FR Das Absolute ist tödlich

Das Absolute ist tödlich
Im deutschen Rechtschreibkrieg sollte das Prinzip „möglich – nicht möglich“ über „richtig – falsch“ obsiegen
VON REINHARD KAHL

Reinhard Kahl
Zum Schluss mussten sich die Ministerpräsidenten der Union entscheiden. Fachen sie den Rechtschreibkrieg in Erwartung einer kräftigen Populismus-Rendite noch mal an oder folgen sie dem einstimmigen Beschluss ihrer Kultusminister. Die hatten bekräftigt, es bleibt dabei, die Übergangszeit, in der bereits die neue Rechtschreibung gilt, aber die alte noch kein Fehler ist, läuft am 1. August aus. Schließlich gab bei einigen Ministerpräsidenten die Angst vor einer Angst, die selbst geschürt war, den Ausschlag. Bei Eltern breitetet sich die Befürchtung aus, der neueste Streit laufe auf das Kaufen neuer Schulbücher hinaus. Ein neuer Sturm deutete sich an. So viel Wasserglas war selten.

Heimatgefühl im Kleinkrieg

Es scheint als verspürten die Deutschen ein starkes Heimatgefühl im Kleinkrieg. Der Kulturkampf um die Bildung, der letzte Religionskrieg, der ihnen geblieben ist, mündet in bildungspolitischem Pragmatismus. Da konnte sich viel überschüssige Energie an solche Fragen binden, wie der, ob man Stängel oder Stengel schreibt? Hat man nun einer Wortstammregel zu folgen, oder einfach der Konvention? Preisfrage. Wie viele s und f braucht die Flussschifffahrt? Und natürlich dass oder da ß? Immer wieder diese Lust am Entweder-oder. Mal im Ernst. Wer morgens die FAZ liest, mit der alten Rechtschreibung, die dort geheimnisvoll die „bewährte“ genannt wird, und dann zu anderen Zeitungen greift, mit ihren nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten neuen Rechtschreibungen, fällt dem überhaupt was auf? Ob „achtmal“ nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?

Entscheidend ist etwas ganz anderes. Vor und hinter den Bühnen der Rechthaber hat sich längst ein buntes Sowohl-als-Auch durchgesetzt. Tatsächlich hat die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung in den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von „richtig – falsch“, die immer nur eine Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung „möglich – nicht möglich“ durchsetzt und langsam ersetzt.

Der Autor
Ob „achtmal“ nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, das hält Reinhard Kahl – anders als zwei CDU/CSU-Ministerpräsidenten – nicht für wichtig. Vielmehr habe die zu Ende gehende Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung mit ihrem bunten Sowohl-als-Auch einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht.

Kahl, Jahrgang 1948, ist Journalist, Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen. Im Zentrum seiner Arbeit stehen „die Lust am Denken und Lernen, die Qual belehrt zu werden und die endlosen Dramen des Erwachsenwerdens“. aud
„Möglich – nicht möglich“, das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben! Nicht alles geht. Aber mit „möglich – nicht möglich“ kehren in die Schrift wieder jene Spielräume zurück, die die gesprochene Sprache auszeichnen. Da gibt es zwischen dem mecklenburger und dem bayrischen Sound doch viel Platz! Wäre die Liquidation der Varianten ein Gewinn? Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission? Der erste Nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, ohne Rückversicherung keine rechten Sätze mehr bilden zu können.

Der Regelperfektionismus, in dem sich die Anhänger der einen richtigen alten und der allein richtigen neuen Schreibweise nur so übertreffen, produziert nur bei den Schriftgelehrten Probleme. Nach der einen Dogmatik sollen wir belämmert mit ä schreiben, nach der anderen „belemmert“ mit e. Dass Regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, ist tatsächlich ein Glück für jede Evolution. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter. Das wissen wir ja von Ulrich Beck und den Theoretikern der Zweiten Moderne: Die Vielfalt unbeabsichtigter Nebeneffekte siegt über die braven Ziele.

Goethes Lust an der Vielfalt

Kaum vorstellbar, dass es vor 1901 keine staatlich erlassene Rechtschreibung gab. Damals wucherten barocke Ungetüme, zu denen auch noch unsere Großschreibung von Substantiven gehört. Jacob Grimm, der große Wörter- und Geschichtensammler schrieb klein. Ein Individuum konnte sich entscheiden. Vielfalt war möglich. Goethe hatte regelrecht Lust daran, gleiche Wörter verschieden zu schreiben, selbst seinen Namen mit h oder ohne, mal mit ö oder mit oe. Dann nahm Duden dem Regierungsrath in Preußen sein h und viele Beamte sahen ihre Autorität und Würde bedroht. Bismarck drohte seinen Staatsdienern und Diplomaten Strafen an, wenn sie die neue Mode mitmachten.

Doch bald hatte Duden, dessen Maxime ja hieß, „schreib wie du sprichst“, etwas anderes bewirkt als das Beabsichtigte. Der Vereinfachungsversuch öffnet der großen Normierung der Schrift Tor und Tür. Das passte hervorragend ins DIN-Zeitalter der ersten industriellen Moderne, in der die Deutschen Weltmeister wurden. Die durchregulierte Rechtschreibung, zumal in ihrer engen und ängstlichen Auslegung, sozialisierte für die Massenproduktion. Sie braucht strikte Normen, die unbedingt einzuhalten sind. Kreativität und Ideen hingegen brauchen Spielräume. Fehlertoleranz ist der wichtigste Begriff in Theorien über lernende Organisationen. Die industrielle Moral der Ausführenden, Anwender und Kopisten ist obsolet. Eine eng ausgelegte Rechtschreibung, egal welche, initiierte in eine reduzierte Denk- und Handlungsgrammatik. Also halten wir es künftig mit dem Meister aus Weimar. Goethe schrieb: „Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus.“ Das Absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere Perfektion, keine Zukunft.