einer Lösung: die Sprache, das Sprechen, die Dauer.

 

Sprecherin 1

Rahel kennt keine Heimat in der Welt, in die sie sich vor dem Schicksal zurückziehen könnte, sie hat ihm nichts entgegenzusetzen.

Was ihr zu tun blieb, war, ein Sprachrohr des Geschehenen zu werden, das Geschehene in ein Gesagtes umzuwandeln.

Es ist ihre große Chance, der Sprache Vertrauen zu schenken. Die Sprache soll bewahren. In ihr soll das Dargestellte bleiben können, länger in der Welt bleiben, als der vergängliche Mensch vermag. Dass sie sprechen kann, gibt ihr ein Asyl in der Welt, lehrt sie, mit Menschen umgehen, denn für und in der Welt hat nur das Bestand, was mitteilbar wird.

 

Sprecher 2

Für die Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen gab es ein Forschungsstipendium. Die 26jährige hatte das Buch Anfang 1933 bis auf den Schluss fertig. 

 

Sprecher 1

Sicher wäre sie bald Hochschullehrerin geworden oder vielleicht doch lieber freie Schriftstellerin und Privatgelehrte wie Walter Benjamin, den sie schon in Berlin kennen gelernt hatte und mit dem sie sich später im Pariser Exil anfreundete.

Aber sie sagte 1933 der akademischen Karriere und Deutschland ade.

Erst ein Vierteljahrhundert später erschien die deutsche Ausgabe von

 

Sprecherin 2

Rahel Varnhagen – Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik.

 

Sprecher 2

Im Klappentext zum Buch wurde Hannah Arendts Text so zitiert:

Sprecherin 2

Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.

 

Sprecher 1

Aus „sie“ wurde „nie“. Die Veränderung nur eines Buchstabens reichte für die völlige Verdrehung des Sinns. Über mehrere Auflagen hatte offenbar niemand diese kleine Fälschung bemerkt. Dass das Leben „nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm“ schien den Lektoren und Lesern plausibler. So stand es noch in der 10. Auflage von 1995.

Ein Beispiel, wie radikales Denken unversehens eingemeindet und im allgemeinen Gemurmel stimmlos gemacht wird. Ein Beispiel für die Singularität der lebenshungrigen Denkerin inmitten des wohlfeilen Geraunes.

 

Sprecherin 1

Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.

 

MUSIKAKZENT  Bach, s.o. etwas länger, zwischen melancholisch und furios

 

O-Ton  7  ´44

Man denkt heute oft, dass der Schock der deutschen Juden `33 sich damit erklärt, dass Hitler die Macht ergriff. Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft, kann ich sagen, dass das ein kurioses Missverständnis ist. […] Dass die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitteschön, nicht Hitlers Machtergreifung, um das zu wissen! Das war doch seit mindestens vier Jahren jedem Menschen, der nicht schwachsinnig war, völlig evident. Dass ein großer Teil des deutschen Volkes dahinter stand, das wussten wir ja auch.


Sprecher 1

Hannah Arendt erlebte 1933 einen anderen Schock. Der versetzte ihrem Weltbild einen Riss. Und dieser Riss gab ihr zeitlebens zu denken.

Viele der befreundeten Intellektuellen machten ganz freiwillig mit, bevor die verordnete Gleichschaltung griff, sie sehnten sich sogar danach, mitzumachen.

 

O-Ton  8  1´04

…und das hieß, dass die Freunde sich gleichschalteten! […] Es war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete.
Nun, ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen das [Gleichschaltung] sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen. Mit einer Sache ging ich aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, dass deutsche Juden und deutschjüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als in der sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf zusammen.

 

Sprecher 1

Wie kam es zu diesem Desaster der Intellektuellen? Was machte die Priester der Wahrheit so verführbar für die größten Lügen und so empfindungslos für den alltäglichen Anstand? Hannah Arendts Verdacht war von Anfang an, dass diese Berufskrankheit ihrer Kaste tief in der abendländischen Tradition verwurzelt ist. Worin könnte sie bestehen? Diese Fragen gaben den Anstoß für ihr Lebensthema.

 

Warum wurde an die eine Wahrheit geglaubt, für sie erbarmungslos gekämpft, ja gemordet, obgleich sie doch nie erreicht wurde? Und warum wurde der Vielfalt der Menschen und ihren Meinungen zugleich misstraut?

Sie vermisste an dieser philosophischen Tradition, dass der Vielfalt und dem Raum zwischen den verschiedenen Menschen, so wenig abgewonnen wurde. Zunächst war es noch ihre Intuition, später wurde es ihre ausformulierte Gewissheit, dass nur in diesen Zwischenräumen etwas Neues, noch nie Dagewesenes, zur Welt kommt.

 

Sprecher 2

Noch verfügte sie nicht über scharfe Begriffe. Aber sie erlebte mit Staunen und Empörung, wie Intellektuelle, die sich nach den reinen Ideen sehnten und die vor der unreinen Politik flüchteten, sich mit der totalitären Bewegung verstrickten. Hannah Arendt gab diesen totalitären Bewegungen nie das Prädikat „Politik“. Sie analysierte sie als den Versuch, Politik abzuschaffen.

 

O-Ton  9   ´37

Dass jemand sich gleichschaltete, weil er für Frau und Kind zu sorgen hatte, das hat nie ein Mensch übel genommen. Das Schlimme war doch, dass die dann wirklich daran glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Das heißt: zu Hitler fiel ihnen was ein; und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz phantastische und interessante und komplizierte und hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden. Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle.

 

Sprecher 2

Hannah Arendt entschloss sich 1933 zum Handeln. Für die Zionistische Vereinigung sammelte sie antisemitische Äußerungen in deutschen Publikationen. Diese sollten im Ausland veröffentlicht werden. Dabei flog sie auf. Sie wurde inhaftiert.

 

O-Ton  10   1´09

Der Kriminalbeamte, der mich verhaftete, mit dem freundete ich mich an. Das war ein reizender Kerl. Der war ursprünglich von der Kriminalpolizei in die politische Abteilung avanciert. Der hatte keine Ahnung, Was sollte er da. Der sagte mir immer, gewöhnlich habe ich da jemanden vor mir sitzen, da sehe ich bloß nach, dann weiß ich schon, was das ist. Der sagte, was tu ich mit ihnen? Das war in Berlin. Ich habe den Mann leider belügen müssen, denn ich durfte ja die Organisation nicht hochgehen lassen und die phantastischsten Geschichten habe ich erzählt. Und er sagte immer, `Ik hab ’se hier reingebracht, ik krieg ’se auch wieder raus‘. Nehmen sie keinen Anwalt, die Juden haben doch jetzt kein Geld, sparen sie ihr Geld. Inzwischen hatte die Organisation für mich einen Anwalt besorgt, durch Mitglieder. Und diesen Anwalt schickte ich weg. Weil ich mich auf diesen Mann, der mich verhaftet hatte –  so ein offenes, anständiges Gesicht, ich verließ mich und dachte, dass ist meine viel bessere Chance als irgendein Anwalt, der ja  doch bloß Angst hat.

 

Sprecher 1

Auch das Vertrauen in den Polizisten, schon ihre Bereitschaft, sich diese Erfahrung überhaupt zu erlauben, wirkt wie ein Vorgriff auf eine These ihres Werkes.

 

Sprecher 3

Politik ist das, was zwischen Menschen entsteht.

Politik besteht nicht im Exekutieren von angeblichen Wahrheiten, die sich spätestens dann als Ideologien herausstellen.

Mit jedem Individuum entstehen neue Möglichkeiten.

Allein, nur auf sich gestellt, ist allerdings jeder ohnmächtig und bleibt unpolitisch.

Macht entsteht aus dem Zusammenhandeln.

Jederzeit sind Neuanfänge möglich.

 

MUSIKAKZENT  / Bach s.o.

 

O-Ton   11    ´10

Ich wollte in die praktische Arbeit und – ich wollte in die jüdische Arbeit. Und in diesem Sinne habe ich mich dann in Frankreich orientiert.

Sprecher 1

Hannah Arendt hatte 1933, gleich nach der Machtergreifung der NSDAP, Deutschland über Prag nach Paris verlassen. Der Abscheu gegenüber den Intellektuellen und ihr Vorsatz, jetzt nur noch handeln zu wollen, bestimmte die nächsten Jahre.

 

Sprecher 2

Von 1933 bis 1941 arbeitete sie im Pariser Exil überwiegend für eine Organisation, die jüdische Kinder und Jugendliche nach Palästina brachte.

 

O-Ton   12   0´38

Das habe ich mit Vergnügen gemacht. Es war eine reguläre Sozialarbeit, Erziehungsarbeit. Man hatte große Lager auf dem Lande, wo die Kinder vorbereitet wurden, wo sie auch Stunden hatten, wo sie Landarbeit lernten, wo sie vor allen Dingen zunehmen mussten. Man musste sie von Kopf bis Fuß anziehen. Man musste für die kochen. Man musste vor allen Dingen für sie Papiere beschaffen, man musste mit den Eltern verhandeln – und musste vor allen Dingen auch Geld besorgen. Das blieb mir auch noch weitgehend überlassen. Ich habe mit französischen Frauen zusammengearbeitet. Also das war ungefähr die Tätigkeit.

 

Sprecher 1

Die Jahre in Paris, das waren auch politische Diskussionen und  Freundschaften, zum Beispiel mit Walter Benjamin. Unter den Emigranten bildete sich ein geistiges Milieu, wie es sich viele von ihrer Universität erhofft hatten. Irdischer, politischer als in den Hörsälen der 20er Jahre.

 

Sprecher 2

In einer ihrer letzten Reden, gehalten 1975 in Kopenhagen, als sie mit dem Sonnig-Preis für herausragende Beiträge zur europäischen Kultur geehrt wurde, schilderte sich Hannah Arendt als…

 

SprecherIN 1

…Jüdin, geboren und erzogen in Deutschland und geprägt von acht langen und eher glücklichen Jahren in Frankreich.

 

Sprecher 1

In Paris erfuhr sie das niemals schmerzfreie Glück, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm. Es regnete in diesen Alltag hinein, aber die Not nahm dank ihres Jobs bei den jüdischen Organisationen nicht überhand. In diesen acht Jahren kam sie auf den Geschmack dessen, was Politik sein könnte, jenes Zwischen, in dem sich Welt bildet, ein Bild, das sich nun durch ihr Denken zieht. Die Pariser Jahre erscheinen nachträglich wie ein Praktikum für die Themen, über die sie nach der Emigration 1942 in die USA schreiben sollte.

 

Sprecher 3

das tätige Leben;

der totalitäre Staat
und die Chancen des Anfangens, Unterbrechens und Handelns.

 

Sprecher 2

Die Ehe mit Günther Stern überstand die Emigration nicht. In Paris lernte sie den deutschen Kommunisten Heinrich Blücher kennen. 1940 heirateten sie. Blücher war schon in Paris auf Distanz zum Marxismus gegangen. 

 

Sprecherin 1

„Mein lieber Geliebtester, Einziger, Liebster –

 

Sprecher 2

schrieb Hannah am 18. September 1939 an Heinrich:

 

Sprecherin 1

… ich habe immer gewusst – schon als Gör -, dass ich wirklich nur existieren kann in der Liebe. Und hatte gerade darum solche Angst, dass ich einfach verloren gehen könnte. Und nahm mir meine Unabhängigkeit. Und bei der Liebe der anderen, die mich für kalt erklärten, dachte ich immer: habt ihr ’ne Ahnung, wie gefährlich das ist und für mich wäre.

Und als ich Dich traf, da hatte ich endlich keine Angst mehr… Immer noch scheint es mir unglaubhaft, dass ich beides habe kriegen können, die große Liebe und die Identität der eigenen Person. Ich habe doch das eine erst, seit ich auch das andere habe. Weiß nun endlich auch, was Glück eigentlich ist.

 

 

 

Sprecher 2

In Heinrich Blücher fand sie einen unphilosophischen Philosophen, einen, dem die Beziehungen zwischen den Menschen wichtiger waren als alles andere. Blücher war ein Sokrates. Ein Mensch der Gespräche. Er hat nichts Geschriebenes hinterlassen, von Briefen und Vorlesungsmitschriften abgesehen. Später in den USA lehrte dieser faszinierende Autodidakt Philosophie,      

 

Sprecherin 1

…jedes Wort im Kopf, mit einer Konzentration, die die ganze Klasse ergreift…

 

Sprecher 1

Die Briefe zwischen Hannah und Heinrich zeugen davon, dass sie die Abkehr von aller Theorie nicht durchstehen konnte. Ihr,

 

SPRECHERIN 1

 „ich will verstehen“

 

Sprecher 1

hörte nicht auf. Ihr Selbstgespräch fand nun in ihrem Mann einen Partner.

 

 Sprecher 2

Heinrich Blücher kritisierte wie sie die Vorstellung, es gäbe ein absolutes Wissen.

 

Sprecher 3

Die Gefahr ist, wenn der Mensch einmal glaubt, ein Absolutes gefunden zu haben – den Kosmos oder das Sein oder Gott – dann kann er nicht mehr aufhören, alles mit diesem einen Absoluten in Verbindung zu bringen.

 

Sprecher 2

Gegen das Absolute und die Vorstellungen von Perfektion und Vollkommenheit setzen Hannah Arendt und Heinrich Blücher die – wie sie sagte – Pluralität der Menschen:

Sprecher 3

Menschen sind unverbesserliche Beziehungen – Hersteller, geboren zum Verbinden von allem mit allem.

 

Sprecher 2

Aus ihrem Widerspruch gegen die Anmaßungen der Intellektuellen entfaltete das Paar ein authentisches Leben – als Intellektuelle –  denn die waren sie nun mal. 

 

O-Ton  13   ´14

Mein Beruf – wenn man überhaupt davon sprechen kann – ist die politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin. Ich bin auch nicht in den Kreis der Philosophen aufgenommen.

 

Sprecher 2

 Auch auf die Frage, was sie denn bewirken wolle, die ihr Günther Gaus 1964 in seiner Fernsehsendung „Zur Person“ stellte, reagierte sie unwirsch.

 

O-Ton  14   0´39

Wenn ich arbeite, bin ich an Wirkung nicht interessiert.

[Gaus] Und wenn die Arbeit fertig ist?

Dann bin ich damit fertig.

Was für mich wesentlich ist: ich muss verstehen. Jetzt fragen sie nach der Wirkung. Wenn ich ironisch reden darf, das ist eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken. Ich sehe das von außen. Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen, im selbe Sinne wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatsgefühl.